Vorüberlegungen zu einer künftigen Ethik
Die Betrachtung dessen, was gesellschaftlich anders laufen könnte, ist ohne eine ethische Perspektive recht witzlos. Man kann sich dann zwar verschiedene „andere mögliche Welten“ ausmalen, aber ob diese „besser“ oder „schlechter“ wären, ist ohne Ethik nicht unterscheidbar. Aus materialistischer Sichtweise wird Ethik allerdings gern als nachgeordnet betrachtet, gemäß Karl Marx’ berühmtem Diktum:
Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. (MEW 13: 9)
Ist also unsere Ethik ein bloßes Produkt der Gesellschaft, in der wir leben, so dass wir einer künftigen andersgearteten Gesellschaft und deren Ethik nur mit Unverständnis begegnen können? Ein Stück weit ist das sicher so, doch darf man die gesellschaftlichen Umstände nicht als zu statisch denken. Es sind schließlich immer Menschen, die gesellschaftliche Übergänge und Veränderungen zustande bringen. Und für diese ist das Auseinanderklaffen zwischen dem Sein und dem, was sein sollte – was sie als ethisch wünschenswert oder notwendig empfinden – zweifellos oft eine wichtige Antriebskraft.
Wohl jede Emanzipationsbewegung – ob zur Abschaffung der Sklaverei, zur rechtlichen und faktischen Gleichberechtigung von Frauen, das US-amerikanische Civil Rights Movement gegen rassistische Ausgrenzungen, die Lesben- und Schwulenbewegung etc. – hat einen ethisch motivierten Ausgangspunkt. Auch politische Umbrüche werden oft ethisch begründet – so ging die US-amerikanische Unabhängigkeitsbewegung von dem Slogan „No taxation without representation“ aus, sprich dem Grundsatz, dass es ethisch unakzeptabel ist, Menschen Pflichten aufzuerlegen, ohne ihnen zugleich die damit üblicherweise verbundenen Rechte einzuräumen. Und auch Marx lässt sich nicht begreifen, vergisst man seinen in jungen Jahren formulierten
kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. (MEW 1: 385, Hervorhebung im Originall)
Auch dem im Kapital erwähnten
Verein freier Menschen […], die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben (MEW 23: 92)
liegt eine ethische Vorstellung zugrunde, wie die gesellschaftliche Produktion besser einzurichten wäre, auch wenn Marx dies mit den Worten „zur Abwechslung“ verschleiert. Der späte Marx versucht nämlich, ohne ethische Begründungen auszukommen – vermutlich weil diese eine Argumentation leicht angreifbar machen. Der Dialogpartner kann sonst einfach erwidern, dass er die ethischen Grundannahmen nicht teilt, und sich so der Diskussion entziehen.
Mit dem Kapital zielt Marx deshalb darauf ab, die innere Selbstwidersprüchlichkeit des Kapitalismus zu demonstrieren. Er zeigt, dass dieser gegen die ihm zugrunde liegenden ethischen Grundannahmen – etwa den freien Tausch unter Gleichberechtigten – permanent und zwangsläufig selbst verstößt. So kann von „freiem“ Tausch keine Rede sein, wenn jemand zur Sicherung ihres Lebensunterhalts zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen ist. Und spätestens mit dem Verkauf der Arbeitskraft ist es auch mit der Gleichberechtigung vorbei.
Das Problem an Marx’ Argumentation ist allerdings, dass sich die von ihm demonstrierte Widersprüchlichkeit in verschiedene Richtungen auflösen lässt. Man kann dann etwas fordern, dass den ethischen Grundannahmen des Kapitalismus zu ihrer Geltung verholfen werden muss, auch wenn das tiefgreifende Reformen oder sogar eine Abschaffung des Kapitalismus erfordert. Die sich daraus ergebende Gesellschaft würde allerdings die wesentlichen kapitalistischen Grundprinzipien beibehalten, etwa das Leistungsprinzip: „Wer sich nicht gegen andere durchsetzen kann, soll auch nicht essen (oder jedenfalls nicht viel)“. Ein Ausweg ist also, zwar den Kapitalismus selbst mehr oder weniger aufzugeben, seine Ethik aber beizubehalten. Damit wäre wenig gewonnen.
Ein anderer Ausweg besteht darin, den Kapitalismus durch Preisgabe der ethischen Grundannahmen zu verteidigen. Analog zu dem berühmt-berüchtigten Churchill-Zitat, „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen“, wird so argumentiert, dass der Kapitalismus ethisch zwar vielleicht unbefriedigend ist (da keine echte Chancengleichheit besteht etc.), von seinen Ergebnissen her aber dennoch besser als alle denkbaren Alternativen. Will man dies bestreiten, muss man sich auf die Diskussion „besser in welcher Hinsicht“ einlassen – aber das ist wiederum eine ethische Fragestellung, zu der man ohne eigenen ethischen Standpunkt überhaupt nichts sagen kann!
Der Anarchist Erich Mühsam (1933: Kap. I) hält Marx denn auch zurecht entgegen, dass sich nur ethisch begründen lässt, warum der Sozialismus bzw. Kommunismus als wünschenswerter als der Kapitalismus anzusehen ist. Ohne eine ethische Position kann man zwar vielleicht erwarten, dass diese Gesellschaft eines Tages durch eine andere abgelöst wird, aber nicht sagen, ob man dies gut oder schlecht findet.
Mit diesen Bemerkungen will ich keineswegs eine ethisch-idealistische Sichtweise gegen eine materialistische ausspielen. Es waren keine ethischen Forderungen, die zur Entstehung des Kapitalismus geführt haben. Vielmehr schlugen sich die sich im jungen Kapitalismus verbreitenden Denkmuster in entsprechenden ethischen Theorien nieder, insbesondere in John Lockes Eigentumstheorie und in Adam Smiths Theorie der „unsichtbaren Hand“ des Marktes. Solche Theorien waren aber nicht einfach nur Ergebnis der wirtschaftlichen Umbrüche, sondern dienten zugleich auch zu deren Rechtfertigung und damit zu ihrer weiteren Durchsetzung.
Auch ist Ethik bekanntlich nichts Universelles und Unveränderliches. Ethische Standards müssen sich erst entwickeln und nach und nach verbreiten, und das dauert seine Zeit. So gab es im Altertum zwar Sklavenaufstände, aber es sind keine Proteste gegen die Sklaverei bekannt – auch durch Sklaven wurde die Institution Sklaverei nicht grundsätzlich in Frage gestellt, selbst wenn sie ihr individuell zu entkommen suchten. Auch das ganze Mittelalter hindurch und in vielen außereuropäischen Gesellschaften gab es Sklaverei und Leibeigenschaft als allgemein akzeptierte Institutionen.
Erst im 17. Jahrhundert wurde die Sklaverei von Mennoniten und Quäkern für illegitim erklärt (siehe Wikipedia 2014). Bis sich diese Sichtweise verbreitete, dauert es noch mehr als 100 Jahre, und bis zur Abschaffung der Sklaverei in den meisten Ländern verging ein weiteres Jahrhundert.
Neue ethische Überzeugungen fallen also nicht über Nacht vom Himmel, von ihrem ersten Auftreten bis zu ihrer allgemeinen Durchsetzung kann geraume Zeit vergehen. Wer genau hinguckt, kann also auch heute schon ethische Positionen vorwegnehmen, die sich erst in Zukunft allgemein verbreiten werden. Dies gilt insbesondere, wenn man berücksichtigt, wie sich neue ethische Positionen in der Vergangenheit entwickelt haben. Hier sind nämlich einige allgemeine Muster erkennbar.
Eins dieser Muster ist, dass gewisse Vorrechte mit der Zeit zu allgemeinen Rechten werden. Mit der Abschaffung der Sklaverei wurden den Sklavinnen die Rechte eingeräumt, die Freie schon vorher gehabt hatten. Der Feminismus forderte und fordert für Frauen dieselben Rechte, die Männer schon vorher hatten – zu wählen; den eigenen Alltag gestalten zu können, ohne andere um Erlaubnis fragen zu müssen; gemäß den eigenen Präferenzen einen Beruf ergreifen zu können; für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn zu erhalten etc. Die Lesben- und Schwulenbewegung erkämpfte für Schwule, Lesben und Bisexuelle das Recht, im gegenseitigen Einvernehmen lieben zu können, wen sie wollen, das Heterosexuelle schon vorher gehabt hatten.
Oft sind diese Emanzipationsbewegungen noch unvollendet, indem das gleiche Recht noch nicht oder nur auf dem Papier besteht. Schwule dürfen in Deutschland und manchen anderen Staaten heute etwa noch nicht heiraten. Frauen werden im Durchschnitt nach wie vor dramatisch schlechter bezahlt als Männer, auch wenn Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nominell verboten ist. Die Richtung, in die die ethische Entwicklung geht, ist trotzdem klar.
