Demokratischer Arbeitszwang
[Kolumne Immaterial World in der Wiener Zeitschrift Streifzüge]
Seit einigen Jahren wird erfreulicherweise wieder vermehrt über gesellschaftliche Planung diskutiert. In einer losen Folge will ich mich einzelnen Vorschlägen widmen. Los geht’s mit der Demokratischen Arbeitszeitrechnung (DAZ). Das Konzept geht zurück auf den Text Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung der rätekommunistischen Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) von 1930. Zunächst eine kurze Darstellung.
In der DAZ sind alle Produktionsmittel gesellschaftliches Eigentum. Arbeitszertifikate stellen die in einem Produkt enthaltene gesellschaftlich-durchschnittliche Arbeitszeit dar. Sie ersetzen das Geld, wobei jede Arbeitsstunde gleich zählt. Die Betriebe erstellen einen Plan und messen die Arbeitszeit, die sie zur Arbeitszeit der Vorprodukte und Produktionsmittelabnutzung hinzurechnen. Dieser Plan muss von einer „Öffentlichen Buchhaltung“ genehmigt werden. Diese zentrale Verwaltungsbehörde stimmt die Pläne aller Betriebe aufeinander ab. Die gesellschaftlichen Produktionsziele, nach denen sich die Behörde zu richten hat, werden von einer Räteversammlung aller Betriebe festgelegt. Der individuelle Konsum bemisst sich an der individuell geleisteten Arbeitszeit, wobei ein gewisser Anteil vorab in einen Fond fließt, aus dem gesellschaftlich allgemeine Güter finanziert werden. Niemand eignet sich den Mehrwert individuell an, alles wird verteilt.
Nun zur Kritik.
(1) Die Arbeitszertifikate schaffen eine Doppellogik. Einerseits gibt es die konkret-nützliche Arbeit, die sich auf Bedürfnisse bezieht. Andererseits wird die abstrakte Arbeit gemessen und als Wertmaßstab genommen, um den Austausch zwischen den Betrieben und die Verteilung zu organisieren. Damit wird der von Marx kritisierte „Doppelcharakter der Ware“ und die Dominanz der Wertlogik („Wertgesetz“) reproduziert, wobei sich der Wert hier nicht im Geld, sondern in den notierten Arbeitszeiten zeigt. Bedürfnisorientierte Ziele sollen politisch durchgesetzt werden, was ökonomisch zu Verwerfungen führt.
(2) Ein Beispiel ist die Egalität der Arbeitsstunde als Wertmaßstab. Da sich der Konsum an der nominalen Arbeitszeit bemisst, gibt es in der Normalproduktion keinen monetären „Anreiz“, eine höhere Qualifikation oder Arbeitsproduktivität zu erreichen; stattdessen ist es attraktiver, diese in Schattenproduktionen und -märkte einzubringen, denn sie soll sich ja als größerer Anteil am gesellschaftlichen Produkt „lohnen“. Das war bereits im Realsozialismus zu beobachten.
(3) Ein weiteres Problem ist der Betriebsegoismus. Um selber Flexibilität zu gewinnen und Arbeitszertifikate für Nebenzwecke aufzusparen (etwa um besonders produktive Arbeit extra zu belohnen), liegt es nahe, die zur Genehmigung vorgelegten Pläne zu schönen. Dies wissend sieht sich die „Buchhaltung“ dazu aufgefordert, den vorgelegten Plänen zu misstrauen und die Genehmigung zu verweigern, worauf wieder die Betriebe reagieren etc. – ebenfalls ein Effekt, der im Realsozialismus auftrat.
(4) Die „Buchhaltung“ muss die verschiedenen Pläne der Betriebe so koordinieren, dass sich ein gesamtgesellschaftlich kohärenter arbeitsteiliger Produktionszusammenhang ergibt. Sie hat damit die Funktion einer zentralen Planbehörde. Zwar kommen die Pläne von unten aus den Betrieben, doch die „Buchhaltung“ ist bei Strafe des ökonomischen Scheiterns gezwungen, diese Pläne so anzupassen, dass eine gesellschaftlich sinnvolle Gesamtproduktion entsteht. Und diese geänderten Pläne müssen dann – über den Hebel des Genehmigungszwangs – auch durchgesetzt werden.
(5) Die Durchsetzungsnotwendigkeit braucht eine entsprechende Durchsetzungsmacht. Planänderungen müssen notfalls erzwungen, ihre Einhaltung kontrolliert, Planschönungen aufgedeckt und Verstöße sanktioniert werden. Die „Öffentliche Buchhaltung“ repräsentiert die Interessen der Allgemeinheit, die den Betriebsegoismen entgegensteht. Sie benötigt Zwangsmittel und entwickelt aufgrund der von den produktiven Prozessen getrennten und zum Teil entgegengesetzten Interessenlagen eine Eigendynamik. Sie wird zum Schattenstaat. Das zu Überwindende kommt durch die Hintertür wieder herein.
(6) Eigentum und Rechtsform bestehen fort – zwar nicht mehr privat, doch auch als gesellschaftliches Eigentum braucht es einen institutionellen Träger, und es liegt nahe, dass der Schattenstaat diese Trägerschaft übernimmt. Mit dem Eigentum bleibt die Sachherrschaft (Eva von Redecker), also die absolute Verfügung über die zu Objekten gemachte Natur und Menschen bestehen. Ausbeutung ist mehr als nur die Aneignung von Mehrwert, es ist die auf Eigentum und Wertgesetz basierende Exklusionslogik der Warenproduktion, die die Lebensgrundlagen zerstört.
(7) Die gesellschaftliche Spaltung in eine bezahlte und eine unbezahlte Sphäre und die vorherrschende Zuweisung von reproduktiven Tätigkeiten an Frauen wird nicht aufgehoben. Damit bleibt ein wesentlicher Pfeiler des Patriarchats bestehen. Auch der in der Sachherrschaft angelegte patriarchale Phantombesitz (von Redecker) – ein Herrschaftsanspruch ohne materielle Grundlage – wird fortgeschrieben.
(8) Ebenso bleibt das Ausplünderungsverhältnis gegenüber der äußeren Natur bestehen. Die Orientierung an Arbeitszertifikaten (vulgo: Wert) verhindert ein sinnlich-bedürfnisgeleitetes Verhältnis zu der uns umgebenden Mitwelt. Die Natur „da draußen“ ist nur Material für eine Produktion, die Arbeitszertifikate erbringt, mit denen dann Waren gekauft werden, um Bedürfnisse zu befriedigen. Wertform und Sachherrschaft erzeugen eine Subjekt-Objekt-Dichotomie, die verhindert, dass ich mich im Anderen erkennen kann.
(9) Die Kopplung von Geben und Nehmen und damit das zentrale Sachherrschaftsverhältnis des Kapitalismus wird ebenfalls fortgeschrieben. Die eigene Existenz wird an den Zwang zur Arbeit geknüpft. Der christliche wie sozialistische Imperativ „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ (Verfassung der UdSSR von 1936) gilt weiter. Dies mag abgefedert werden durch einen erheblichen Anteil frei zugänglicher schattenstaatlicher Vorsorge, doch auch dieser Teil wird von erzwungenen Arbeitsstunden getragen. Der Impuls, „arbeitsloses Einkommen“ zu verhindern und sicherzustellen, dass alle gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten erbracht werden, ist nachvollziehbar. Warum jedoch der sachliche Zwang das Mittel der Wahl sein soll, bleibt unklar. Leider steht der Ansatz damit nicht allein.
Mit Verlaub, eine ernstgemeinte Frage an Stefan Meretz: Hast du dich mit der Arbeitszeitrechnung nach der GIK auseinandergesetzt? Deine Kritik an der DAZ scheint mir wirklich eine Katastrophe zu sein…. Da stimmt ja von oben bis unten gar nix..
Hier ein kurzes Erklärvideo (6 Min.) über die DAZ, von der Initiative Demokratische Arbeitszeitrechnung (IDA) aus Berlin. Vielleicht schafft das Video etwas Klarheit:
https://www.youtube.com/watch?v=Rqq68am-Hhw
An Irina:
Danke für das Erklärvideo. Es entspricht dem 1. Teil von Stefans Ausführungen und konkretisiert den Ansatz. Auf die Kritikpunkte im zweiten Teil gehst du leider nicht ein.
Als älterer und chronisch erkrankter Mensch habe ich mir beim Anschauen allerdings die Frage gestellt: Wo bleiben Leute wie ich oder Kinder oder Behinderte oder anderweitig Ausgeschlossene? Ist an den ganzen Care-Bereich gar nicht gedacht ? Nach der Untersuchung des Statistischen Bundesamtes (Wie die Zeit vergeht (2015)) entfallen auf den Bereich mehr als 60% der Arbeiten. Mascha Madörin hat das für die Schweiz untersucht und kommt auf ähnliche Zahlen. Wie sieht die Initiative für demokratische Arbeitszeitrechnung das?
