Kritisches zur Dunbar-Hürde

Die Dunbar-Hürde taucht immer wieder als Argument gegen die Möglichkeit einer geldfreien Vergesellschaftung auf. Was hat es damit auf sich?

Die Dunbar-Hürde wurde von Christian Siefkes eingeführt (nachzulesen zum Beispiel hier). Er bezieht sich dabei auf Robin Dunbar, nach dem die sogenannte Dunbar-Zahl benannt wurde. Wikipedia definiert sie so:

Unter der Dunbar-Zahl (englisch Dunbar’s number) versteht man die theoretische kognitive Grenze der Anzahl an Menschen, mit denen eine Einzelperson soziale Beziehungen unterhalten kann. Das Konzept wurde vom Anthropologen Robin Dunbar entwickelt. Die Dunbar-Zahl beschreibt die Anzahl der Personen, von denen jemand die Namen und die wesentlichen Beziehungen untereinander kennen kann.

Dunbar sieht die Anzahl als Eigenschaft bzw. Funktion des Neocortex. Im Allgemeinen betrage die Dunbar-Zahl 150, wobei die Anzahl der Freunde individuell zwischen 100 und 250 schwanken könne. Ob sie auch für sogenannte virtuelle soziale Netzwerke gilt, ist Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen.

Christian argumentiert nun so:

Jenseits der Dunbar-Zahl – in Gruppen mit mehreren hundert, tausenden oder mehr Mitgliedern – wird die direkte Kommunikation aller mit allen rasch unmöglich und kein Gruppenmitglied kann noch persönliche Kontakte zu allen anderen Mitgliedern unterhalten. Derartige größere Zusammenhänge jenseits der Dunbar-Hürde dürften aber auch in Zukunft für die Organisation der produktiven Prozesse unentbehrlich sein…

Dazu fallen mir eine Reihe kritischer Bemerkungen ein, die ich hier unsortiert und damit ohne Priorisierung notiere.

(1) Die Dunbar-Zahl ist eine kognitive Grenze, also eine Grenze der Merkfähigkeit. Ich muss gestehen, bei mir persönlich liegt sie extrem deutlich unter 250 und immer noch recht deutlich unter 100 Personen. Ich kann mir Namen zu meinem Unwillen sehr schlecht merken. Was sagt das aber aus? Bin ich weniger gesellschaftsfähig?

(2) Diese kognitive Grenze limitiere die „Anzahl an Menschen, mit denen eine Einzelperson soziale Beziehungen unterhalten kann„. Warum das? Wiederum für mich würde ich behaupten, dass ich zu wesentlich mehr als 250 Menschen in einer sozialen Beziehung stehe. Doch das ist definitionsgemäß nicht möglich: „Die Dunbar-Zahl beschreibt die Anzahl der Personen, von denen jemand die Namen und die wesentlichen Beziehungen untereinander kennen kann„. Nicht nur bei den Namen bin ich raus, sondern auch die Beziehungen untereinander bei den Personen, die ich kenne, soll ich kennen, also zumindest die „wesentlichen“ – no way, das hab ich nicht drauf.

(3) Kern der unklaren Bestimmung der Dunbar-Zahl ist jedoch die „soziale Beziehung„. Was ist eine soziale Beziehung und was nicht? Muss ich kontinuierlichen Kontakt haben oder wenn ja, wie oft pro Zeit? Was ist mit Verwandten, zu denen ich nur sporadischen oder keinen Kontakt habe – sind das dann keine sozialen Beziehungen mehr? Was ist mit geschäftlichen Kontakten? Das können für bestimmte Menschen sehr viele werden. Und schließlich: Gilt das auch für „virtuelle soziale Netzwerke„? Habe ich dort soziale Beziehungen oder nicht? Was ist dort das Kriterium, ob oder ob nicht – die Anzahl der reziproken Likes?

(4) Klicke ich weiter bei Wikipedia, so erfahre ich, dass soziale Beziehungen zwischen Personen und Gruppen auftreten können. Ich kann also durchaus zu einer Gruppe in einer sozialen Beziehung stehen. Damit vervielfältige ich meinen Beziehungsreichtum. Für das, was ich will, reicht es ja vielleicht völlig aus, dass ich eine Beziehung zu der Gruppe habe und nicht zu einzelnen Personen. Oder es reicht aus, wenn ich jemanden kenne, der jemanden kennt, der ein Bedürfnis von mir befriedigt. Doch mittelbare Beziehungen kommen in der Dunbar-Zahl nicht vor.