Ein anderes Muster ist, dass willkürliche Privilegien aufgehoben werden. So schützen die Habeas-Corpus-Rechte in Rechtsstaaten heute die Einzelne vor willkürlicher Verhaftung ohne Begründung und gerichtliche Überprüfung, während im Mittelalter der Souverän das Recht hatte, seine Untertanen festnehmen zu lassen, ohne dies rechtfertigen zu müssen.
Zwar tun sich die heutigen Staaten chronisch schwer damit, die Rechte, die sie ihren eigenen Bürgern zugestehen, auch Nichtbürgerinnen (also „Ausländern“ aus Sicht des jeweiligen Staates) zukommen zu lassen. So werden in dem berüchtigten US-amerikanischen Gefangenenlager Guantanamo hunderte Personen über teils Jahrzehnte hinweg unter krasser Missachtung ihrer Habeas-Corpus-Rechte festgehalten. Ethische Konzepte und die tatsächliche Praxis kapitalistischer Staaten sind also zwei paar Schuhe. Dass ein nur für manche geltendes Habeas-Corpus-Recht schon ein gewisser ethischer Fortschritt gegenüber der Alternative kompletter staatlicher Willkür ist, dürfte sich dennoch nicht bestreiten lassen. Und gemäß des ersten Musters, dass Vorrechte mit der Zeit zu universellen Rechten werden, lässt sich schon voraussehen, dass sich die Begrenzung von Grundrechten wie Habeas Corpus auf die Bewohnerinnen eines einzelnen Staates in Zukunft nicht mehr rechtfertigen lassen wird.
Zu guter Letzt werden die ethischen Ansichten in jeder Gesellschaft durch deren praktisch-materielle Verfasstheit geprägt, wie oben schon festgestellt. Wie der Kapitalismus seine eigene Ethik hervorbringen musste, die die Praktiken der allgemeinen Warenproduktion und des Handels unter formal Gleichberechtigten absichert und rechtfertigt, so wird auch jede künftige Gesellschaft ethische Grundsätze entwickeln, die ihrer Funktionsweise entsprechen. Wenn wir also davon ausgehen – wie hier bei Keimform als „Arbeitshypothese“ üblich –, dass die künftige Gesellschaft (sofern alles gut läuft) Commons und Peer-Produktion als ihre Grundlagen haben wird, dann implizierten diese Grundlagen bestimmte ethische Grundsätze, über sie sich heute schon einiges sagen lässt. Welche das konkret sein könnten, ist Thema des nächsten Artikels.
(Fortsetzung: Elemente einer künftigen Ethik: Keine Ausnutzung von Zwangslagen)
Literatur
- Marx, Karl und Friedrich Engels (1956–1990): Werke. 43 Bände. Berlin: Dietz. Abgekürzt als MEW <Bandnummer>.
- Mühsam, Erich (1933): Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Berlin: Fanal. URL: de.wikisource.org/wiki/Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat, Zugriffsdatum: 9.1.2015.
- Wikipedia (2014): Abolitionismus. URL: de.wikipedia.org/wiki/Abolitionismus, Zugriffsdatum: 9.1.2015
Das ist allerdings ein Beispiel dafür, wie man sich an den ollen Marx vergreifen kann. Diesen oft Marx zugeschriebene „kategorische Imperativ“ hat Marx lediglich zitiert. Zustimmend, aber:
So liest sich das im Zusammenhang:
Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW Bd. 1, S. 385 – 386
@HHH: Ich kenne den Kontext, aber wie kommst du darauf, Marx habe hier „lediglich zitiert“? Das ergibt sich aus dem Kontext nicht und mir ist auch nicht bekannt, wer diesen speziellen „Imperativ“ schon vor ihm formuliert haben sollte.
Im klassischen historischen Materialismus brauchte man keine Ethik, weil die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen war. Der Sozialismus war für die Arbeiter wünschenswerter, nicht für alle, deswegen brauchte er auch keine ethische Begründung. Diesen Aspekt klammerst Du komplett aus.
Man kann ja dem ganzen Keimform-Ansatz vorwerfen, dass er die Klassenfrage aus dem Marxismus entfernt. Ob das jetzt stimmt oder nich oder wünschenswert ist oder nicht, keine Ahnung aber umso wichtiger das Thema hier nicht einfach zu ignorieren.
Haste vielleicht schon gelesen? da gehts auch um Ethik:
http://keimform.de/2014/keimformen-und-konvivialitaet/#more-8594
Oder meinst du was anderes?
LG
Andrea
@Benni:
Wieso meinst du, Klassenkampf wurde ohne Ethik gehen? Wenn man sich die Klassen als so eine Art Banden vorstellt, die miteinander um die Vorherrschaft kämpfen, dann würde das ja vielleicht noch hinkommen. Dann käme halt irgendwann die andere Bande an die Macht und würde ab sofort die eine unterdrücken, während es vorher andersrum war. Aber derartig „vulgär“ war das Klassenkampf-Konzept ja nie.
Vielmehr war (oder ist) die mit dem Klassenkampf verbundene Vorstellung, dass die Arbeiterklasse für ihre Selbstaufhebung kämpft, für die klassenlose Gesellschaft. Dahinter steht eine Ansicht, die ich ganz klar als ethisch ansehen würde, nämlich dass auch die Arbeiter_innen Anspruch auf etwas haben, das ihnen heute verwehrt bleibt — sei es das gute Leben, ein Leben ohne Ausbeutung oder was auch immer. Daher würde ich diese (heute etwas ins Hintertreffen geratene) Vorstellung des Klassenkampfs für die Aufhebung der Klassen als eine durchaus typische Emanzipationsbewegung von und für Leute ansehen, denen bestimmte Rechte vorbehalten werden.
Marx beschreibt das Ergebnis der Religionskritik und macht deutlich, dass er das für eine Errungenschaft hält. Nicht mehr und nicht weniger. Allerdings denkt er weiter:
Die Unterscheidung zwischen gesellschaftlich richtiges und falsches Tun ist wesentliches Merkmal der Menschwerdung, im Zeitalter der Globalisierung braucht deren Weiterentwicklung deshalb logischerweise Fortschritte in der Menschheitswerdung, d.h. dass heißt Verhältnisse, die den Globalisierten dieser Erde erlauben, sich gegenseitig dazu zu nötigen, die unterschiedlichen Bedürfnisse mit den zu ihrer Befriedigung notwendigen Kosten sozio-ökologischer Natur ins Benehmen zu bringen. Das ist es, was m.E. heute bezüglich der marxschen Perspektive in Sachen Ethik zu sagen ist.
Immer wieder lesenswert auch Engels:
Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW Bd. 19, S. 210
Übrigens führt es m.E. in die Irre von einer kapitalistischen Ethik zu sprechen. Viele der Vorstellungen von gesellschaftlich richtig oder falsch, die sich im Zuge der Entwicklung kapitalistischer Interaktionsbedingungen etablieren, sind Errungenschhaften hinter die postkapitalistische Verhältnisse nicht zurückfallen sollten.
Es gibt aber auch für den Kapitalismus typisch Entfremdungsphänomene, die eine Lücke im Bedenken gesellschaftlich richtigen oder falschen Tuns bedingen, was zu überwinden wäre. Die kommen im Fetischcharakter der Ware zu Ausdruck.
Siehe: Sind wir des Warensinns?
@Andrea:
Ja klar hab ich den Artikel gelesen 🙂
Er geht ein Stück weit in dieselbe Richtung, wobei ich die dem Artikel zugrunde liegenden ethischen Vorstellungen, sofern sie konkret werden, eher als heutige „grüne“ Ethik empfinden würde denn als „künftige Ethik“.
Darin dass es besser ist, wenn ein Ding „die Gesundheit fördert“ und „Menschen verbindet“, statt sie zu „trennen“ oder „zu Krankheit und Tod vieler Menschen“ zu führen, sind wir uns natürlich einig. Aber du dürftest heute auch niemand finden, der das anders sieht — theoretisch. Nur dass das praktische Handeln von Firmen und Staaten natürlich doch wieder ganz andere Ergebnisse hervorbringt.
Was ich in meinem kommenden Artikel(n) machen will, ist noch etwas mehr in die Tiefe zu gehen zu Dingen, die heute als ganz normal gelten und auch in deinem Artikel nicht hinterfragt bzw. überhaupt erst angesprochen werden — z.B. dass fast alle Menschen gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben, oder dass große Teil der Natur einzelnen Eigentümer_innen gehören statt allen. Ich denke, das wird aus künftiger Sicht ein ähnlicher Skandal sein wie wir es als Skandal empfinden, dass früher Menschen anderen Menschen gehören konnten (Sklaverei).
Solche ins Grundsätzliche gehenden Überlegungen fehlen mir noch in deinem Artikel. Aber darin, dass ethische Kategorien wichtig sind, stimme ich dir absolut zu.
@HHH:
Mein Verständnis der Passage ist, dass Religionskritik eben nur begrenzt Sinn macht, sofern sie nicht über sich hinauswächst und zur allgemeinen Gesellschaftskritik wird. Das würde ich als spezifisch Marx’sche Wende sehen, da die meisten dezidierten Religionskritiker_innen — damals wie heute — eben bei der Religion als ihrem Thema bleiben.