Lieber Wilfried,
wie die Demokratische Arbeitszeitrechnung mit der Versorgung von Menschen umgeht, die aus den verschiedensten Gründen nicht arbeiten können (oder wollen), ist eine gute Frage! In dem von mir geposteten Erklärvideo von IDA wird gesagt, dass diese Versorgung über die Betriebe des öffentlichen Sektors geschieht (siehe den Abschnitt „Faktor individueller Konsum und Kosten öffentliche Betriebe“). Und bei diesem Punkt muss ich dir auch widersprechen, dass Stefans Ausführungen den Inhalten des Videos entsprechen: Bereits in Stefans Zusammenfassung des Konzepts der Arbeitszeitrechnung, noch bevor er seine Kritik darstellt, sind einige gravierende Fehler und Missverständnisse enthalten. Beispielsweise ist der zweite Satz seiner Zusammenfassung falsch:
„Arbeitszertifikate stellen die in einem Produkt enthaltene gesellschaftlich-durchschnittliche Arbeitszeit dar.“
Richtig ist: Die Arbeitszertifikate zeigen nur an, wieviel eine Person, nach den Abzügen für den öffentlichen Sektor, gearbeitet hat und wieviel konsumiert werden kann. Das ist zentral wichtig, um das Konzept der DAZ zu verstehen. Marx schreibt diesbezüglich in der Kritik des Gothaer Programms:
„Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er so und so viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dieselbe Menge Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück.“
Wie die Initiative für demokratische Arbeitszeitrechnung das sieht, kann ich dir nicht sagen. Das fragst du sie am besten selbst. Die Gruppe hat aber auch FAQs über die DAZ veröffentlicht, die hilfreich sind:
https://arbeitszeit.noblogs.org/faqs-arbeitszeitrechnung/
Ja, der „Arbeitszwang“, oder anders ausgedrückt die Tatsache, dass alle gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten eben erbracht werden müssen, besteht natürlich fort, aber das ist ja keine willkürliche Festsetzung der DAZ, sondern ergibt sich aus der Natur der Gesellschaft selbst. Bei Marx gibt es eine Stelle, wo er so etwa schreibt: „dass alle krepieren würden, wenn zwei Wochen lang niemand arbeitet, das weiß doch jedes Kind“ (sinngemäß, habe den genauen Wortlaut nicht im Kopf). Die DAZ kann das nicht ändern, aber auch irgendeine andere Form der Gesellschaft könnte das nicht. Die Kritik ist also zu billig, wenn sie nur darauf rausläuft, dass gesellschaftliche Notwendigkeiten eben auch in der DAZ fortbestehen. Natürlich tun sie das. Da bewusst und auf faire Weise mit umzugehen, wie die DAZ es versucht und wie ich es in ähnlicher Weise in meinem Beitragen statt tauschen vorgeschlagen habe, ist da sicher nicht die schlechteste Lösung.
Berechtigter finde ich die Kritik, dass die „Spaltung in eine bezahlte und eine unbezahlte Sphäre“ beibehalten wird. Wobei das nicht zwingend so sein muss, weil ja Care-Tätigkeiten (Kinderbetreuung, Pflege alter und kranker Menschen etc.) durchaus auch mit Arbeitszertifikaten abgegolten werden können – vielleicht in pauschalisierter Form, weil hier eine exakte Arbeitszeiterfassung häufig kaum möglich bzw. praktikabel sein dürfte. Damit wäre zwar immer noch wenig gewonnen, wenn dann Frauen tendenziell Hausfrauen bleiben und sich (zwar durch Arbeitszertifikate anerkannt) um Kinder und Haushalt kümmern, während Männer überwiegend in den Büros und Fabriken arbeiten. Aber dem muss ja nicht so sein, und solche Modelle des bewussteren Umgangs mit den gesellschaftlich notwendigen Arbeiten eröffnen jedenfalls Wege dahin, auch zu einer Verteilung dieser Arbeiten ohne Genderbias zu kommen.
Ein Punkt, auf den du nicht eingehst, den ich aber als problematischer empfinde, ist die Rolle der „Öffentlichen Buchhaltung“ als allgemeiner Genehmigungsinstanz und ob das nicht (sofern sie demokratisch legitimiert ist, was ich mal voraussetzen würde) zu einer Diktatur der Mehrheit führen würde. Angenommen etwa ein Betrieb will Sextoys herstellen, die Gesellschaft ist insgesamt aber eher konservativ eingestellt, hält das für unnötig bis fragwürdig und der Plan wird deshalb nicht genehmigt. In einer Marktwirtschaft wäre das kein Showstopper – solange es Produzent:innen und zahlungswillige Konsument:innen gibt, kann alles produziert werden, sofern es nicht die Mehrheit per Gesetz explizit verbietet. In der DAZ scheint es hingegen deutlich schwieriger für Minderheiten zu sein, die Befriedigung ihrer Konsumwünsche sicherzustellen – solange sie die Mehrheit nicht überzeugen können, gibt es auch keine Möglichkeit, sich zusammenzutun und sein eigenes Ding zu machen.
@Irina: Sorry für meine späte Antwort (Corona). Auf deine ernstgemeinte Frage kann ich ernsthaft antworten: Ich habe mich sowohl mit dem erwähnten 1930er Konzept wie mit dem aktuellen Ansatz der IDA befasst. Wenn meine Zusammenfassung Fehler enthält, würdest du mir helfen, wenn du die Fehler benennst.
Das Beispiel, das du in deiner Antwort auf Winfried nennst, kann ich so nicht nachvollziehen. Der Satz erklärt, was auch im Video genannt wird: Es gilt der gesellschaftliche Durchschnitt der Arbeitszeit. Das muss so sein, weil man sonst keine allgemeine Rechengröße für eine Stunde Arbeitszeit hätte (dass die Arbeiter:in für eine lokale Stunde eine Stunde bescheinigt bekommt, liegt auf der Hand). Das klingt vielleicht missverständlich weil ähnlich wie bei Marx, der aber tatsächlich mit der Formulierung „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ das gesellschaftlich gültige Produktivitätsniveau meint. Beim Konzept der DAZ ist das explizit nicht so, was aus meiner Sicht eine Reihe von Problemen aufwirft, die ich dann benenne.
@Christian: Ich stimme dir zu, dass die gesellschaftlichen Notwendigkeiten von den Gesellschaftsmitgliedern erbracht werden müssen. Das ist eben das Besondere an der gesellschaftlichen Natur, dass Menschen ihre Lebensbedingungen nicht bloß vorfinden, sondern aktiv herstellen – was sie dann aber auch tun müssen. Zu dieser Besonderheit gehört aber auch, dass gesellschaftliche Notwendigkeiten nur im Durchschnitt bestehen und keineswegs auch individuell eine Notwendigkeit bedeuten, sondern individuell sind gesellschaftliche Notwendigkeiten bloß Handlungsmöglichkeiten. Der Kapitalismus hat diese kommunistische Potenz allerdings ins Gegenteil verkehrt: Die gesellschaftlichen Notwendigkeiten, zu denen ja auch die Einhaltung von ökologischen Grenzen gehören müsste, werden ignoriert und die individuellen Möglichkeiten der freien, nicht erzwungenen Beteiligung an der gesellschaftlichen Reproduktion werden in einen Arbeitszwang verkehrt: Nur wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Diesen Arbeitszwang auf individueller Ebene setzt die DAZ fort. Da die DAZ das „bewusst und auf faire Weise“, eben demokratisch, versucht, nenne ich das „demokratischer Arbeitszwang“.
Zur Sphärenspaltung in Arbeit und Care bin ich nicht so optimistisch, dass man mit dem Konzept der DAZ „zu einer Verteilung dieser Arbeiten ohne Genderbias“ kommen kann. Zwar kann man Arbeitszertifikate auch für Care verteilen, aber die unterschiedlichen Logiken („Zeitsparlogik“ und „Zeitverausgabungslogik“, sinngemäß nach Frigga Haug) wirken fort. Ein Konzept, das diese „Logikspaltung“ nicht aufhebt, wird auch die resultierende Sphärenspaltung nicht aufheben, sondern bloß „sozialstaatlich“ dagegen anarbeiten können.
Dem dritten Punkt von dir benannten Punkt, der demokratischen Gengehmigung, kann ich auch zustimmen. Das ist grundsätzlich ein Problem aller „mehrheitsdemokratischen“ Modelle: Wie können sich Minderheitsbedürfnisse produktiv artikulieren? Immerhin könnten gerade diese – weil die Mehrheit das noch nicht einsehen kann – in der Zukunft wichtige Entwicklungschancen darstellen. In diesem Punkt ist der Commonismus der Marktwirtschaft näher – wie wir in Verteilte commonistischen Planung ausführen.
