Vorüberlegungen zu einer künftigen Ethik

Medaillon der britischen Abolitionismusbewegung (gemeinfrei, Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wedgwood_-_Anti-Slavery_Medallion_-_Walters_482597.jpg)Die Betrachtung dessen, was gesellschaftlich anders laufen könnte, ist ohne eine ethische Perspektive recht witzlos. Man kann sich dann zwar verschiedene „andere mögliche Welten“ ausmalen, aber ob diese „besser“ oder „schlechter“ wären, ist ohne Ethik nicht unterscheidbar. Aus materialistischer Sichtweise wird Ethik allerdings gern als nachgeordnet betrachtet, gemäß Karl Marx’ berühmtem Diktum:

Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. (MEW 13: 9)

Ist also unsere Ethik ein bloßes Produkt der Gesellschaft, in der wir leben, so dass wir einer künftigen andersgearteten Gesellschaft und deren Ethik nur mit Unverständnis begegnen können? Ein Stück weit ist das sicher so, doch darf man die gesellschaftlichen Umstände nicht als zu statisch denken. Es sind schließlich immer Menschen, die gesellschaftliche Übergänge und Veränderungen zustande bringen. Und für diese ist das Auseinanderklaffen zwischen dem Sein und dem, was sein sollte – was sie als ethisch wünschenswert oder notwendig empfinden – zweifellos oft eine wichtige Antriebskraft.

Wohl jede Emanzipationsbewegung – ob zur Abschaffung der Sklaverei, zur rechtlichen und faktischen Gleichberechtigung von Frauen, das US-amerikanische Civil Rights Movement gegen rassistische Ausgrenzungen, die Lesben- und Schwulenbewegung etc. – hat einen ethisch motivierten Ausgangspunkt. Auch politische Umbrüche werden oft ethisch begründet – so ging die US-amerikanische Unabhängigkeitsbewegung von dem Slogan „No taxation without representation“ aus, sprich dem Grundsatz, dass es ethisch unakzeptabel ist, Menschen Pflichten aufzuerlegen, ohne ihnen zugleich die damit üblicherweise verbundenen Rechte einzuräumen. Und auch Marx lässt sich nicht begreifen, vergisst man seinen in jungen Jahren formulierten

kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. (MEW 1: 385, Hervorhebung im Originall)

Auch dem im Kapital erwähnten

Verein freier Menschen […], die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben (MEW 23: 92)

liegt eine ethische Vorstellung zugrunde, wie die gesellschaftliche Produktion besser einzurichten wäre, auch wenn Marx dies mit den Worten „zur Abwechslung“ verschleiert. Der späte Marx versucht nämlich, ohne ethische Begründungen auszukommen – vermutlich weil diese eine Argumentation leicht angreifbar machen. Der Dialogpartner kann sonst einfach erwidern, dass er die ethischen Grundannahmen nicht teilt, und sich so der Diskussion entziehen.

Mit dem Kapital zielt Marx deshalb darauf ab, die innere Selbstwidersprüchlichkeit des Kapitalismus zu demonstrieren. Er zeigt, dass dieser gegen die ihm zugrunde liegenden ethischen Grundannahmen – etwa den freien Tausch unter Gleichberechtigten – permanent und zwangsläufig selbst verstößt. So kann von „freiem“ Tausch keine Rede sein, wenn jemand zur Sicherung ihres Lebensunterhalts zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen ist. Und spätestens mit dem Verkauf der Arbeitskraft ist es auch mit der Gleichberechtigung vorbei.