Engels formuliert da die klassische materialistische Position, wonach die Veränderung der „Produktionsmethoden und Austauschformen“ zu sich ändernden ethischen Vorstellungen führt. Woran ja, wie ich oben schon geschrieben habe, auch viel dran ist — nur dass es eben falsch wird, wenn man daraus schließt, dass Ethik ein reines „Überbauphänomen“ ist, um das man sich nicht weiter zu kümmern braucht.
Ja, ich rede ja auch von „kapitalistischen Grundprinzipien“, die sich in ethischen Idealen niederschlagen — wie dem Leistungsprinzip — und die zu kritisieren und letztlich zu überwinden sind. Für vieles andere, was heute ethisch akzeptiert ist, gilt das aber natürlich nicht.
Ja, selbstverständlich.
Ja, vielleicht war „endet“ im Sinne von „hört auf“ bzw. „hebt sich am Ende selbst auf“ gemeint, aber dennoch sehe ich es als (soweit zustimmende) Beschreibung und nicht als Aufstellung eines 11. oder 12. Gebots.
Ja, es wäre auch in meinen Augen eine Missdeutung des Marx-Engelsschen Verständnis historischer Prozesse, nach der ja die Entwicklung der menschlichen Produktivkäfte nach adäquaten Produktionsverhältnissen drängt – und diese immer mal wieder auch umwälzt. Technologiebedingte Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten verändern, da sind wir uns sicher einig, auch die Möglichkeiten des geistigen Vermögens, sich zu entwickeln. Dazu gehört auch das menschliche Refexionsvermögen hinsichtlich der – teilweise auch etwas unbehaglichen – Wirkungen der gewonnenen Möglichkeiten unter den alten Interaktions- bzw. Entwicklungsbedingungen.
Marx/Engels Perspektive eines (öko-) humanistischen Kommunismus bzw. (öko-) kommunistischen Humanismus sehe ich gerade in der (Schaffung der Möglichkeit zur) Überwindung von Produktionsverhältnissen, die den Individuen als eine Naturgewalt gegenübertreten. Was heißt, sich als Menschheit zu formieren, mit Hilfe deren Institutionen sich die weltweit interagierenden Individuen und deren Institutionen auf das zu Zuende (und zu Unterlassende) verständigen können.
Das zielt einerseits auf die Möglichkeit, ethische Abwägungen zur tatsächlichen Entscheidungsinstanz hinsichtlich der (weltweiten) Produktionszwecke, -mittel, -orte, -bedingungen usw. machen zu können. Andererseits müsste eben dies die Vorstellung zum Verschwinden bringen, dass das richtige und falsche Tun in erster Linie vom guten Charakter der von den konkreten Interaktionsbedingungen „entfremdeten“, (d.h. der ihr Handeln voneinander isloriert bedenkenden) Individuen und deren Zusammenschlüsse abhängt. Würde ein tatsächlich weltgemeinschaftlches Nachhaltigkeitsmanagement zur Grundlage eines Weltwirtschaftens, wäre damit die wesentliche Voraussetzung geschaffen, einem menschenfeindlichen Moralismus den Garaus machen.
Ich wäre übrigens etwas vorsichtiger mit der Vision einer Überwindung“des“ Leistungsprinzips. Zum Einen ist ja nichts dagegen zu sagen, wenn mit möglichst geringem Kraftaufwand ein möglichst großer Nutzen erzeugt wird. Dieses „Prinzip“ muss halt nur mit den dabei zu erwartenden Kosten sozialer bzw. ökologischer Natur ins Benehmen gebracht werden können und es muss in einer gesamtgesellschaftlich bzw. ökologisch rationalen Weise über den Lohn der Anstrenungen gestritten werden können.
@Christian: Danke für deine Überlegungen zu einer commonistischen Ethik. Auf Basis sehr grundsätzlicher Überlegungen möchte ich eine deutliche Gegenposition formulieren. Zunächst mal nur als kurzen Kommentar.
Aus meiner Sicht ist bereits deine Einleitung in ihrer oberflächlichen Plausibilität kritikwürdig:
Warum muss sich besser oder schlechter an einer Ethik messen? Das sehe ich nicht. Besser oder schlechter ist eine praktische und keine ethische Frage. Ich übersetze sie in die Frage danach, inwieweit je ich meine Bedürfnisse befriedigen kann.
Die Ethik beschäftigt sich mit der Frage nach dem moralisch richtigen Handeln und der „Möglichkeit allgemeingültiger ethischer Normen und deren Begründung“ (Wikipedia). Die Ethik ist damit ein dem Handeln vorausgesetzter Diskurs. Er entsteht notwendig in Klassengesellschaften, in denen das individuelle Handeln stets auf Kosten von anderen geht und gehen muss (Exklusionslogik), genau diese Tatsache aber unsichtbar bleibt, so dass die Ursachen für Ausbeutung und Unterdrückung in die Menschen selbst hinein verlagert werden: Sie handeln „falsch“ und nicht „richtig“, weil ihnen die richtige Ethik fehlt. Damit sind die strukturellen Ursachen aus dem Blick, die Probleme wurden personalisiert — was im übrigen auch die fetischistische Konstitution der kapitalistischen Vergesellschaftung widerspiegelt. Das ist (im Kapitalismus) ein genuin bürgerlicher Diskurs. Er ist Teil der diskursen Reflexion bürgerlicher Vergesellschaftung.
Aus meiner Sicht versuchst du in diesem bürgerlichen Diskurs ein fortschrittliches Element durchzusetzen. Das ist aus meiner Sicht von vornherein aussichtslos. Ethische Grundsätze, wie materialistisch du sie auch fundieren willst (das haben schon ganz andere versucht), treten den Menschen unter unseren Bedingungen immer als fremde Anforderungen entgegen — völlig egal wie „gut“ der Inhalt ist. Damit wird ungewollt die Logik der Fremdbestimmung reproduziert. Emanzipation kann aber nur auf Selbstbestimmung basieren — und das ist kein „ethischer Grundsatz“, sondern eine analytische Überlegung. Würde ich „Selbstbestimmung“ ethisch verstehen, wäre sie wieder fremde Anforderung. Selbstbestimmung kann man nicht verordnen („Sei selbstbetimmt!“), sie kann nur aus dem Handeln hervorgehen und praktisch realisiert werden. Es kommt also nicht darauf an, sich ethische Grundsätze für die Commons zu überlegen, damit sie funktionieren, sondern unsere Nachdenkenergie sollte sich darauf richten, wie Commons-Strukturen so gestaltet werden können, dass in ihnen positiv-reziprokes (inklusives) Handeln entstehen kann.
In dieser (von mir vorgeschlagenen) Herangehensweise liegt meiner Meinung ein ähnlicher Paradigmenwechsel wie in der Einsicht, dass eine (freie) Gesellschaft nicht geplant werden kann, sondern sich selbst planen muss. Historisch zerbrach sich die sozialistische Bewegung den Kopf darüber wie sie die Planung für andere („Wieviel Markt und wieviel Plan darf es sein?“) gestalten könne. Die immante Fremdbestimmung, die in einem solchen Ansatz steckt, sollte durch „mehr Demokratie“ begegnet werden. Ähnlich lese ich deine Überlegungen. Du willst das (ethisch?) Gute (sicherlich auch Selbstbestimmung), versuchst es jedoch mit Mitteln — einer commonistischen Ethik — die das Ziel selbst konterkarieren. Ethik, selbst wenn sie aus der gelingenden Praxis destilliert wird, tritt uns als geronnene Handlungsmaximen am Ende immer als etwas äußerliches und damit fremdes gegenüber.
Soweit mal in aller Kürze mein Gegenpol 🙂
@HHH #11:
Ich hatte das Leistungsprinzip charakterisiert als „Wer sich nicht gegen andere durchsetzen kann, soll auch nicht essen (oder jedenfalls nicht viel)“, du scheinst eher an das Effizienzprinzip zu denken? Gegen Effizienz ist in der Tat wenig einzuwenden, auch wenn sie etwas an Bedeutung verliert, sofern die Menschen gerne tun, was sie tun, und also nicht möglichst schnell damit fertig werden wollen.
@Stefan:
Wenn es dir nur um deine Bedürfnisse ginge (oder mir um meine), dann hättest du recht — das können wir jeweils rein praktisch feststellen. Dann wird die bessere Gesellschaft allerdings zu einer Frage des individuellen gesellschaftlichen Standpunkts. Vielleicht hast du ja Glück und bist mit deiner Situation in der heutigen Welt ganz zufrieden, dann gäbe es für dich (ohne Ethik) keinen Grund, etwas ändern zu wollen, auch wenn anderswo Menschen leiden (die du aber nicht persönlich kennst). Siehst du das so, ist es also nur deine persönliche Betroffenheit, die dich motiviert, etwas ändern zu wollen?