Die ausgegebenen Arbeitszertifikate haben, soweit ich das dem Erklärvideo entnehmen konnte, gar nicht vorrangig (oder es wird von den Macher:innen des Videos nur nicht gerne erwähnt?) die Funktion, Menschen zur (Lohn-)Arbeit zu zwingen. Dagegen, dass dieses „Motivationsproblem“ überhaupt bestünde, bringt Stefan für mich völlig einleuchtend an, dass es eine Motivation von Menschen gibt, etwas zu tun, das als Tätigkeit, durch den Nutzen der Ergebnisse des Tuns, durch das Stiften von Beziehungen Bedürfnisse befriedigt. Dass die Ergebnisse dieses Tuns in Art und Menge dem entsprechen, was gebraucht wird (hier geht es nicht nur um Dinge), erfordert Planung bzw. eine Form der Abstimmung, aber auch dies erfordert keine an einen Arbeitsplatz gebundenen Konsumrechte. Es geht hier ja um ein Informations- und nicht um ein Motivationsproblem. Dies scheint mir bei Christian Siefkes‘ Einwand durcheinanderzugehen.
Was aber, wenn es angesichts einer in hohem Maß zerstörten Welt, einem häufig brutal unterschätzten Zeitbedarf für Sorgearbeiten, der Notwendigkeit, manche Arbeiten wie in der Landwirtschaft weniger produktiv zu gestalten, auf ziemlich unabsehbare Zeit Knappheit in dem Sinn gibt, dass Menschen bei freier Wahlmöglichkeit mehr Ergebnisse gesellschaftlicher Arbeit nutzen wollen als sie bei freier – und uninformierter – Wahl in der Summe beitragen wollen? Hier geht es nicht um Motivation, sondern darum, dass es den Überfluss, den freies Geben und Nehmen unter einander Unbekannten voraussetzt, so nicht gibt.
Hier, in Marx‘ erster Phase des Kommunismus, ist eine Begrenzung der Entnahme durch ein individuelles Budget und Preise überhaupt keine absurde Lösung. Das müssen jedoch keine Löhne oder De-facto-Löhne wie in der DAZ sein, sondern ein Flatrate-Einkommen tut es auch, ohne Lohnarbeitszwang und mit der Möglichkeit, die Sphärentrennung aufzuheben, indem der individuelle Anteil am gesellschaftlichen Produkt (frei zugängliche Güter und Leistungen sowie in Haushalten und Gemeinschaften erstellte und genutzte Arbeitsergebnisse sind außen vor) für alle gleich festgelegt wird. Eine Arbeitszeitrechnung bräuchte es dann, um Preise zu bestimmen, die das einzelne Produkt zur gesellschaftlichen Arbeit ins Verhältnis setzen. Es gäbe jedoch keine Sphären unentlohnter und entlohnter Arbeit mehr; dies scheint mir auch zentral wichtig, um die scheinbare Nachrangigkeit und die ganz reale Benachteiligung und Vernachlässigung derer, für die Sorgebeziehungen einen großen Raum im Leben/ in der Lebensphase einnehmen, nicht weiter zu reproduzieren.
Die unterschiedlichen Zeitlogiken scheinen mir nicht das Problem zu sein. Es gibt nicht wenige Care-Bereiche, die als profitorientierte oder staatliche Lohnarbeit durchaus funktionieren. Bei der Sphärentrennung geht es vor allem um die Arbeiten, wo gegenwärtig (besonders im Kleinfamilien-Setting) Nahbeziehungen und Reproduktionsarbeiten vermengt sind, wo Arbeit und „Freizeit“ kaum abgrenzbar sind und alleine schon die permanente Anwesenheit reproduktionsnotwendig und insofern Arbeit ist, wo Menschen das Selbst oder Miteinander tun gar nicht (umfassend) abgeben wollen… Diese Arbeiten gemäß einem gesellschaftlichen Durchschnitt der Zeit, die die Betreuung des Opas dann auch nur erfordern sollte, zu erfassen, scheint mir wenig hilfreich. Ich sage damit nicht, dass es bestimmte, sozusagen heilige Aufgaben gebe, die nicht durch Bezahlung verschmutzt werden sollten. Das wäre Blödsinn. Die gesellschaftliche Tendenz sollte aber weg vom Arbeitslohn und nicht hin zu dessen Verallgemeinerung gehen!
Dass letztlich freies Geben und Nehmen das Ziel ist, darin stimme ich mit Stefan überein. Die lange Transformationsphase ist das Problem: Ist sie durch größere Bedeutung lokaler Gemeinschaften verkürzbar, wo Wege der Bedürfnisbefriedigung zwischen konkreten Personen verhandelt werden können? Können Commons-Netze doch eine Gesellschaft im Werden mit dieser Logik darstellen – was ist aber mit ihren Außenbeziehungen zur kapitalistischen Umwelt? Geht in einer revolutionären Situation alles plötzlich ganz schnell? Oder brauchen wir all dies plus demokratisierte öffentliche Bereiche und einen ständig wachsenden Anteil frei nutzbarer Produkte und trotzdem Übergangsformen, die in sich funktionieren müssen? Kurz: Können wir Marx‘ erste Phase des Kommunismus überspringen, ohne uns bereits miteinander – einschließlich hinreichend vieler jetziger Anhänger:innen von neoliberalem und völkisch-autoritärem Kapitalismus – entbürgerlicht zu haben?
Entschuldigt den Textwust. Er war nicht geplant…
@Matthias: Ich halte deine implizite Annahme, dass „Überfluss, den freies Geben und Nehmen unter einander Unbekannten voraussetzt“ nicht für gesetzt. Das gilt zwar vermutlich in Gesellschaften der Entfremdung (voreinander und von der Produktion zur Herstellung der Befriedigungsmittel), doch nicht notwendig in Gesellschaften, in denen wir kollektiv über die Produktion und die Gestaltung unserer Beziehungen verfügen können. Das ist meine These. Die lange für gegeben genommene Setzung „Kommunismus braucht Überfluss“ würde ich also als ideologische Figur ansehen und somit bestreiten.
Bei Flatrate-Einkommen sehe ich mein Argument (2) als zutreffend an: Es würde wahrscheinlich ein Schwarzmarkt entstehen.
Im Unterschied zu dir sehe ich die unterschiedlichen Zeitlogiken und damit Beziehungslogiken tatsächlich als zentral an. Könntest du Beispiele nennen, wo das im Care-Verwertungsbereich nach deiner Sicht kein Problem auftritt? Ein wenig klingt mir das bei dem Opa durch, beim dem es ja wirklich keinen Sinn ergibt, hier eine durchschnittlichen oder individuellen Zeitbedarf festlegen zu wollen. Ist es die Zeit, die ich „wirklich was tue“ oder auch jene, in der ich „einfach anwesend“ bin? Bei der Bezahlung geht es ja nicht um moralische Begriffe wie „Verschmutzung“, sondern dass unter Verwertungsgesichtspunkten die Zeit sofort zusammengestrichen wird, weil der Opa dem Wert nunmal scheissegal ist.
Ich stimme dir zu, dass die Transformationsphase, in der alte und neue Logiken miteinander ringen, das Problem ist. Dazu empfehle ich das bald erscheinende Buch „Alles für alle“ von Indigo Drau und Jonna Klick: https://schmetterling-verlag.de/page-5_isbn-3-89657-029-3.htm
Danke für die Antwort, Stefan! Wenn der Zusammenhang von Überfluss und freiem Geben und Nehmen mit irgendeiner Variante von „die menschliche Natur ist eben so“ begründet würde, wäre das sicherlich eine ideologische Figur, wie du schreibst. Auch hier glaube ich, dass das Problem in der Information liegt, nicht in der Handlungsmotivation: Es ist ja wichtig zu wissen, dass und wie (je) ich mich beschränken muss oder dass wir die Nutzung reorganisieren müssen, damit es für alle reicht. Das ist in einer Gemeinschaft, wo alle direkt miteinander kommunizieren und die konkreten Personen mit ihren Bedürfnissen bekannt sind, sicher möglich. Auch norm- und erfahrungsgestützte Routinen sind vielleicht denkbar (spricht teils für deinen Einwand). Aufgrund von umfassender Information die Verteilung zu regeln, wäre bereits wieder eine Form von Planung, die einen (Quasi-)Staat benötigt.