(5) Die beschriebenen Unklarheiten zeigen aus meiner Sicht zweierlei: Je meine sozialen Beziehungen lassen sich mit der Dunbar-Zahl nicht fassen; falls sie sich durch eine denkbare noch engere Definition doch fassen ließen, dann sagten sie nichts aus. Jedenfalls nichts für das, worauf es Christian ankommt.

(6) Christians Argument, so wie ich es verstehe, ist: Gesellschaft liegt jenseits der Dunbar-Zahl. Das ist unbestreitbar richtig. Aber für mich als Einzelperson auch irrelevant: Klar, ich kann nicht alle kennen. Aber das ist ja genau der Witz der gesellschaftlichen Form der sozialen Organisation. Gesellschaft heißt für mich Entlastung. Gesellschaft ist ein Vermittlungszusammenhang, zu dem ich als ganzem keinen unmittelbaren Kontakt haben kann. Die Dunbar-Zahl ist ein armer Ausdruck dafür, das zu sagen.

(7) Wenn nun Christian dennoch versucht, Gesellschaft mit der Dunbar-Zahl zu denken (und sei es im Wort „Hürde“, was bedeutet, diese Zahl sei zu überschreiten), dann ist das der Versuch, einen vermittelten Zusammenhang auf einzelne unmittelbare Beziehungen herunterzubringen. Das geht aus prinzipiellen Gründen nicht. Christian sieht hier jedoch nur eine quantitative Hürde.

(8) Wie geht das bloß quantitative Argument? So: „Derartige größere Zusammenhänge„, nämlich „Gruppen mit mehreren hundert, tausenden oder mehr Mitgliedern“ sind „für die Organisation der produktiven Prozesse unentbehrlich„. Welche Zusammenhänge sollen das sein – heute etwa? Ein Betrieb? Aber der untergliedert sich in kleinere Einheiten, Abteilungen, Arbeitsgruppen etc. Die staatliche Verwaltung? Dito. Die Linux-Kernelentwicklung? Dito. Es ist also nicht zutreffend, dass Gruppen mit tausenden Mitgliedern für produktive Prozesse notwendig wären. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Produktive (und im übrigen auch reproduktive) Prozesse brauchen Gruppen mit Personenzahlen, die weit unter der Dunbar-Zahl liegen, also vielleicht 3 bis 30 Leute. Allerdings können diese Gruppen nur in einem Vermittlungszusammenhang existieren, in einem Netzwerk von anderen Gruppen und einzelnen Personen.

(9) Die Dunbar-Zahl hat mit der Einsicht, dass re/produktive Prozesse ein Netzwerk von Gruppen benötigen, nichts zu tun. Es hängt einfach nicht davon ab, wie viele Leute ich wie nahe kenne: In der Gruppe, in der ich tätig bin, lerne ich die Menschen kennen – immer besser, je länger wir interagieren. Doch ich bin nicht nur in einer Gruppe, sondern in einer Vielzahl von Gruppen, in denen ich Menschen unterschiedlich intensiv und unterschiedlich dauerhaft kenne. Und diese Gruppen und Menschen existieren wiederum ihrerseits in Gruppen, oder allgemeiner: in Vermittlungszusammenhängen, die für mich mittelbar relevant sind. Mittelbar oder vermittelt, nicht unmittelbar.

(10) Kurz: Wir leben immer in vermittelten Zusammenhängen mit unterschiedlichen Nähen zu Menschen und Gruppen. Wenn es eine Dunbar-Zahl als kognitive Grenze gibt, dann auch eine Meretz-Zahl, die ich jetzt hiermit einführe, nämlich als zeitlich-physische Grenze – oder wie meine Mama immer sagte, wenn sie sich überfordert fühlte: „Ich kann mich nicht zerreissen!“ Doch auch das hilft nicht weiter. Und letztlich ist das auch alles ziemlich banal. Es gibt halt Grenzen – vor allem, wenn ich mich als isolierten Einzelnen denke.