Das Problem an Marx’ Argumentation ist allerdings, dass sich die von ihm demonstrierte Widersprüchlichkeit in verschiedene Richtungen auflösen lässt. Man kann dann etwas fordern, dass den ethischen Grundannahmen des Kapitalismus zu ihrer Geltung verholfen werden muss, auch wenn das tiefgreifende Reformen oder sogar eine Abschaffung des Kapitalismus erfordert. Die sich daraus ergebende Gesellschaft würde allerdings die wesentlichen kapitalistischen Grundprinzipien beibehalten, etwa das Leistungsprinzip: „Wer sich nicht gegen andere durchsetzen kann, soll auch nicht essen (oder jedenfalls nicht viel)“. Ein Ausweg ist also, zwar den Kapitalismus selbst mehr oder weniger aufzugeben, seine Ethik aber beizubehalten. Damit wäre wenig gewonnen.

Ein anderer Ausweg besteht darin, den Kapitalismus durch Preisgabe der ethischen Grundannahmen zu verteidigen. Analog zu dem berühmt-berüchtigten Churchill-Zitat, „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen“, wird so argumentiert, dass der Kapitalismus ethisch zwar vielleicht unbefriedigend ist (da keine echte Chancengleichheit besteht etc.), von seinen Ergebnissen her aber dennoch besser als alle denkbaren Alternativen. Will man dies bestreiten, muss man sich auf die Diskussion „besser in welcher Hinsicht“ einlassen – aber das ist wiederum eine ethische Fragestellung, zu der man ohne eigenen ethischen Standpunkt überhaupt nichts sagen kann!

Der Anarchist Erich Mühsam (1933: Kap. I) hält Marx denn auch zurecht entgegen, dass sich nur ethisch begründen lässt, warum der Sozialismus bzw. Kommunismus als wünschenswerter als der Kapitalismus anzusehen ist. Ohne eine ethische Position kann man zwar vielleicht erwarten, dass diese Gesellschaft eines Tages durch eine andere abgelöst wird, aber nicht sagen, ob man dies gut oder schlecht findet.

Mit diesen Bemerkungen will ich keineswegs eine ethisch-idealistische Sichtweise gegen eine materialistische ausspielen. Es waren keine ethischen Forderungen, die zur Entstehung des Kapitalismus geführt haben. Vielmehr schlugen sich die sich im jungen Kapitalismus verbreitenden Denkmuster in entsprechenden ethischen Theorien nieder, insbesondere in John Lockes Eigentumstheorie und in Adam Smiths Theorie der „unsichtbaren Hand“ des Marktes. Solche Theorien waren aber nicht einfach nur Ergebnis der wirtschaftlichen Umbrüche, sondern dienten zugleich auch zu deren Rechtfertigung und damit zu ihrer weiteren Durchsetzung.

Auch ist Ethik bekanntlich nichts Universelles und Unveränderliches. Ethische Standards müssen sich erst entwickeln und nach und nach verbreiten, und das dauert seine Zeit. So gab es im Altertum zwar Sklavenaufstände, aber es sind keine Proteste gegen die Sklaverei bekannt – auch durch Sklaven wurde die Institution Sklaverei nicht grundsätzlich in Frage gestellt, selbst wenn sie ihr individuell zu entkommen suchten. Auch das ganze Mittelalter hindurch und in vielen außereuropäischen Gesellschaften gab es Sklaverei und Leibeigenschaft als allgemein akzeptierte Institutionen.

Erst im 17. Jahrhundert wurde die Sklaverei von Mennoniten und Quäkern für illegitim erklärt (siehe Wikipedia 2014). Bis sich diese Sichtweise verbreitete, dauert es noch mehr als 100 Jahre, und bis zur Abschaffung der Sklaverei in den meisten Ländern verging ein weiteres Jahrhundert.

Neue ethische Überzeugungen fallen also nicht über Nacht vom Himmel, von ihrem ersten Auftreten bis zu ihrer allgemeinen Durchsetzung kann geraume Zeit vergehen. Wer genau hinguckt, kann also auch heute schon ethische Positionen vorwegnehmen, die sich erst in Zukunft allgemein verbreiten werden. Dies gilt insbesondere, wenn man berücksichtigt, wie sich neue ethische Positionen in der Vergangenheit entwickelt haben. Hier sind nämlich einige allgemeine Muster erkennbar.