Ob ein Flatrate-Einkommen zu einem Schwarzmarkt führt – hier unterstellst du im Unterschied zum Punkt zuvor Menschen, denen in der Mehrheit inkludierendes Handeln sehr fern liegt, also (da es nicht um menschliche Natur geht) einen Punkt ziemlich zu Anfang einer Transformation. Dass eine Regelung der Verteilung über irgendeine Form von Budget nicht-inkludierendes Handeln verfestigt, finde ich vorstellbar, aber nicht zwingend. Wie verschiedene Ebenen der Veränderung ineinandergreifen können, finde ich total schwer zu denken; ich bin schon sehr gespannt auf das von dir genannte Buch. Danke für den Tipp.
Zu den Zeitlogiken: Ich habe überlesen, dass du zwischen „Arbeit“ und „Care“ trennst, was einen anderen Care-Begriff nahelegt als den, mit dem z.B. Donath, Himmelweit oder F. Haug arbeiten, die das Argument vom allgemeinen Dienstleistungsbereich (Baumol) auf die Care-Arbeit zugespitzt haben. Für Care-Arbeit allgemein hat die Zeitlogik mit Profitabilität und Lohnarbeits-Setting m.M.n. noch nichts zu tun: Profitorientierte ambulante Pflegedienste (60% der Versorgung) Pflegeheime (40%) oder Krankenhäuser (20%) existieren so wie private Beratungs- und Therapieangebote oder Bezahl-Kuschelevents. Lohnarbeit oder Kleinunternehmer*innentum ist hier flächendeckend. Für all diese Bereiche wird viel zu häufig und mit falschen Schlüssen das Argument in Anspruch genommen, dass die Bereiche wegen der Zeitlogik nicht als kapitalistische Lohnarbeit organisiert werden könnten (nicht: „sollten“). Hier führt es aber nur dazu, dass Krankenpflege relativ zum Fahrradbau teurer wird, weil die Arbeitsproduktivität langsamer steigt. Für den häuslichen Bereich stimme ich mit dir überein; das wollte ich im letzten Post auch ausdrücken: Hier ist aus den oben genannten Gründen vieles nur sehr teuer (das Hauspersonal der Adelsvilla) und/oder gar nicht schadlos als Lohnarbeit organisierbar. Deshalb hält sich die Sphärentrennung so hartnäckig. Vermutlich haben wir an diesem Punkt aneinander vorbei geschrieben.
@Stefan: Kein Problem, ich antworte auch spät. Ich hoffe du hast Covid gut überstanden!
Ich habe erneut in den „Grundprinzipien“ nachgelesen und muss in diesem Fall meine Meinung revidieren. Du hast recht! Im Hinterkopf hatte ich, dass Subventionen für Produkte in der DAZ möglich sind. Damit meine ich, dass ein Produkt durch den öffentlichen Sektor künstlich vergünstigt werden kann und somit das Äquivalenzprinzip, zumindest was den individuellen Konsum betrifft, aufgehoben wird. Falls das jedoch so wäre, würde dies ein Einfallstor für eine Preisbildung auf Grundlage des Werts schaffen. Deshalb hatte die GIK das nachvollziehbarerweise auch nicht im Sinn.
Weitere Kritikpunkte an deiner Zusammenfassung:
„Sie ersetzen das Geld, wobei jede Arbeitsstunde gleich zählt.„
Die Arbeitsscheine drücken in der DAZ ein anderes soziales Verhältnis aus als das Geld im Kapitalismus. Sie können weder akkumulieren, so wie das mit Geld möglich ist, noch zirkulieren. Sie besitzen weder den Charakter eines Wertausdrucks noch den eines Fetischs. In Abgrenzung zum kapitalistischen Tausch spricht die GIK von der „Weitergabe“ der Arbeitsscheine. Nach ihren Gebrauch werden die Arbeitsscheine vernichtet und verlieren ihre Gültigkeit.
Ein weiterer wichtiger Aspekt dabei ist, dass in einer Arbeitszeitökonomie der öffentliche Sektor so weit ausgedehnt werden kann, dass das Leistungsprinzip und damit auch die Arbeitsscheine nicht mehr Realität sind. Dies würde eintreten, wenn der FIK den Wert 0 erreicht. Deshalb ist deine Beschreibung „Geldersatz“ so nicht zutreffend.
„Diese zentrale Verwaltungsbehörde stimmt die Pläne aller Betriebe aufeinander ab.“
Die öffentliche Buchhaltung stimmt keine Pläne aufeinander ab.
„Die gesellschaftlichen Produktionsziele, nach denen sich die Behörde zu richten hat..“
Die Behörde richtet sich nicht nach gesellschaftlichen Produktionszielen.
Die öffentliche Buchhaltung hat zwei Hauptaufgaben: alle Wirtschaftsprozesse aufzeichnen und die Pläne der Betriebe auf Grundlage ihrer eigenen Planerfüllung genehmigen oder ablehnen.
Nehmen wir als Beispiel eine Bäckerei, die einmal pro Woche einen Produktionsplan über 1000 Brötchen bei der Buchhaltung einreicht. In den kommenden Wochen stellt sich jedoch heraus, dass nur 500 Brötchen der Bäckerei tatsächlich konsumiert wurden. Falls die Bäckerei ihren Plan nicht selbst an die tatsächliche Nachfrage anpasst, übernimmt dies die Buchhaltung. In diesem Fall wird dann nur ein Plan für 500 Brötchen genehmigt.
Zusammenfassend ist das entscheidende Kriterium für die Plangenehmigung, ob die angebotenen Produkte tatsächlich konsumiert werden. Dies erlaubt auch die Produktion von ausgefallenen Kunst- oder Nischenprodukten. Anders als in der UdSSR gibt es also keine den Betrieben übergeordnete Behörde, wie beispielsweise die Staatsplankommission, die den Betrieben vorschreibt, was und wie sie zu planen haben.
@Matthias: Im ersten Absatz formulierst du die These, dass nur in interpersonalen Beziehungen genug Informationen vorhanden sind, um zum Beispiel Beschränkungen zu organisieren. Dieser Text versucht zu zeigen, dass dies auch transpersonal geht: https://keimform.de/2023/verteilte-commonistische-planung/ – ohne in einen Planstaat zu fallen oder Geld einzuführen.
Danke zur Klarstellung in Bezug auf die Zeitlogiken, da stimmen wir, glaube ich, ziemlich überein.
@Irina: Es stimmt, dass die Bezeichnung „Geldersatz“ zu einfach ist, denn der Ersatz bezieht sich nur auf die Verteilung. Zirkulation und Kapitalfunktionen stecken nicht in den Arbeitsscheinen. Wenn alles öffentlicher Sektor wäre, kann bräuchte es in der Tat keine Arbeitsscheine. Warum dann nicht gleich so?
Völlig unklar ist mir nach deinen Ausführungen, wie die gesellschaftliche Koordination der tätigkeitsteiligen Produktion geschehen soll. Die Bäckerei ist ein zu simples Beispiel, weil die Endkonsumprodukte herstellt. Was ist aber bei, sagen wir, eintausend Betrieben, die tätigkeitsteilig ein Produkt herstellen? Diese Betriebe müssen unhintergehbar ihre In- und Outputs koordinieren – entweder selbst oder durch Dritte (z.B. eine Planbehörde). Ich habe es so verstanden, das diese Rolle – die der gesamtgesellschaftlichen Koordination – der zentralen Verwaltungsbehörde zukommt. Und ich meine das auch irgendwo gelesen zu haben (sorry, finde ich grad nicht). Diese Behörde muss gleichzeitig die In- und Outputs der Betriebe so genehmigen, dass diese ohne Überfluss oder Mangel die richtigen Mengen produzieren. Das können die Betriebe nicht für sich, wenn sie voneinander getrennt sind. Wie das dennoch ohne Planbehörde gehen kann, beschreiben wir hier https://keimform.de/2023/verteilte-commonistische-planung/
Dass sich die Verwaltungsbehörde nicht nach demokratisch festgelegten Produktionszielen richten muss, kann ich nicht glauben. Auch diese Aussage meine ich irgendwo gelesen zu haben. Alles andere würde aus meiner Sicht auch (modellimmanent gedacht) keinen Sinn ergeben.
Danke für eure geduldigen Argumentationen, Matthias und Irina 🙂
@Stefan: Möglicherweise ist es sinnvoll, sich näher am Text der Grundprinzpien zu orientieren, auf den du dich beziehst. Meine nachfolgenden Zitate beziehen sich auf die 2. Auflage der „Grundprinzipien“ (2020), die man übrigens kostenlos downloaden kann: http://tinyurl.com/ywcsbzzq
„Es stimmt, dass die Bezeichnung „Geldersatz“ zu einfach ist, denn der Ersatz bezieht sich nur auf die Verteilung. Zirkulation und Kapitalfunktionen stecken nicht in den Arbeitsscheinen. Wenn alles öffentlicher Sektor wäre, kann bräuchte es in der Tat keine Arbeitsscheine. Warum dann nicht gleich so?“
Ich denke, es gibt einige gute Gründe, die für die Arbeitsscheine sprechen. Neben ökonomischer Regulierung ermöglichen sie Transparenz und Fairness. Sie adressieren beispielsweise das Problem, dass Frauen strukturell benachteiligt sind, die unbezahlte Emo- und Carearbeit leisten, machen also diese Arbeit erst sichtbar und als gesellschaftliche Arbeit fassbar.