Wohl kaum, das zeigt ja schon das Holzkamp’sche „je ich“, das du in den Satz geschoben hast. Übersetzt aus der Sprache der Kritischen Psychologie in die allgemein übliche, würde der Satz lauten: „die Frage danach, inwieweit alle Menschen ihre jeweiligen Bedürfnisse befriedigen können.“ Es geht dir also gar nicht nur um dich und dein unmittelbares Umfeld, sondern um alle Menschen! Das ist aber genau eine Position, die ich als ethisch bezeichnen würde: sich nicht nur um das eigene Wohl Gedanken zu machen, sondern auch um das der anderen.
Ist dem so, und sind deshalb alle ethischen Prinzipien als „geronnene Handlungsmaximen“ zu verwerfen?
Nehmen wir als ethisches Prinzip z.B. die vier Freiheiten, die laut Stallman jede Nutzer_in Freier Software (oder anderer Freier Werke) haben sollte (nutzen, studieren, verbreiten, verändern). Werden die Menschen in einer commonistischen Gesellschaft diese Rechte auch allgemein haben bzw. einfordern, und wie gehen sie damit um, wenn es darüber Konflikte gibt?
Z.B.: A veröffentlicht einen Roman, verbittet sich aber, dass andere die von ihr ausgedachten Figuren in ihren eigenen Werken aufgreifen (Fan-Fiction-Verbot). Akzeptieren sie das (und verzichten damit auf Freiheit 4) oder sagen sie zu A höflich, aber bestimmt: „Danke für das Teilen deines Werks, aber da du es nun mit uns geteilt hast, hast du kein Recht mehr, über unsere Köpfe zu verfügen und und uns daran zu hindern, die Fort- und Umschreibungen, die in unseren Köpfen dazu geschehen, festzuhalten und mit anderen zu teilen?“
Oder: Eine Gruppe von Leuten veröffentlicht eine Software unter Copyleft, also mit der Auflage, dass veränderte Versionen nur unter Zugänglichmachung ihres Quellcodes verbreitet werden dürfen, so dass Dritte auch die veränderten Versionen noch weiter verändern können. B hält sich nicht daran, er stellt eine verbessere Version zum Download ins Netz, weigert sich aber, den Quellcode herausgeben (z.B. mit der Begründung, seine Version der Software wäre so gelungen, dass andere sie nur noch verpfuschen könnten). Nimmt die Community das achselzuckend hin oder wird er durch „flaming and shunning“ oder irgendeine andere Form der Sanktionierung darauf hingewiesen, doch bitteschön die Spielregeln des Copylefts einzuhalten?
Oder ein ganz anderes Thema: die Polyamorie war ja hier und mehr noch bei Andreas Exner schon Thema, und nicht umsonst heißt das wohl bekannteste Buch zum Thema The Ethical Slut. Eins der wichtigsten ethischen Prinzipien der Autorinnen ist darin, dass polyamoröse Beziehungen den Konsens aller Beteiligten erfordern, sprich dass die Spielregeln von den Beteiligten ausgehandelt werden. Andere hinters Licht zu führen und ihnen z.B. vorzuspielen, mit ihnen in einer exklusiv-monogamen Beziehung zu leben, wenn das gar nicht stimmt, gilt als unethisch und damit inakzeptabel.
Das sind nur einige wenige Beispiele (es gäbe noch viel mehr), wo die Frage nach den richtigen Regeln für das Zusammenleben — also der Ethik des Zusammenlebens — auch in Zukunft von Bedeutung sein wird, ganz unabhängig vom Kapitalismus.
@Christian: Vielen Dank für deine Antwort. Da kommen wir der Sache und der Kontroverse schon langsam näher. Aus meiner Sicht geht es grundsätzlich um die Frage: Was bedeutet es eigentlich, wenn wir von der gesellschaftlichen Natur des Menschen ausgehen?
Der Witz des „je ich“ ist doch gerade, weder von mir alleine noch von allen als Abstraktum auszugehen. Das ist genau jene Trennung, die der Kapitalismus erzeugt und die du — so meine Kritik — als naturgegeben hinnimmst und per Erklärung der Notwendigkeit einer commonistischen Ethik reproduzierst.
Das „je ich“ ist der verallgemeinerte Standpunkt erster Person, der in meinem „ich“ die anderen „ichs“ einschließt. Nur wenn wir strukturell getrennte sind, brauchen einen (ethischen) Ausgleich, wenn wir uns als Verbundene begreifen, dann muss ich nicht ethisch verabreden, dass Polybeziehungen den Konsens der Beteiligten brauchen. Ethik ist in dem Sinne eine Notwehrmaßnahme gegen die realen Exklusionen und Trennungen, die wir jeden Tag erfahren. Deine Beispiele zeigen sämtlich genau dies. Sie zum Naturprinzip zu erheben wäre eine unzulässige Ontologisierung.
Ich behaupte also kurz gesagt: Der Commonismus braucht keine Ethik, weil die konkreten Probleme praktisch gelöst werden unter Bedingungen, wo je meine Existenz grundsätzlich gesichert ist. Implementiere ich sie doch, implementiere ich Fremdbestimmung. Selbstbestimmung kann aber nicht fremdbestimmt funktionieren. Ethische Ansätze können folglich nicht über den Kapitalismus hinausweisen, sondern sind immer wieder auf ihn zurückgeworfen.
@Stefan:
Ich halte die Trennung nicht für naturgegeben, aber ebenso wenig halte ich eine grundsätzliche Verbundenheit aller Menschen für naturgegeben. Die „gesellschaftliche Natur des Menschen“ sehe ich darin, dass der Mensch eben „von Natur aus“, als Ergebnis der Evolution, ein zur Kooperation fähiges und auf Kooperation angewiesenes Wesen ist. Menschen sind keine Einzelgänger, sondern haben immer in Gruppen gelebt, im Gegensatz zu manchen anderen Arten.
Aber daraus eine quasi „natürliche“ Verbundenheit aller Menschen abzuleiten, die nicht erst über eine gemeinsame Verabredung und Selbstverständigung — also eine Ethik — herzustellen wäre, sondern eigentlich immer schon da war und durch den Kapitalismus nur unterdrückt wird, halte ich für falsch. Das allein schon deshalb, weil es ja auch vor dem Kapitalismus niemals eine solche Verbundenheit aller Menschen gab. Es handelt sich um einen Zustand, der erst herzustellen ist — wenn man ihn denn für wünschenswert, sprich für ethisch richtig hält — nicht um einen naturgegeben Zustand, der nach dem bloßen Beseitigen von Hindernissen ganz von alleine wieder hochpoppen wird.
Dass „wir uns als Verbundene begreifen“, ist aber entweder selbst ein ethisches Postulat und in der Tat vielleicht die entscheidende Grundlage einer commonistischen Ethik. Oder aber es soll ausdrücken, dass „wir uns als Verbundene begreifen“ im dem Moment, wo wir erkennen, dass wir (alle Menschen) aufgrund unserer gesellschaftlichen Natur tatsächlich immer schon („von Natur aus“) verbunden sind. Letzteres würde ich allerdings wiederum als „unzulässige Ontologisierung“ ansehen.
Dass „je meine Existenz grundsätzlich gesichert ist“ ist aber ja nun kein natürlicher Zustand, sondern kann erst als praktisches Resultat einer allgemeinen Verabredung herbeigeführt werden. Eine solche allgemeine Verabredung — dass die Existenz jede_r Einzelnen grundsätzlich zu sichern ist — würde ich wiederum als einen der wesentlichen ethischen Grundbausteine einer commonistischen Gesellschaft sehen. Aber vielleicht reden wir an der Stelle auch nur aneinander vorbei und ich bezeichne etwas als „ethisch“, wofür du ein anderes Wort verwendest.
Noch einige Bemerkungen, ausgehend von einer IRC-Diskussion. Ich finde es wichtig, zwischen „Ethik“ und „Moral“ zu unterscheiden: Moral ist in erster Linie ans Individuum gerichtet. Ethik sind dagegen die Regeln des Zusammenlebens, die sich zwar auch ein Stück weit ans Individuum richten, aber immer eine starke gesellschaftliche Komponente haben. Dass ich keine Sklaven habe, ist nicht (in erster Linie) meine private Entscheidung, sondern Ergebnis einer allgemeinen gesellschaftlichen Ethik, die es ablehnt, dass Menschen Eigentum anderer Menschen werden können.
Deshalb finde ich Definitionen von Ethik mittels Verweis auf „moralisch“ (wie die Wikipedia das tut) nicht hilfreich. Wenn man annimmt, dass Ethik und Moral dasselbe sind, sind solche Definitionen zirkulär, und wenn man sie für etwas Unterschiedliches hält (so wie ich), sind sie irreführend.
Die beiden Definitionen von Dictionary.com, die ohne „moral“ auskommen, finde ich besser:
Zum Verhältnis von Ethik und Gesellschaft würde ich durchaus materialistisch sagen, dass in erster Linie jede Gesellschaft ihre eigene Ethik hervorbringt, nicht umgekehrt. In jeder Gesellschaft gibt es gewisse Vorstellungen des richtigen und falschen Verhaltens bzw. der richtigen und falschen Regelung der gesellschaftlichen Organisation.