Eins dieser Muster ist, dass gewisse Vorrechte mit der Zeit zu allgemeinen Rechten werden. Mit der Abschaffung der Sklaverei wurden den Sklavinnen die Rechte eingeräumt, die Freie schon vorher gehabt hatten. Der Feminismus forderte und fordert für Frauen dieselben Rechte, die Männer schon vorher hatten – zu wählen; den eigenen Alltag gestalten zu können, ohne andere um Erlaubnis fragen zu müssen; gemäß den eigenen Präferenzen einen Beruf ergreifen zu können; für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn zu erhalten etc. Die Lesben- und Schwulenbewegung erkämpfte für Schwule, Lesben und Bisexuelle das Recht, im gegenseitigen Einvernehmen lieben zu können, wen sie wollen, das Heterosexuelle schon vorher gehabt hatten.

Oft sind diese Emanzipationsbewegungen noch unvollendet, indem das gleiche Recht noch nicht oder nur auf dem Papier besteht. Schwule dürfen in Deutschland und manchen anderen Staaten heute etwa noch nicht heiraten. Frauen werden im Durchschnitt nach wie vor dramatisch schlechter bezahlt als Männer, auch wenn Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nominell verboten ist. Die Richtung, in die die ethische Entwicklung geht, ist trotzdem klar.

Ein anderes Muster ist, dass willkürliche Privilegien aufgehoben werden. So schützen die Habeas-Corpus-Rechte in Rechtsstaaten heute die Einzelne vor willkürlicher Verhaftung ohne Begründung und gerichtliche Überprüfung, während im Mittelalter der Souverän das Recht hatte, seine Untertanen festnehmen zu lassen, ohne dies rechtfertigen zu müssen.

Zwar tun sich die heutigen Staaten chronisch schwer damit, die Rechte, die sie ihren eigenen Bürgern zugestehen, auch Nichtbürgerinnen (also „Ausländern“ aus Sicht des jeweiligen Staates) zukommen zu lassen. So werden in dem berüchtigten US-amerikanischen Gefangenenlager Guantanamo hunderte Personen über teils Jahrzehnte hinweg unter krasser Missachtung ihrer Habeas-Corpus-Rechte festgehalten. Ethische Konzepte und die tatsächliche Praxis kapitalistischer Staaten sind also zwei paar Schuhe. Dass ein nur für manche geltendes Habeas-Corpus-Recht schon ein gewisser ethischer Fortschritt gegenüber der Alternative kompletter staatlicher Willkür ist, dürfte sich dennoch nicht bestreiten lassen. Und gemäß des ersten Musters, dass Vorrechte mit der Zeit zu universellen Rechten werden, lässt sich schon voraussehen, dass sich die Begrenzung von Grundrechten wie Habeas Corpus auf die Bewohnerinnen eines einzelnen Staates in Zukunft nicht mehr rechtfertigen lassen wird.

Zu guter Letzt werden die ethischen Ansichten in jeder Gesellschaft durch deren praktisch-materielle Verfasstheit geprägt, wie oben schon festgestellt. Wie der Kapitalismus seine eigene Ethik hervorbringen musste, die die Praktiken der allgemeinen Warenproduktion und des Handels unter formal Gleichberechtigten absichert und rechtfertigt, so wird auch jede künftige Gesellschaft ethische Grundsätze entwickeln, die ihrer Funktionsweise entsprechen. Wenn wir also davon ausgehen – wie hier bei Keimform als „Arbeitshypothese“ üblich –, dass die künftige Gesellschaft (sofern alles gut läuft) Commons und Peer-Produktion als ihre Grundlagen haben wird, dann implizierten diese Grundlagen bestimmte ethische Grundsätze, über sie sich heute schon einiges sagen lässt. Welche das konkret sein könnten, ist Thema des nächsten Artikels.

(Fortsetzung: Elemente einer künftigen Ethik: Keine Ausnutzung von Zwangslagen)

Literatur

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