Arbeitsscheine ermöglichen auch, dass Menschen schrittweise (das finde ich sehr wichtig) solidarische Beziehungen erlernen und gestalten können. Ich denke, neue soziale Beziehungen aufzubauen ist ein langer Transformationsprozess und geht nicht von heute auf morgen, setzt aber eine gesellschaftlichen Maßstab voraus, der verallgemeinerbar und materialistisch verankert ist. Ich mache irgendwas und bekomme dafür diesen Schein, ist für die meisten Menschen einfach gut verständlich.
„Völlig unklar ist mir nach deinen Ausführungen, wie die gesellschaftliche Koordination der tätigkeitsteiligen Produktion geschehen soll.“
Die GIK schreibt zur Koordination der Produktion:
Anstelle der reguliernden Funktionen des Geldes tritt die Registrierung des Güterstroms, die gesellschaftliche Buchführung, auf der Grundlage der gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit und damit auf der Grundlage der gesellschaftlich durchschnittlichen Produktionszeit, die im genossenschaftlichen Zusammenhang von Produzenten und Konsumenten durchgeführt wird. Der Markt, der für Kapitalisten ein Maß der Bedürfnisse ist, wird vollständig abgeschafft – er wird durch die direkte Verbindung zwischen Verbraucherorganisationen und Produktion aufgehoben. (S.120)
Weiter geht’s:
Die Bedürfnisse sind daher die treibende Kraft und die Richtlinie der kommunistischen Produktion. (..) Deshalb erfordert die Vereinigung freier und gleicher Produzenten auch die Vereinigung freier und gleicher Verbraucher. So wie die Produktion kollektiv von den Betriebsorganisationen durchgeführt wird, so wird auch die Distribution gemeinsam durch alle Arten von Kooperativen durchgeführt. In diesen Kooperativen werden die individuellen Wünsche der Verbraucher gemeinsam zum Ausdruck gebracht. (..) die Kooperativen direkt mit den Betrieben verbunden sind, werden die Bedürfnisse, wie sie sich in den Kooperativen zeigen, direkt auf die Produktion übertragen. (S.233/234)
„Das können die Betriebe nicht für sich, wenn sie voneinander getrennt sind. „
Die Betriebe sind nicht voneinander getrennt – sie sind verbunden durch gemeinsame ökonomische Prinzipien: eine gemeinsame Produktionsformel (S.123) und die gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitsstunde (S.134). Diese Weichenstellungen sichern Produktion sowie Reproduktion der Ökonomie und sind Voraussetzung für einen „Durschnittspreis“ für ähnliche Produkte, der die Konkurrenz zwischen den Betrieben verunmöglicht.
Für die Betriebe wäre es unter den genannten Voraussetzungen sinnvoll, sich politisch zu assoziieren, zu Kooperationen und Branchenverbänden zu vernetzen. Die GIK schreibt:
Im Kommunismus sind Betrieborganisationen gleichwertige Teile eines geschlossenen Ganzen, des gesamte Produktions- und Verteilungsprozesses. Jede Betriebsorganisation übt nur eine Teiltätigkeit aus, indem sie ihr Produkt an die andere weitergibt, bis es für den Konsum geeignet ist. (S.115)
„Dass sich die Verwaltungsbehörde nicht nach demokratisch festgelegten Produktionszielen richten muss, kann ich nicht glauben. Auch diese Aussage meine ich irgendwo gelesen zu haben. Alles andere würde aus meiner Sicht auch (modellimmanent gedacht) keinen Sinn ergeben.“
Zur gesellschaftlichen Buchhaltung:
Diese Buchhaltung ist Buchhaltung im wahren Sinne des Wortes, sie ist nicht mehr als Buchhaltung. (..) diese ökonomische Zentrale hat nicht die Führung, nicht die Verwaltung und auch nicht die Verfügungsmacht über die Produktion und Verteilung. Die Betriebsorganisation der allgemein gesellschaftlichen Buchhaltung hat nur in einem Betrieb etwas zu sagen, in ihrem eigenen. (S.212)
Utopia ist machbar
Gerne mische ich mich in die hiesige Diskussion ein, weil es ja auch das Thema meines Buches „Utopia ist machbar“ betrifft. Die Abschaffung des Geldes auf Umstellung auf Arbeitszeitberechnung stimme ich voll und ganz zu. „Haste was biste was“ sagt Volkes Stimme und Ton, Steine, Scherben haben mit Recht gesungen „wer das Geld hat, hat die Macht und wer die Macht hat, hat das Recht“ Das Geld macht die soziale Gliederung, das oben und unten, die Hierarchisierung der Gesellschaft. Und deswegen ist die Umstellung der Ökonomie auf Zeitstunden nicht einfach nur wie Äpfel mit Birnen austauschen, sondern wie Irina auch richtig bemerkte auch kein Geldersatz. Der Anreiz Zeitmillionär zu werden, wird sich – gelinde gesagt – sehr in Grenzen halten. Dafür wird es aber keine Minderwertigkeitskomplexe mehr geben, dass meine Arbeit weniger wert ist als deine, wenn jede Stunde gleich zählt, egal ob ich den Park saubermache und du eine Herzoperation machst. Aber jetzt kommt der Unterschied, den ich zu Kommunisten und der IDA habe. Beide sehen die Arbeitszeitberechnung und die entsprechenden Zertifikate, die mensch durch seine Tätigkeit erwirbt als Zugang für den individuellen Konsum (abzüglich dem, womit heute unsere Steuergelder verwendet werden). Bei meinem Utopia-Modell dient die Arbeitszeitberechnung ausschließlich zum Ermitteln der Deckung der Grundbedürfnisse; also wieviel Arbeitsstunden sind notwendig, dass für (mal nur auf Deutschland bezogen) 80 Mio Menschen, genug zu Essen, Kleidung, Dach über den Kopf, medizinische Versorgung, Mobilität, Bildung, Kommunikation, Kultur haben, die Parks und Straßen sauber sind, der Müll entsorgt wird und die Energieversorgung gesichert ist (Dazu empfehle ich die 5-Stunden-Woche von Darwin Dante zu lesen) Und egal, ob das 5 oder mehr Stunden die Woche sind….das ist dann die Mindestarbeitszeit,(bei mir mit MAZ abgekürzt,) die alle machen müssen, damit die obige Versorgung gesichert ist. Ja, müssen. Oh gottogott, das ist ja Zwang. Richtig, der Volksmund sagt aber dazu „ von nüscht, kommt nüschts“ oder wie das Christian ausgedrückt hat „die Tatsache, dass alle gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten eben erbracht werden müssen, besteht natürlich fort“. Grundbedürfnisse heißt natürlich auch, dass ein Telefon oder PC konstruiert werden muss, den ein blinder, taubstummer oder sonstwie eingeschränkter Mensch genauso benutzen kann wie wir, obwohl so eine Sonderproduktion nach heutigen Verwertungslogiken unrentabel wäre; gleiches gilt natürlich nicht nur für das Grundbedürfnis der Kommunikationsmöglichkeiten sondern auch für Mobilität. Leave no one behind oder die inclusive Gesellschaft – soweit so gut…. und so einig sind wir uns hier alle in diesem Punkt. Aber was ist jetzt eigentlich mit Wodka, Haschisch, der schiefen Nase oder @Christian wenn eine Minderheit die Produktion von Sextoys fordert. Wo hören denn die Grundbedürfnisse auf und wer bestimmt das? Dazu muss ich – für alle, die mein Buch nicht kennen – ein bisschen ausholen, gehe aber dabei auch gleich auf die hier geführte Diskussion über (zentrale) Planung und die Care-Arbeit ein.