(11) Der Witz ist nun: Gesellschaft ist das – überdeutlich: D A S – Feature, solche individuellen Begrenzungen zu überschreiten. Die Frage ist nicht, ob wir die Grenzen überschreiten, sondern nur wie wir das organisieren. Wir tun es ohnehin ständig, schließlich sind und leben wir gesellschaftlich. Allerdings verbannt uns unsere (heutige) relative Isoliertheit in eine Privatexistenz, in der wir uns durchaus als ungesellschaftlich erleben können, obwohl das real nie der Fall ist.

(12) Der Kern dieser Features der Gesellschaftlichkeit kann nicht über eine (vermeintliche Überschreitung der) Dunbar-Zahl begriffen werden. Dieser Zahl führt unweigerlich in den Versuch, eine Qualität, quantitativ aufzulösen. So schön Christians Beispiele und Illustrationen auch sind, sie haben alle diesen Mangel: Sie können die Qualität gesellschaftlicher Vermittlung nicht begreifen.

(13) Dieses Manko haben auch alle klassischen Ansätze. Mal ganz schlicht: Vom homo oeconomicus zur Marktvermittlung liegt ein magischer Sprung. Nur ist es Realmagie, die wir jeden Tag erleben und für die es ganz gute mathematische Modelle gibt (die gleichwohl als Vorhersage fast nie funktionieren). Begriffen ist das ökonomische System samt der gesellschaftlichen Vermittlung, die es immerhin erbringt, nicht. Marx hat mit Hegels Hilfe ganz tief in der Kategorienkiste gekramt, um den systemischen Zusammenhang auf den Begriff zu bringen. Und bei diesen Begriffen handelt es sich um gesellschaftstheoretische Kategorien. Das hält viele Marxist*innen nicht davon ab, sie trotzdem wieder auf die unmittelbaren Beziehungen herunterzubringen (den Wert individuell zu verstehen etc.). Aus meiner Sicht ist das eine falsche Form der Konkretheit.

(14) Der Kern meiner Kritik an Christians Ansatz ist eben der: Gesellschaftlichkeit als Summe von Einzelbeziehungen zu denken oder anders gesagt: transpersonale Beziehungen in eine Summe von interpersonalen Beziehungen aufzulösen, haut nicht hin. Und da die große WG nicht denk- und machbar ist – hier kommt die Dunbar-Hürde als Hilfsargument ins Spiel – wird alles in Teile aufgeteilt. Dann aber muss ein Kitt dazwischen, der die bloß vereinzelt gedachten Gruppen zusammenhält. Es folgt Tausch, und am Ende steht ein abstraktes Allgemeines, das Geld und der Markt (und die „ganze ökonomische Scheisse“ – Marx). Ich sehe es schon kommen – und würde mich freuen, wenn ich mich irre.

(15) Wie nun das Problem auflösen? Vermittlung ist zu begreifen. Begreifen heißt, die Qualität zu erkennen. Natürlich kann man Vermittlung definieren als das, was „die bloß vereinzelt gedachten Gruppen zusammenhält“, wie ich es ausdrückte. Quasi als eine neutrale Angelegenheit, die inhaltlich nichts mit dem zu tun hat, was die Menschen da machen. Doch das erfüllt das Geld jetzt ausgezeichnet. Oder wie Carlo es ausdrückt: „Geld ist nur ein von Menschen erdachtes Werkzeug“ – ein ewiger Mythos. Die Geldform der ignoranten Vermittlung ist ein (nicht der einzige) Grund für Externalisierung und Exklusionslogik usw. So nicht.

(16) Eine Auflösung gibt es nur, wenn die ignorante Vermittlung durch eine bedürfnisgefüllte Vermittlung aufgehoben wird. Dies jedoch ist kein bloßer „Ersetzungsakt“ bei gleichbleibender vereinzelt-getrennter Produktion, sondern bedeutet eine komplett andere Weise der Herstellung unserer Lebensbedingungen. Und das ist leider ein Ganz-oder-gar-nicht-Ding. So ein bisschen weniger oder ein bisschen mehr Geldvermittlung (oder alles per Regiogeld oder sonstige Geldphantasien) kann man zwar machen, hat aber nichts mit einer qualitativ anderen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus zu tun. Kapitalismus hat leider eine totalitäre Qualität, und die müssen wir ernst nehmen.

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