Nehmen wir z.B. die klassische Frage nach den Produktionsmitteln. Im Kapitalismus sind diese normalerweise Privateigentum, und das gilt auch als gut so, während sie im Kommunismus (so wie der Begriff üblicher Weise verstanden wird) in irgendeiner Form als Allgemeingut oder Kollektiveigentum gelten. Damit ergeben sich unterschiedliche ethische Prämissen, auf denen die Gesellschaft in ihrem alltäglichen Funktionieren aufbaut.
Ein bloßes Verändern der Prämissen reicht dabei noch nicht, um die Gesellschaft zu verändern, aber ohne die passenden Prämissen würde die gesellschaftliche Organisation nicht richtig funktionieren. Da jede Gesellschaft irgendwelche derartigen Prämissen setzen wird, halte ich eine Gesellschaft ganz ohne Ethik für ein Ding der Unmöglichkeit.
@Christian: Richtig, „Verbundenheit“ ist sehr schwammig, deswegen der Versuch einer Präzisierung. Verbundenheit wird in der Regel mit einer unmittelbaren Beziehung zwischen den verbundenen Menchen assoziiert. Mir geht es jedoch um die mittelbaren oder vermittelten Beziehungen, die wir mit allen auf der Welt Menschen haben. Oder mit anderen Worten: Meine individuelle Existenz ist gesamtgesellschaftlich vermittelt. Immer, genuin. Deswegen ist deine Annahme:
aus meiner Sicht nicht haltbar. Genau auf dieser IMHO falschen Annahme basiert Ethik, jede Ethik: Es fehlt etwas, die genuine Verbundenheit oder Vermitteltheit, die erst mittels Ethik hergestellt werden muss. Das ist aus meiner Sicht Kern des bürgerlichen Menschenbildes: Wir sind isolierte Einzelne, die erst eine Ethik zusammenbringt.
IMHO steht nicht in Frage, dass unsere Existenz gesamtgesellschaftlich vermittelt ist, sondern allein wie dieser Vermittlungszusammenhang beschaffen ist und sich herstellt. Der Vermittlunsgzusammenhang ist nicht Ergebnis einer Ethik, sondern bestenfalls bilden sich in der Praxis begründete Verhaltensweisen aus, die sich als objektive Gedankenformen (Marx) verselbstständigt als „Ethik“ formulieren lassen. Das siehst du ja im Prinzip auch so, nämlich dass
Nur meinst du, dieses Verhältnis dann doch wieder umdrehen zu müssen:
Nein, Commonismus wird nicht verabredet, sondern gemacht. Commonismus hat keine Ethik, sondern ist eine Praxis. In Worten von Marx:
@Stefan:
Ja, darauf können wir uns einigen. Allerdings fände ich es falsch, wenn man daraus eine zeitliche Reihenfolge konstruiert, nach dem Motto: erst kommt die neue Praxis, dann die dazugehörige Ethik (objektive Gedankenformen). Das stimmt nicht, weil die neue Praxis ja nicht gedankenlos vom Himmel fällt, sondern entwickelt werden muss, wozu auch Verständigung darüber gehört, was man da eigentlich macht/machen will und warum.
Deshalb empfinde ich auch diesen Gegensatz als falsch:
Zum kollektiven Machen gehört das Reden und Verabreden doch immer dazu! Nicht umsonst geht Klaus Holzkamp davon aus (soweit ich mich entsinne), dass sich die Sprachfähigkeit des Menschen aus der kooperativen Organisation des Lebens heraus entwickelt hat.
@Christian und StefanIch fand die Diskussion ganz interessant, allerdings mit einem unbefriedigenden Ende, insofern am Anfang von Stefan ein klarer Gegensatz formuliert wird (Ethik als fremde Anforderungen und Notwendigkeit in Klassengesellschaften) und am Ende ein „Darauf können wir uns einigen“ steht, allerdings ohne dass ich nachvollziehen kann, wo da die Einigung stattgefunden hat.
Ich selbst halte Ethik nicht für eine Ergänzung des Materialismus, sondern für einen Gegensatz dazu. Es geht nicht um irgendeine Reihenfolge oder sonst ein positives Verhältnis, sondern: Wer ethisch argumentiert, argumentiert anti-materialistisch. Und wer materialistisch argumentiert, anti-ethisch.
Christian, Du sagst, man könne nur ethisch Gesellschaften nach besser/schlechter beurteilen und z.B. nur ethisch begründen, dass der Sozialismus/Kommunismus wünschenswerter als der Kapitalismus sei. Überhaupt habe Marx (im Kapital) lediglich Selbstwidersprüche des Kapitalismus kritisiert, aus denen man auch die Konsequenz ziehen könnte, man müsse den Kapitalismus lediglich konsequenter umsetzen. Das halte ich für falsch. Marx erklärt den Kapitalismus und seine notwendigen Konsequenzen. Dazu gehört z.B., dass diejenigen, die nichts als ihre Arbeitskraft besitzen, ihr Leben lang für einen Reichtum arbeiten müssen, von dem sie ausgeschlossen sind. Ihr Lebenszweck ist die Vermehrung fremden Eigentums. Mit dieser Erkenntnis ausgestattet braucht doch der Arbeiter keine Ethik, um sich ein Urteil zu bilden. Der Laden läuft gegen ihn, das ist die Erkenntnis, und das reicht, damit der Arbeiter sagen kann, der Kapitalismus gehört abgeschafft. Hier jetzt zu sagen, es bräuchte ethische Maßstäbe, um überhaupt sagen zu können, dass diese Rolle des Arbeiters schlecht ist, erklärt die objektive systematische Schädigung der Arbeiter-Bedürfnisse für irrelevant und wendet sich damit GEGEN sie, ganz egal, mit was für ethischen Maßstäben man dann ankommt.
Ein weiterer Aspekt: Das Gegeneinanderhalten von meinem Bedürfnis und den Bedürfnissen aller ist imo auch verkehrt. Warum soll es nicht mein Bedürfnis sein, dass es anderen auch gut geht? Bei mir ist das so! Und wenn es nicht so wäre, warum sollte ich DANN ethische Maximen sinnvoll finden, die mich nötigen, auch an andere zu denken? Wenn jemand vom Leid anderer profitiert und es ihm damit gut geht, dann kann ich dem doch nicht mit ethischen Maximen kommen, sondern dann muss ich dem praktisch das Handwerk legen.
Ethik gibt es dann, wenn die Bedürfnisse und Interessen der Menschen systematisch im Gegensatz zueinander stehen, man also einerseits vom Nachteil anderer profitiert, andererseits das nicht zu einer Kritik des Systems verarbeitet, sondern zu einer Selbstkritik (an den eigenen „maßlosen“ etc. Bedürfnissen). Auch hier ist diese ETHISCHE Kritik anti-materialistisch. Sie ändert gar nichts an der gegenseitigen systematischen Schädigung, sondern ruft nur zur allseitigen Mäßigung auf, was aber nichts anderes heißt, dass jeder sich mit seinen Bedürfnissen zurücknehmen soll.
Im nächsten Artikel schreibst Du, dass es z.B. unethisch sein soll, Zwangslagen anderer auszunutzen. Ohne genau zu wissen, wie Du Dir eine zukünftige Gesellschaft vorstellst: Erstens scheint es immer noch (materielle) Zwangslagen zu geben, zweitens auch immer noch gute Gründe, diese auszunutzen. Klingt ehrlich gesagt nicht sehr sympathisch. Vielleicht ist es ja so, dann solltest Du imo nicht über Ethik nachdenken, sondern darüber, WARUM es so sein wird (mit den Zwangslagen und deren Ausnutzung). Oder Du weißt gar keine Gründe mehr für Zwangslagen und deren Ausnutzung in Deiner zukünftigen Gesellschaft, dann ist die ganze Ethik-Spekulation müßig.
@ergänzung:
In meinem Verständnis ist Materialismus eine wissenschaftliche Heuristik, die dazu dient, die Welt — und damit auch die menschlichen Gesellschaften — besser zu analysieren und zu verstehen. Er bezieht sich also, wie alle Wissenschaft, aufs Sein und nicht aufs Sollen. Aus dem Materialismus folgt nicht, wie die Welt eingerichtet sein sollte. Genauso wenig wie aus irgendeiner anderen wissenschaftlichen Theorie oder Erkenntnismethode.
Das heißt nicht, dass Materialismus für die Frage nach dem Sollen unwichtig ist. Materialistische Analysen ermöglichen wesentliche Erkenntnisse darum, was möglich ist und was nicht. Sie machen z.B. klar, dass der Kapitalismus nicht durch Reformen in ein System verwandelt werden kann, in dem es allen Menschen gut geht, weil er in seinen Grundmechanismen so funktioniert, dass es immer wieder zu Ausgrenzungen und Ausbeutung kommen muss.