In Utopia gibt es keine übergeordnete Instanz, kein Staat oder ähnliches. Alle Bürgerinnen stimmen per Mausklick über alles ab, was sie betreffen. Von daher gibt es auch immer eine Abstimmung ob oder welche der oben genannten Dinge zu den Grundbedürfnissen dazu gehören. Regelmäßig geben auch alle Bürgerinnen ihren Konsum ein (also wieviel Brot, Bier, Energie etc. brauche ich für die nächste Woche und was will ich an Tätigkeiten wieviel Stunden zu welchen Zeiten der Gemeinschaft zur Verfügung stellen.) Also die alte Losung realisieren: „Jeder nach seinen/ihren Fähigkeiten, jeder nach seinen/ihren Bedürfnissen.“ Und bei den heutigen digitalen Möglichkeiten rechnet der Computer „just in time“ sofort aus, um wieviel die MAZ jedes/r Einzelnen sich erhöhen würde, wenn Sextoys, Schönheitsoperationen, Wodka oder Hasch zu den Grundbedürfnissen gehören würden. Nun kann ja passieren, dass die Wodka- Sextoys- oder sonstige Fraktion überstimmt wird und eine Mehrheit nicht will, dass das zu den Grundbedürfnissen gehört. Was jetzt? Dazu gibt es in Utopia eine 2. Ökonomie: Die PAZ = private Arbeitszeit. Alle Waren und Dienstleistungen in Utopia sind gekennzeichnet mit 2 Labeln: 1. Mit GAZ (gemeinnützige Arbeitszeit oder PAZ(private Arbeitszeit) und 2. Der Ökofaktor (dazu später). Das heißt, wenn ich jetzt den Wodka will, wo 8 PAZ drauf steht, muß ich entweder mit 8 PAZ „bezahlen“ oder ich habe über meine Mindestarbeitszeit hinaus soviele GAZ-Stunden angesammelt, die ich in PAZ transferieren kann. Es geht aber nicht, dass ich PAZ, also eine Arbeit, die nicht der Allgemeinheit nutzt, in die GAZ umwandeln kann und damit mich dem Mitarbeiten am Gemeinwohl entziehen kann. Ich höre jetzt Stefan schon wieder stöhnen, dass ist ja wieder wie in der DDR, dass alle bei der GAZ solange schlafen oder klönen, bis sie ihre MAZ-Stunden voll haben, um dann in der Freizeit richtig loszulegen für ihre individuellen Bedürfnisse, die nicht unter die Grundbedürfnisse fallen. Dazu sind 2 Sachen zu sagen: a) eine freie Wahl des Arbeitsplatzes gab es auch in der DDR nicht, denn die war teilweise von Parteizugehörigkeit oder sonstwie opportunen Verhalten abhängig. b) wenn Du in Utopia die Arbeit, die dir Spaß macht, selbst aussuchen kannst und auch noch den entsprechenden Zeitrahmen… warum solltest du dann die Zeit nur rumhängen/absitzen/schlafen? Wenn du es trotzdem aus mir erstmal nicht nachvollziehbaren Gründen tust, wird der Plan nicht eingehalten, der Park als Beispiel wird nicht so sauber wie es bei der ersten Berechnung mit 40 h geplant war. Das wird in den Computer eingespeist und der rechnet jetzt für die nächste Planung mit 50 h und dass sich dadurch die Mindestarbeitszeit jetzt für alle um 1 min?,10 min ? (Mathefreaks nach vorne) erhöht.
Jetzt zum Ökofaktor. 2016 hatte ich das mit ökologischem Fußabdruck und Umwelt noch nicht so auf dem Schirm und steht auch deshalb nicht im Utopia – Buch bzw. auf der Website. Aber ich stelle mir das jetzt so vor, dass in Utopia alle Waren und Dienstleistungen mit einem Ökowert ausgezeichnet werden. Kann ja wahrscheinlich sogar jeder Taschenrechner, also wieviel Ökoquerell (?) kann jeder/jede von den 8 Milliarden Menschen verbrauchen, dass das ökologische Gleichgewicht erreicht bzw. gehalten werden kann, die sogenannte Weltuhr immer auf 31.12. bleibt? Und mit diesem Betrag, der für alle gleich ist (eventuell ist eine Aufsplitterung nach Klimazonen sinnvoll, denn wenn ich am Nordpol wohne, verbrauche ich sicher für Heizung und warme Kleidung mehr Energie als wenn ich am Äquator wohne) kann ich machen, was ich will, also z.B. 1 Stunde mit dem Motorrad über die Autobahn preschen und dafür als ökologischen Ausgleich 1 Woche nur Brot und Kartoffeln esse oder nicht heize. Und damit komme ich jetzt zum Guthaben/Einkommen. Jeder Utopianerin kriegt automatisch ein monatliches (?) Guthaben von Ökoquerells (oder wie wir diese Maßeinheit nennen), was für alle gleich ist und immer der Weltzeituhr angepasst wird. Dies wir auf seiner/ihrer PIK (Persönliche Identifikationskarte) genauso registriert wie die Arbeitsstunden. Und wieder höre ich den Aufschrei „Big Brother is watching you -Überwachung!“. Aber haben wir das nicht schon heute so – mit dem Unterschied, dass wir nicht wissen, wer welche Daten von uns hat und was er/sie/Firma damit macht? Und wenn alle immer alle Daten von allen sehen können -wie es in Utopia der Fall ist – verliert dann nicht Überwachung seinen negativen Beigeschmack? Und die ganzen Daten dienen zugegebener Maße auch nicht nur der Planung und Lenkung sondern auch der Kontrolle. Denn es gibt ja in Utopia keine Polizei, Justiz oder ähnliche Sanktionssysteme. Das Einzige, um ein bisschen zu gewährleisten, dass alle ihren Beitrag zum Funktionieren des gesamten Gemeinwesens beitragen, ist das „social shaming“ (danke Simon, den Begriff habe ich ja erst von Dir in Leipzig gelernt)
Und jetzt zur Care-Arbeit. Ist für mich ein schwieriges Thema, weil ich weiß, dass ich schon durch mein Buch „Die Kinderfalle“ (geht um Adultismus) vollen Gegenwind erfahren habe. Denn eine zentrale These war ja, dass wir Kindererziehung wie eine „gute“ kapitalistische Firma betreiben: Profite privatisieren, Kosten sozialisieren! Von daher fange ich es anders an. In Utopia wird jede Gemeinde ein Gesundheitszentrum haben und Normas (Lebensmittelläden, wo sich jede*r mit seiner/ihrer PIK holt, was er/sie braucht). Daran angeschlossen sind Küfas und Kitas, die rund um die Uhr geöffnet haben; desgleichen so eine Art Herberge für Jugendliche, die nicht zu Hause wohnen wollen oder Alte und Gebrechliche die häusliche Unterstützung brauchen. Vor diesem Hintergrund würde ich sagen, dass in Utopia alle Beziehungs- Carearbeit, wo es um die eigenen Angehörigen geht, reine Privatsache ist und keine GAZ. Schließlich ist dann ja auch bei einer 5-Stunden-Woche (GAZ) viel mehr Zeit übrig als heute. Ansonsten wüsste ich nicht, wie das anders abgegrenzt werden sollte, also warum dann meine Freundin zu massieren nicht genauso Care-Arbeit ist, wie für die Kinder zu kochen oder mit denen zu spielen oder dem Opa auf die Toilette zu helfen.
@Irina (29.1.24): Arbeitsscheine reproduzieren die Tauschlogik, also das, was die Menschen in der Exklusionslogik des Kapitalismus gelernt haben: Ich bekomme nur was, wenn ich etwas leiste. Sie reproduzieren die Trennung der Menschen voneinander, keineswegs sind sie fair. Und sie werden Schattenmärkte hervorrufen, weil eben einige Funktionen des Geldes beschnitten sind, die sich aber dennoch anders Geltung verschaffen werden (zum Beispiel ihre Akkumulationsfunktion). Sie sind halt keine volle, aber doch kapitalistische Logik.
Mit dem GIK-Zitat über die „Registrierung des Güterstroms, die gesellschaftliche Buchführung, auf der Grundlage der gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit“ wird (a) belegt, was ich eingangs schrieb, du aber bestritten hast; (b) hat die „Registrierung“ logisch einen Zweck, der kein anderer sein kann, als die Produktion gesellschaftlich zu koordinieren, was aber bedeuten muss, dass sich die Betriebe auch danach richten. Das IST die Funktion einer gesellschaftlichen Planung. Du hast dem zwar widersprochen, aber es geht logisch in dem Modell nicht anders. Nur schweigen sich GIK und DAZ darüber wohl aus (ich hab nicht alles gelesen), weil die Konsequenz unangenehm ist: Die Behörde muss ihre Koordination (aka Pläne) auch durchsetzen und zwar im Zweifelsfall gegen die Betriebe. – Wenn ich hier falsch liegen sollte, dann erkläre bitte wie es (modellimmanent) anders gehen soll. Deine Erklärung über die „Produktionsformel“ und die „durchschnittliche Arbeitsstunde“ sagt hier nichts, beides schafft keine Koordination und Planung, beides sind nur Mittel dafür.