Aber ergibt sich aus dem Materialismus in irgendeiner Weise, dass die Welt so einzurichten sei, dass es allen Menschen gut geht? Natürlich nicht. Das ist eine ethische Prämisse.
Insofern sehe ich Materialismus und Ethik keineswegs als Gegensätze, sondern als Ergänzung. Es braucht beides.
Nur dass das Marx so platt nicht sagt, und es so ja auch nicht stimmt. Richtig ist: Marx zeigt, dass der Kapitalismus notwendigerweise auf Ausbeutung beruht, sprich dass ein Teil des von den Arbeiter_innen produzierten Reichtums zwangsläufig bei den Kapitalisten landet.
Aber worin genau liegt das Problem? Wenn man sagt, „ich möchte nicht ausgebeutet werden!“, dann sind ja durchaus individuelle Lösungen denkbar, indem man z.B. kleine(r) Selbständige(r) wird, einen eigenen kleinen Laden oder Praxis aufmacht. Sagt man hingegen „niemand sollte ausgebeutet werden!“, ist das wieder eine ethische Position, geht also gemäß deiner Argumentation nicht.
Was bleibt, ist das Argument mit dem Lebensstandard: Wenn sie nicht für fremde Taschen arbeiten müssten, könnten sich die Arbeiter_innen mit weniger Arbeit den gleichen Lebensstandard sichern oder mit gleich viel Arbeit einen höheren. Das gilt allerdings nur bei gleichbleibender Produktivkraft, und der Kapitalismus hat zweifellos zu gewaltigen Produktivitätssteigerungen geführt.
Nehmen wir als hypothetisches Beispiel an, dass ein freier (nicht ausgebeuteter) Bauer oder Handwerker im Mittelalter 8 Stunden täglich gearbeitet hat. Heute ist die Produktivität 3-mal höher, die Arbeiter schaffen 8 Stunden im Betrieb, wovon die Hälfte als Mehrwert an den Kapitalisten geht. Aufgrund der gestiegenen Produktivität — was heute in 4 Stunden hergestellt wird, hätte im Feudalismus 12 Stunden erfordert — ist ihr Lebensstandard aber trotz dieser Ausbeutung höher als der ihrer mittelalterlichen Vorläufer! Und tatsächlich dürfte das Beispiel noch untertreiben sein, die Steigerung des Lebensstandard für die einigermaßen in den Kapitalismus Integrierten (sprich: die Arbeit haben und damit „ausgebeutet“ werden) noch deutlicher ausfallen.
Ein schlagendes Argument gegen den Kapitalismus kann ich darin nicht erkennen.
Es gibt da kein eindeutiges Gegeneinander, aber auch kein eindeutiges Zusammenfallen. Wenn man, frei nach Michail Bakunin, sagt: „Mir geht es nur dann gut, wenn es allen Menschen, die mich umgeben, Männer und Frauen, ebenfalls gut geht“, dann ist da sicher einiges dran — aber das bezieht sich dann erstmal auf die Menschen, mit denen ich tatsächlich interagiere. Wenn man hingegen sagt: „Mein Bedürfnis ist, dass es allen Menschen gut geht, auch all denen, die ich nicht kenne und vermutlich niemals kennenlernen werde, z.B. in Vanuatu„, dann würde ich das nicht als Alternative zur Ethik ansehen, sondern als Formulierung einer solchen.
Nein, der Witz ist ja gerade, dass ich daraus schließe, dass die Gesellschaft so einzurichten ist, dass im Normalfall überhaupt keine Zwangslagen mehr auftreten werden und sonst zumindest schnell für Abhilfe gesorgt wird. Denn das ist zweifellos der effektivste Weg, ihre Ausnutzung zu verhindern! Du scheinst die Auffassung, dass die Gesellschaft so eingerichtet sein sollte, zu teilen. Insofern denke ich, wir gehen da von ähnlichen ethischen Vorstellungen aus, nur dass ich sie explizit mache, während sie bei dir implizit bleiben.
Im Übrigen halte ich die dort formulierte Kritik für ein sehr schlagkräftiges Argument gegen den Kapitalismus, denn dass dieser auf der systematischen Herstellung und Ausnutzung von Zwangslagen basiert, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Greift aber natürlich nur, wenn man die Ansicht teilt, dass Zwangslagen und deren Ausnutzung etwas Schlechtes sind.
„die Gesellschaft so einzurichten ist, dass im Normalfall überhaupt keine Zwangslagen mehr auftreten werden … Du scheinst die Auffassung, dass die Gesellschaft so eingerichtet sein sollte, zu teilen.
Gibt es denn überhaupt Menschen, die was anderes sagen? Gibt es Menschen, die sagen: Ich will in einer Gesellschaft leben, wo Menschen systematisch in Zwangslagen gebracht und diese dann von anderen ausgenutzt werden?Oder gibt es Menschen, die sagen: Ich will in einer Gesellschaft leben, wo es vielen schlecht geht?Auch ein Kapitalist hat ja nicht das Bewusstsein, dass er möglichst effektiv Zwangslagen ausnutzt, sondern eher, dass er den Menschen mit seinen Arbeitsplätzen und Waren was Gutes tut.
Das Problem ist also nicht die fehlende Ethik, sondern die fehlende (wissenschaftliche) Erkenntnis über den Kapitalismus.
„denn dass dieser [Kapitalismus] auf der systematischen Herstellung und Ausnutzung von Zwangslagen basiert, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Greift aber natürlich nur, wenn man die Ansicht teilt, dass Zwangslagen und deren Ausnutzung etwas Schlechtes sind.“
Erstens: Es wird bestritten. (Nicht von mir, aber von der überwiegenden Mehrheit.) Zumindest das Systematische (d.h., WENN Zwangslagen und Ausbeutung gesehen werden, dann nur durch Fehlverhalten: „gierige Manager“, „korrupte Politiker“ etc.) Zweitens: „Greift aber natürlich nur, …“ Dieses ethische Argument braucht man nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der ernsthaft sagt: „Ich werde systematisch in materielle Not gebracht, diese wird systematisch ausgebeutet, was habe ich es gut.“ Insofern denke ich wirklich, dass es völlig ausreicht, den Kapitalismus (wissenschaftlich) zu erklären.
Daher verstehe ich auch folgendes nicht: „Aus dem Materialismus folgt nicht, wie die Welt eingerichtet sein sollte.“Doch, da folgt was draus: Erkenntnis: Die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder wird ausgebeutet für die Privatinteressen einiger weniger. Hm, ist das nun gut oder schlecht oder neutral? Diese Frage stellt sich meiner Meinung nach nicht. Da brauche weder ich noch irgendwer sonst eine ethische Reflexion für, um das zu beantworten. (Natürlich findet da noch ein Abgleich statt, aber nicht mit einer ethischen Maxime, sondern schlicht mit meinem Interesse. Und wenn einer sagt „Ausbeutung gut“, dann fände ich es auch schräg, den mit Ethik oder überhaupt irgendwie überzeugen zu wollen, sondern dann ist das schlicht ein politischer Gegner.)
Um es nochmal auf den Punkt zu bringen. Du sagst einerseits, dass der Kapitalismus z.B. systematisch Zwangslagen herstellt und ausnutzt. Ich unterstelle jetzt einfach mal, dass das auch für Dich heißt: Der Kapitalismus schädigt systematisch Interessen und Bedürfnisse. Das ist eine (materialistische) Erkenntnis.
Und dann sagst Du: „Aus dem Materialismus folgt nicht, wie die Welt eingerichtet sein sollte.“
Aus der systematischen Schädigung von Bedürfnissen folgt für Dich nichts.
Das ist genau mein Problem mit Ethik. Ethisch argumentieren heißt: Bedürfnisse, Interessen, Erkenntnis über deren Schädigung: Daraus folgt nichts. Das ist der Dissenz: Zumindest bei mir folgt aus dieser Erkenntnis alles. Genau die Erkenntnis der systematischen Schädigung der Leute ist meine ganze Kritik am Kapitalismus und der ganze Grund, eine andere Gesellschaft zu wünschen. Ethik relativiert das komplett, erklärt genau diese Kritik für irrelevant.
@ergänzung:
Ja, dass vielleicht alle dieselben ethischen Vorstellungen haben, macht die Verständigung darüber einfacher, ändert aber nichts daran, dass es ethische Vorstellungen sind.
Siehe oben #17: kurz zusammengefasst geht es in der Ethik um die „rightness and wrongness of certain actions“, und damit auch um die Frage, ob gesellschaftliche Institutionen gute oder schlechte Konsequenzen haben, wenn sie bestimmte Arten zu handeln ermöglichen, nahelegen oder fordern.
Dein Argument scheint darauf hinauszulaufen, dass wir über Ethik nicht reden müssen, weil wir eh alle einen gemeinsamen ethischen Grundkonsens teilen. Aber ich finde es wichtig, sich klarzumachen, dass dieser heutige Grundkonsens nichts „Natürliches“ und Überhistorisches ist, sondern selbst Ergebnis historischer Prozesse, die ihn hervorgebracht haben.
Ein schon im Text erwähntes Beispiel: In sehr vielen Gesellschaften gab es Sklaverei, und diese wurde vor dem Kapitalismus niemals grundsätzlich in Frage gestellt. Nicht mal von den Sklav_innen selbst (soweit wir wissen), und von den Freien erst recht nicht. Dabei dürfte es ihnen, wenn sie darüber nachgedacht haben, schon klar gewesen sein, dass diese Institution nicht den Interessen und Bedürfnisse der Sklaven entspricht, sondern diese systematisch schädigt. Haben sie daraus geschlossen, dass die Sklaverei abgeschafft werden muss? Offensichtlich nicht.
Was fehlte, war zum einen wohl die Vorstellung, dass es überhaupt anders gehen könnte — auch schlechte Institutionen nimmt man hin, wenn man keine besseren für möglich hält. Zum anderen fehlte aber wohl auch der ethische Grundkonsens, dass zumindest bestimmte Interessen und Bedürfnisse aller Menschen gleichermaßen ernst zu nehmen sind. Wer Sklave war, hatte halt Pech und keinen Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung.
Und wie weit geht der Grundkonsens heute? Also z.B. Stichwort „Zwangslagen“: der herrschende Diskurs um Hartz-4 läuft doch darauf hinaus, dass es den Arbeitslosen „zu gut geht“ und dass, wenn sie nicht von sich aus hinreichend willig und fähig sind, sich einen Job (nahezu egal zu welchen Konditionen) zu suchen, der Druck dann eben erhöht werden muss, bis sie es dennoch tun. Dass das Zwang ist, dürfte den Leuten schon klar sein, aber mir scheint, dass heute eben die Herbeiführung von Zwangslagen von nicht wenigen als richtig und wichtig angesehen wird, wenn sie vermeintlich dem gesellschaftlichen Wohl dient.
Und gibt es einen Grundkonsens darüber, dass die Mehrheit nicht alle binden kann und deshalb z.B. Gesetze, die allen Drogen verbieten, grundsätzlich illegitim sind, wie ich im letzten Artikel schreibe? Ich hoffe, dass es einen solchen Grundkonsens eines Tages geben wird, denke aber, dass wir davon heute noch sehr weit entfernt sind.
„Ja, dass vielleicht alle dieselben ethischen Vorstellungen haben, macht die Verständigung darüber einfacher, ändert aber nichts daran, dass es ethische Vorstellungen sind.“
Bei mir sind das keine ethischen Vorstellungen, sondern es sind schlicht meine Interessen. Ich will einfach nicht in einer Ausbeutungs-Gesellschaft leben, Punkt. Ob dieses Interesse ethisch richtig oder falsch ist, ist mir schnuppe.
„Dein Argument scheint darauf hinauszulaufen, dass wir über Ethik nicht reden müssen, weil wir eh alle einen gemeinsamen ethischen Grundkonsens teilen.“
Nein, darauf läuft es nicht hinaus. Ich teile nämlich z.B. keinen ethischen Grundkonsens. Es läuft darauf hinaus, dass man über Ethik deshalb nicht reden muss und auch nicht reden sollte, weil es genügt und das einzig vernünftige ist, die jeweilige Gesellschaft zu begreifen und anschließend diese Erkenntnis an seinem eigenen Interesse zu messen. Und entweder läuft die jeweilige Gesellschaft erkanntermaßen systematisch gegen einen, dann kümmert man sich (sofern man will, aber das ist m.E. keine Frage) ganz ohne Ethik um die Abschaffung. Oder die Gesellschaft ist im eigenen Interesse, dann kümmert man sich vernünftigerweise um deren Erhalt.
„Ein schon im Text erwähntes Beispiel: In sehr vielen Gesellschaften gab es Sklaverei, und diese wurde vor dem Kapitalismus niemals grundsätzlich in Frage gestellt. Nicht mal von den Sklav_innen selbst (soweit wir wissen), und von den Freien erst recht nicht. Dabei dürfte es ihnen, wenn sie darüber nachgedacht haben, schon klar gewesen sein, dass diese Institution nicht den Interessen und Bedürfnisse der Sklaven entspricht, sondern diese systematisch schädigt. Haben sie daraus geschlossen, dass die Sklaverei abgeschafft werden muss? Offensichtlich nicht.“
Das ist falsch. Z.B. Wikipedia: „In fast allen Epochen wurde das Halten von Sklaven auch ideologisch untermauert. Die Griechen unterteilten die Menschheit in Griechen und Barbaren […] und es schien nur gut und gerecht, Barbaren zu Sklaven zu machen.“
Es wurde eben NICHT materialistisch über Sklaverei nachgedacht (so wie Du es implizierst). Sondern es war gerade wichtig, ethische Maximen zur Rechtfertigung der Sklaverei aufzustellen. Ethik ist nicht sinnvoll, um ausbeuterische Gesellschaften zu bekämpfen, sondern ganz im Gegenteil, Ethik ist unbedingt nötig, um diese aufrecht zu erhalten. Eben weil Ethik die schlichte Aufklärung und das Messen an den eigenen Interessen zurückweist. Und dieses Anti-Aufklärerische und Interessen-Zurückweisende mit dem Hochhalten irgendwelcher höheren Maximen, genau das braucht jede Ausbeutungs-Gesellschaft, sonst lässt sich das nämlich keiner lange gefallen.
@ergänzung:
Dass es in einer anderen Gesellschaft einem/einer selbst besser gehen könnte, ist zweifellos ein wichtiger Motivationsfaktor und dafür alleine braucht es keine Ethik, richtig. Ein abstrakter Verweis auf „Ausbeutung“ reicht aber noch nicht, um das zu demonstrieren, denn wie ich oben (#23) schon gezeigt habe, können die Ausgebeuteten im Kapitalismus durchaus einen höheren Lebensstandard erreichen, als das in vorkapitalistischen Gesellschaften möglich gewesen wäre.
Was also sagst du denen, die zu dem Schluss kommen, dass das Ausgebeutetwerden durchaus in ihrem Interesse ist, solange sie damit in der heutigen Gesellschaft ein halbwegs akzeptables Stück vom Kuchen abbekommen können? Solange du nur an ihr Eigeninteresse appellieren kannst oder willst, kommt die Argumentation an dieser Stelle zum Stillstand.
Lesenswert in diesem Kontext finde ich die Kritik des Gegenstandpunktes, insbesondere den Abschnitt „Moralkritik“ ganz am Ende:
Auch du hast ja schon ein ähnlich idealistisches Interesse geäußert, nämlich „einfach nicht in einer Ausbeutungs-Gesellschaft leben“ zu wollen, was wohl nicht anderes bedeutet, als dass dir das Leiden der anderen eben nicht egal ist, sondern du es verringern willst. Mir geht’s genauso! Aber wie gehst du damit in der Argumentation mit anderen um, die ihr eigenes Interesse nicht so weitgehend definieren — die zwar vermutlich kein Interesse am Leid der anderen haben, aber eben auch kein unmittelbares Interesse an dessen Abschaffung? (Und sei es nur, was wahrscheinlich oft der Fall ist, weil sie dessen Abschaffung für unmöglich halten.) Mit dem Appell an deren Interessen kommst du dann nicht weiter.
Darüber hinaus ist dann ja noch die Frage, wie die andere Gesellschaft, wenn sie denn mal kommt, eingerichtet sein soll. Hier könnte die allgemeine Aufforderung „Kämpft einfach für eure Interessen!“ leicht fatal sein, weil sie — wenn die Leute sie ernst nehmen — wiederum dazu führen würde, dass sich tendenziell diejenigen, die ihre Eigeninteressen am entschiedensten und rücksichtslosesten vertreten, auf Kosten der anderen durchsetzen. Genau wie im Kapitalismus! Da gilt es bessere Lösungen zu finden, die aber darauf basieren, dass man die eigenen Interessen und Bedürfnissen eben nicht über die der anderen stellt, sondern nach Lösungen sucht, die alle als fair empfinden. Wie ich es z.B. für den Umgang mit natürlichen Ressourcen in den Folgeartikeln durchspiele.
„Ein abstrakter Verweis auf “Ausbeutung” reicht aber noch nicht…“
Das stimmt, deshalb habe ich #22 auch etwas ausgeführt, was Ausbeutung ist. Das fandest Du zu platt und hast erwidert:
„Marx zeigt, dass der Kapitalismus notwendigerweise auf Ausbeutung beruht, sprich dass ein Teil des von den Arbeiter_innen produzierten Reichtums zwangsläufig bei den Kapitalisten landet.“
Letzteres halte ich wiederum für eine ziemliche Verharmlosung von kapitalistischer Ausbeutung. Wenn’s tatsächlich bloß so wäre, dass jeder von seiner Arbeit einen Teil an irgendeinen „Kapitalisten“ abzugeben hätte (in Anführungsstrichen, denn das hätte mit Kapitalismus nicht viel zu tun), dann wäre tatsächlich die Frage, ob der Aufwand, dagegen vorzugehen überhaupt lohnenswert wäre.