Die Beschreibung der GIK ist leider schlechter Utopismus: Es geht nicht auf. Einfach zu schreiben: „Soundso läuft das… (nicht)“ klappt halt nicht. Etwa das Zitat zur Buchhaltung: Es verschleiert einfach die logischen Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Abstimmung der Produktionsqualitäten und -quantitäten. Wozu überhaupt eine gesellschaftliche Buchhaltung, wenn sie nicht zur gesellschaftlichen Koordination/Planung genutzt wird? Der letzte Satz ist echt die Krönung der Verschleierung: „Die Betriebsorganisation der allgemein gesellschaftlichen Buchhaltung hat nur in einem Betrieb etwas zu sagen, in ihrem eigenen.“ Das heißt faktisch, die lokale Betriebsorganisation muss die der gesellschaftlichen Buchhaltung gemäßen Ziele, die sich aus der betriebsübergreifenden Koordination ergeben, durchsetzen. Das ist Wunschdenken.
@Lucki: Ob du die Rechnungseinheiten Geld nennst, ist nicht entscheidend. Wissenschaftlich wird hier der Begriff „unit of account“ (UOA) verwendet. Die UOA kann volles kapitalistisches Geld sein, muss aber nicht, siehe GIK. Entscheidend ist, ob du eine UOA zur gesellschaftlichen Koordination verwendest (bei der GIK und bei dir) oder ob eine Vermittlung über die stofflichen Größen machst („in-kind“). Wenn du eine UOA verwendest, dann musst du alles darin ausdrücken. Auch Care, Ameisen, Pilzmyzele, Taschentücher. Dann erzeugst du automatisch Externalitäten, weil du nicht sagen kannst, was Ameisen wert sind. Oder was ein tröstender Zuspruch für ein Kind wert ist. Dann wird auch die Sphärenspaltung aufrechterhalten – bei dir ist Care von Angehörigen ja eh „Privatsache“ – was bedeutet, dass es an den Frauen hängenbleibt.
Zum Thema gesellschaftlicher Notwendigkeiten habe ich in meiner Antwort auf Christian am 31.12.24 geschrieben. Ja, individueller Zwang ist nicht nur Scheisse, sondern zerstört auch die Motivation.
Die 5-Std-Woche von Dante ist total veraltet, und wie so viele Ansätze hat sie nur den Produktionsbereich im Blick. Keine Rede von Klimakatastrophe (konnte Dante noch nicht einpreisen, weil eben schon lange her). Ohne Fossilenergie und Ausbeutung des globalen Südens (Jeder von uns hält 60 Sklaven) ist eher fraglich, ob 40 Stunden reichen.
Deine Abstimmung per Mausklick und Eingabe des Konsums wurde von Daniel Saros ausbuchstabiert. Neben der Tatsache, dass das nicht alle können, ist es eine Verdopplung der Informationsmenge: Warum muss ich vorher sagen, was ich will? Was ist, wenn ich spontan was anderes will? Über den Verbrauch ist doch eh bekannt, was gewollt wird, gerade, wenn es um die sog. Grundgüter geht.
Ja, ich stöhne, das klingt in vielem nach DDR. Deine beiden Antworten, die eigentlich nur eine ist (freie Arbeitsplatzwahl), schaffen den Arbeitszwang nicht aus der Welt. Zwang zerstört nicht nur tendenziell die Motivation, sondern wird exakt zu dem führen, was du beschreibst: Zwangs-GAZ absitzen, um dann für das private PAZ-Guthaben zu sorgen. Und wenn du die Bummelei dann noch auf die Allgemeinheit abwälzt, dann ist das doch ein selbstverstärkender Effekt: „Ich sehe gar nicht ein, für die Faulen mitzumalochen“.
-Wenn du eine UOA verwendest, dann musst du alles darin ausdrücken. Auch Care, Ameisen, Pilzmyzele, Taschentücher. Dann erzeugst du automatisch Externalitäten, weil du nicht sagen kannst, was Ameisen wert sind. Oder was ein tröstender Zuspruch für ein Kind wert ist. – Verstehe ich nicht. Der Wert ist doch in der Sache selbst; dass die Sachen gebraucht werden. Wichtiger ist doch herauszukriegen/berechnen z.B. wieviel Ameisen stellt wer für Forschung oder Delikatesse(?) zur Verfügung, oder wer hat Zeit, Empathie und Qualifikation, um das Kind zu trösten?
– -bei dir ist Care von Angehörigen ja eh „Privatsache“ – was bedeutet, dass es an den Frauen hängenbleibt. – Warum bleibt das in meiner Vision einer besseren Gesellschaft an den Frauen hängen und in der Commonsgesellschaft ja wohl nicht? Ich habe nirgendwo den Care-Bereich vernachlässigt und schon garnicht den Frauen wieder zugeschoben. Ich habe lediglich, meine Schwierigkeit ausgedrückt, dass ich nicht weiß, was alles dazu gehört und habe deshalb eine Spaltung in öffentlichen und privaten Care gemacht. Und natürlich kannst du sagen, in einer perfekten Gesellschaft ist diese Spaltung in privat und öffentlich aufgehoben; es gibt keine Seniorenheime, Kindergärten, Schulen etc. mehr weil die sozialen Beziehungen so dicht sind, dass kein Mensch unversorgt bleibt. Nur vor diesem Hintergrund meine ich, dass es für mich erstmal einen Unterschied macht, ob ich z.B. meinem bettlägerigen Vater zuhause oder im Seniorenheim allen Menschen den Arsch abwische oder meine Freundin massiere oder im Gesundheitszentrum einen Massagekurs anbiete.
– Ja, individueller Zwang ist nicht nur Scheisse, sondern zerstört auch die Motivation. Oder aus dem Papier Verteilte commonistische Planung: Nur eine auf radikaler Freiheit basierende Gesellschaft ist in der Lage, Kooperation zu maximieren und so Sicherheit und langfristige Stabilität für alle hervorzubringen. – Das klingt erst mal sehr gut. Du schreibst aber am 31.12. zu Christian ….. „was sie dann aber auch tun müssen“. Das ist dann aber auf einmal kein Zwang mehr, sondern du sprichst im Folgenden dann nur noch von gesellschaftlichen Notwendigkeiten, die aber nicht zu individuellen Notwendigkeiten werden müssen. Meine nach Art, Dauer und Zeitpunkt frei gewählte „Arbeit“ in Utopia (kannst du auch Tätigkeit nennen) ist aber Zwang – Entschuldigung – „Demokratischer Arbeitszwang“. – Nun gut, soweit, so geschickt.
– 5 Stunden Woche/60 Sklaven. – Gehst Du bei deiner Beschreibung von den Commons* nur auf Deutschland bezogen aus oder ist dieses Prinzip auf die ganze Welt bezogen? Ich frage deshalb so (rhetorisch), weil mein Utopia-Version sich natürlich auch auf eine globalisierte Welt bezieht, wo es keine Sklaven-Wirtschaft oder auszubeutende Länder mehr gibt… von daher werte ich diesen Teil deines Beitrags – fußballerisch gesprochen – als Foul.
– Über den Verbrauch ist doch eh bekannt, was gewollt wird, gerade, wenn es um die sog. Grundgüter geht. Na, wenn die Grundbedürfnisse und deren Mittel zur Befriedigung von 8 Milliarden Menschen bekannt sind, dann ziehe ich meinen Versuch mit Hilfe der Arbeitszeitrechnung dies zu verwirklichen ersatzlos zurück und werde nie wieder von Mindestarbeitszeit (MAZ) und Gemeinnützige Arbeitszeit (GAZ) und private Arbeitszeit (PAG) reden/schreiben. – Ich verstehe dann nur nicht, warum Du ausführlich über Planung im Commonismus schreibst.
– Ja, ich stöhne, das klingt in vielem nach DDR. – Also, wenn alle Grundbedürfnisse gedeckt sind und die Menschen sich die „Arbeit“ selbst total umfänglich aussuchen können und sie überall mitentscheiden können (in Utopia hat natürlich jede/r einen Computer – Grundbedürfnis von Wissen und Kommunikation – dass doppelte Informationsflut ein Problem werden kann, wußte ich bisher nicht), weiss ich 1. nicht, warum bei mir alle rumsitzen sollten und 2. was das noch mit der DDR zu tun hat. By the way: Bei mir sitzen alle trotz frei gewählter Tätigkeit nur faul rum und lassen die anderen für sich arbeiten. Im Commonismus machen ( fast) alle mit. Warum haben in deinem System die Menschen eine ganz andere Motivation/Bewußtsein als in meinem? – Ist das nicht ein weiteres Foul?
Beim Durchlesen meines Beitrages musste ich gerade leider feststellen, dass ich reingefallen bin, bzw. mich selbst reingelegt habe: Und damit komme ich jetzt weg von Dir persönlich Stefan, sondern zu Keimform im Allgemeinen.