„…denn wie ich oben (#23) schon gezeigt habe, können die Ausgebeuteten im Kapitalismus durchaus einen höheren Lebensstandard erreichen, als das in vorkapitalistischen Gesellschaften möglich gewesen wäre.“
Klar, ich kann mich immer mit was Schlechterem vergleichen. Ich kann mich auch mit einem hungernden Kind z.B. in Afrika vergleichen, das nach 2 Jahren stirbt. Wenn einem der Vergleich mit irgendeiner grauen Vorzeit oder sonst was Erbärmlichen reicht, damit es einem gut geht, dann ist doch gut, dann soll man sein Leben einfach genießen. (Allerdings spricht schon die Wahl des Vergleichsobjekts Bände: Wer einen Mittelalterbauern hernimmt, um zu belegen, dass es ihm selbst gut geht, dem muss es schon ziemlich schlecht gehen, sonst würde er nicht auf so einen Vergleich kommen.)
„Was also sagst du denen, die zu dem Schluss kommen, dass das Ausgebeutetwerden durchaus in ihrem Interesse ist, solange sie damit in der heutigen Gesellschaft ein halbwegs akzeptables Stück vom Kuchen abbekommen können?“
Dem sage ich, dass er nicht begriffen hat, was Ausbeutung ist.
Denn ich kann mir kaum folgendes Urteil von irgendwem vorstellen: „Ich werde ausgebeutet, d.h., mein Leben hängt ganz und gar davon ab, inwieweit ich fremden Interessen, der Macht und Gewalt des Staats und dem Wachstum des mir nicht gehörenden Kapitals, durch meine Arbeit nutze, was um so besser funktioniert, je mehr ich arbeite und je weniger ich dafür bekomme. Soweit ich in diesem Sinne nützlich bin, bekomme ich die Geldmittel, mich zu reproduzieren (diese Mittel sind ein Abzug von meiner Nützlichkeit, insofern sind sie immer möglichst niedrig), um weiter nützlich zu sein. Wenn ich nichts tauge, bekomme ich nichts. Der Zweck meines Lebens ist also der Dienst an fremden Interessen. Das finde ich gut, denn von dem Reichtum, den ich auf diese Weise mitproduziere und von dem ich ausgeschlossen bin, bekomme ich dafür momentan immerhin immer so viel ab, dass ich ganz gut über die Runden komme (also mich auch morgen wieder nützlich, und zwischendurch auch mal Urlaub machen kann).“
„Solange du nur an ihr Eigeninteresse appellieren kannst oder willst, kommt die Argumentation an dieser Stelle zum Stillstand.“
Wenn jemand begriffen hat, was Ausbeutung ist und dann meint, ausgebeutet werden ist in seinem Interesse, ja, dann ist meine Argumentation am Ende. Das ist dann auch in Ordnung.
„Auch du hast ja schon ein ähnlich idealistisches Interesse geäußert, nämlich “einfach nicht in einer Ausbeutungs-Gesellschaft leben” zu wollen, was wohl nicht anderes bedeutet, als dass dir das Leiden der anderen eben nicht egal ist, sondern du es verringern willst.“
Warum ist das idealistisch?
„Aber wie gehst du damit in der Argumentation mit anderen um, die ihr eigenes Interesse nicht so weitgehend definieren — die zwar vermutlich kein Interesse am Leid der anderen haben, aber eben auch kein unmittelbares Interesse an dessen Abschaffung? (Und sei es nur, was wahrscheinlich oft der Fall ist, weil sie dessen Abschaffung für unmöglich halten.) Mit dem Appell an deren Interessen kommst du dann nicht weiter.“
Wenn sie die Abschaffung für unmöglich halten, liegt’s wieder nur daran, dass sie die Ursachen nicht kennen, da hilft wieder nur rationale Aufklärung.Wenn sie wissen, dass das Leid einen gesellschaftlich-systematischen Grund hat, aber sie kein Interesse dran haben, diese Ursache zu bekämpfen, dann sage ich denen gar nichts mehr. Ich finde es z.B. auch nicht sinnvoll, einen Kapitalisten bekehren zu wollen. Der handelt vielleicht wirklich am ehesten im eigenen Interesse, wenn er das Leid einfach versucht auszublenden oder es sich mit kruden Theorien verklärt, damit er sich nicht eingestehen muss, dass es sein durchgesetztes Interesse ist, das das Leid erzeugt. Soll er doch.
Es müssen doch gar nicht ALLE den Kapitalismus ablehnen. Es reicht doch, wenn diejenigen es tun, die tatsächlich systematisch von ihm geschädigt werden.
„dazu führen würde, dass sich tendenziell diejenigen, die ihre Eigeninteressen am entschiedensten und rücksichtslosesten vertreten, auf Kosten der anderen durchsetzen“
Warum sollten meine Interessen auf Kosten der anderen gehen? Das unterstellst Du einfach so. Im Kapitalismus ist es ja auch so. Aber eine „neue“ Gesellschaft fällt ja nicht einfach so vom Himmel. Sondern ich meine, man muss den Kapitalismus so kritisieren, wie ich es angedeutet habe, die Kritik IST dann ja, DASS und WIE sich im Kapitalismus Privat-Interessen einer bestimmten Klasse auf Kosten einer anderen Klasse durchsetzen. Wer das als Kritik begreift und deshalb kollektiv dagegen vorgeht, der baut doch dann keine Gesellschaft auf, in der schon wieder systematisch, gesellschaftlich-strukturell bedingt bestimmten Interessen gegen andere durchsetzen. Da hätte er ja gleich beim Kapitalismus bleiben können.
Auf der anderen Seite: Natürlich werden so einer anderen Gesellschaft Interessen (z.B. Kapitalinteressen) gegenüber stehen und das wird ein Machtkampf: Welches Interesse ist stärker? Aber z.B. Kapitalinteressen mit Macht, einfach weil man stärker ist, zu unterdrücken, findest du das kritikabel? Würdest Du dann sagen: Nein, ethisch betrachtet geht das aber nicht, dass sich die Arbeiter gegen das Kapital durchsetzen, einfach bloß, weil sie stärker sind? Also ich fände das in Ordnung.
@ergänzung:
Nur dass es ja genau der Kapitalismus war, der uns aus dem Mittelalter/Feudalismus herauskatapultiert hat, insofern ist der Vergleich schon naheliegend.
Meine Interessen müssen nicht zwangsläufig auf Kosten der anderen gehen, das ist in der Tat nur kapitalistische Ideologie. Aber ebenso wäre es Ideologie zu glauben, dass im Kommunismus (oder wie immer man die erhoffte kommende Gesellschaft nennt) die Interessen aller wunderbarerweise in eins fallen und es überhaupt keine Konflikte um die Nutzung von Ressourcen, unterschiedliche Leben- und Verhaltensweisen etc. mehr geben wird.
Genau. Es wird eine Gesellschaft sein, in der Konflikte auf eine andere Weise gelöst werden anstatt dass jede_r nur, ohne Rücksicht auf andere, möglichst viel von den eigenen Interessen versucht durchzusetzen. Es wird andere (Faust-)Regeln geben, wie Konflikte zu lösen sind, ohne dass jemand unter die Räder kommt. Sprich: es wird eine andere Ethik gelten.
Aber ich belasse es jetzt mal dabei, sonst drehen wir uns im Kreis.
„Aber ich belasse es jetzt mal dabei, sonst drehen wir uns im Kreis.“
Finde ich in Ordnung.
Eine kleine Anmerkung noch: Du meinst, es gäbe immer Konflikte und es kommt darauf an, dass man Regeln (eine Ethik) aufstellt, wie man mit diesen Konflikten umgeht. Natürlich wird’s im Kommunismus (oder Commonismus oder wie Ihr das nennt) auch irgendwelche Konflikte geben, aber was man schon (fundiert, ohne zu spekulieren) sagen kann, ist, dass diese im Vergleich zu kapitalistischen „Konflikten“ total harmlos sein werden. Im Kapitalismus gibt es z.B. das Kapital- und das Arbeitnehmerinteresse und das Befördern des einen Interesses ist notwendigerweise existenzbedrohend für das andere. Dieser Konflikt ist aber kein „natürlicher“, sondern ein gesellschaftlich systematischer. Und solche systematischen Konflikte abzuschaffen haben die Menschen in der Hand. Ob man dann in Zukunft lieber 2 oder 4 Stunden pro Tag arbeitet oder sonst irgendwelche Koordinationsprobleme sind dagegen wirklich harmlos, da meine ich braucht man keine Ethik, da kann man, ich sag’s mal zugespitzt, zur Not auch auswürfeln ohne dass einer Schaden nimmt. Diesen Unterschied sollte man schon machen, statt einfach zu sagen: Konflikte gibt’s immer und damit den Gehalt der Konflikte ausblenden.