Ich habe oft den Eindruck, hier schlagen sich alle Beteiligten ihre akademischen Ergüsse um die Ohren. (mit dem Subtext, „ich weiß es besser, habe mehr gelesen als Du“). Nun ist das in dieser Gesellschaft für mich erstmal nicht weiter überraschend. Überraschend ist für mich, dass ich die Keimform- Gruppe sehr homogen empfinde: Wir wollen alle, Markt, Profit, Wachstumszwang, Konkurrenz, Exclusion, Konsumterror, Leistungsdruck, Hierarchie und den Staat abschaffen, egal welche Begriffe (Anarchismus, Commons, Utopia, Gemeinwohl etc.) wir dafür benutzen. Wir träumen alle hier von einer Gesellschaft von Kooperation, und Inclusion, wo sich alle Individuen frei und optimal entwickeln können in Frieden mit viel Spaß und Freude am Leben; das Ganze natürlich weltweit und mit Rücksicht auf die Umwelt und den nachfolgenden Generationen. Und da frage ich mich doch wirklich, warum wir uns hier so im Kleinklein von Begriffen und Nebensächlichkeiten streiten? Sollten wir uns nicht lieber gemeinsam fragen, warum wir – die wir doch so tolle Ideen für die gesamte Menschheit haben – eigentlich so gut wie keinen „normalen“ Menschen damit erreichen? Oder ist das gar nicht bezweckt?
*Ich beziehe mich damit auf das Papier „Verteilte commonistische Planung“ wohlwissend, dass es von Dir und Simon ist, auch wenn ich immer „Du“ statt „Ihr“ schreibe.
@Lucki: Da stimme ich dir zu und habe auch den Eindruck, dass man am Beispiel von Stefans Text „Demokratischer Arbeitszwang“ sehen kann, dass keine Gemeinsamkeiten gesucht werden oder man konstruktiv miteinander sprechen möchte, sondern einfach nur auf das einhaut, was man sowieso beschlossen hat, doof zu finden.
Grundsätzlich spiegelt die Debatte auch die Kernfrage wider, ob man für eine Transformation zu einer postkapitalistischen Gesellschaft eine „universal unit of account“ (allgemeine Recheneinheit) benötigt. Meiner Meinung nach wird es ohne nicht funktionieren.
@Stefan: Du schreibst, Arbeitsscheine bringen eine Tausch- und Exklusionslogik hervor und haben eine Akkumulationsfunktion.
Das hört sich zugegebenermaßen dramatisch an. Bei genauem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass kein Mensch zwangsläufig aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen wird. Wenn ich keinen Bock habe zu arbeiten, aber gearbeitet werden muss, finde ich es durchaus fair, wenn ich dann weniger konsumieren kann. Ich könnte das ja jederzeit ändern und tätig werden.
Bei der Akkumulation von Arbeitsscheinen fragt sich auch, wer hier was akkumulieren soll? Produktionsmittel kann man von Arbeitsscheinen bekanntlich nicht kaufen. Jeder Mensch hat sowieso nur eine begrenzte Lebenszeit zur Verfügung. Und wenn der FIK beispielsweise 0,25 ist, ich also für 4 geleistete Arbeitsstunden einen Arbeitsschein zurückbekomme und der Rest dem öffentlichen Sektor zufließt, frage ich mich, wo hier eigentlich das Problem ist? Was wäre denn der gesellschaftliche Charakter dieser Anhäufung?
Zum Thema Schattenmärkte bin ich einigermaßen ratlos, wie du auf so etwas schließt. Diese Schlussfolgerung lässt sich aus dem Konzept der demokratischen Arbeitszeitrechnung nicht ableiten. Praxiserfahrungen gibt es nicht, und in der Theorie liegt es nahe, dass die Menschen, wenn sie der Produktion nicht als äußere, ausgebeutete und entfremdete Anhängsel fungieren, durchaus einen eigenen Antrieb haben, sich einzubringen und die Produktion den tatsächlkichen Bedürfnissen anzupassen.
Die Aussage, die GIK würde hier bewusst verschleiern, dass die gesellschaftliche Buchhaltung eigentlich eine zentralistische politische Gewalt ist, ist schon eine starke Unterstellung. Auf über dreihundert Seiten der „Grundprinzipien“ findet sich nichts, das nahelegt, dass die gesellschaftliche Buchhaltung irgendetwas koordinieren oder durchsetzen müsste. Das widerspricht auf diametrale Weise dem Konzept des Buches, das ja aus den Fehlern zentralistischer Planung in der Sowjetunion lernen wollte. Also ich kann nachvollziehen, dass das Buch die politischen Strukturen der Gesellschaft nicht bearbeitet. Das wäre auch eine gute Kritik an den „Grundprinzipien“, und da muss dann entsprechend noch konzeptionelle Arbeit geleistet werden. Jedoch fällt es mir schwer zu verstehen, warum dir die Vorstellung so schwerfällt, dass kooperierende Betriebe und Betriebsverbände sich absprechen können? Als wären Menschen nicht in der Lage, sich zusammenzusetzen, um sinnvoll auch tätigkeitsteilige Produkte zu erstellen.
Ich habe insgesamt den Eindruck, deine Kritik an der demokratischen Arbeitszeitrechnung sagt mehr über dich aus als über das eigentliche Konzept, und das finde ich sehr schade.
@Lucki (28.2.24): Ich setze mal die von dir zitierten Passagen meines Textes in Anführungsstriche, um sie unterscheiden zu können. Deine Entgegnung folgt dann mit einem „–“. Und meine wiederum mit einem Absatz.
Nein, nicht dass die Sachen gebraucht werden, macht ihren Wert aus (das wäre der Gebrauchswert), sondern dass sie hergestellt werden. Willst du eine Koordination von Herstellung und Verteilung mittels UOA, so musst du (sofern du einen Gerechtigkeitsanspruch hast) alles einbeziehen, was aber nicht geht, s.o.
Zunächst: Garantien gibt es nicht. Dennoch gibt es Nahelegungen. In deiner Vision ist es naheliegend, ja von dir ausgesprochen, dass es unterschiedliche Sphären gibt, die unterschiedlich funktionieren: eine nach UOA und eine nach „wer sich zuerst aufgefordert sieht, die macht’s“, also meistens Frauen, weil sie das mehrheitlich so gelernt haben. Ich meine nicht, dass du das willst, aber du verkennst die Dynamik einer abgespaltenen Privat-Sphäre mit Eigenlogik, das ist meine Befürchtung. UOA ist Macht, Arsch abwischen nicht. Daraus schließe ich: Alle notwendigen Tätigkeiten müssen gesellschaftlich gleichermaßen anerkannt werden, und das werden sie nur, wenn sie der gleichen Weise koordiniert, also als notwendig (an-)gesehen werden.
Nein, privat und öffentlich müssen nicht aufgehoben werden, vielleicht werden sie umgewandelt in einen interpersonalen Raum (dort kenne ich die Leute) und einen transpersonalen Raum (dort koordiniere ich mich mit anonymen Anderen). Bestimmte Formen wie die Kleinfamilie werden sich vielleicht auflösen, das wissen wir nicht. Und warum soll es keine gesellschaftlichen Einrichtungen geben, die allgemein da sind, also auch für mich? Ja, es sollte keinen Unterschied machen, wo du welche Tätigkeit anbietest. Das heißt aber, dass du eine Spaltung in „hier gibt es UOA dafür, dass ich das tue, und dort nicht“ aufgeben musst.
Da gibt es kein „aber“: Die Notwendigkeiten oder Zwänge sind gesellschaftlich-durchschnittlicher Art: Irgendwer muss das tun, aber nicht zwangsweise ich.
Das ist kein rhetorischer Trick von mir: Wenn konkret ich nur was bekomme, wenn ich dafür was leiste, dann ist das Zwang auf der individuellen Ebene. Arbeitszwang. Doch wenn ich gezwungen werde, dann ist das nicht mehr meins, dann wird es mir aufgedrückt, dann werde ich schauen, wie ich dem entgehe und meine UOAs woanders herbekomme (z.B. auf dem Schwarzmarkt). Das versuchst du zu ermäßigen, in dem du schreibst, dass die Leute ja wählen könnten, was sie tun. Doch das, ganz ehrlich, unterscheidet sich nicht groß von unser jetzigen Situation, wo ich auch wählen kann, wo ich mein Geld verdiene. Arbeitszwang bleibt scheisse.
Immer global gedacht. Wenn es keine Sklavenwirtschaft mehr gibt, sind es eben nicht 5 Stunden/Woche. Kein Foul, sondern eine rote Karte für Dante.
Weil die zentrale Herausforderung die der gesellschaftlichen Koordination ist und weniger der Verbrauchsermittlung.
Weil das in der DDR mehr oder weniger so lief: „Zwangs-GAZ absitzen, um dann für das private PAZ-Guthaben zu sorgen“. Den Drang der Utopist*innen, sich das eigene Modell schönzureden, ist groß (mich eingeschlossen). Deswegen ist Kritik so wichtig. Aber die Antwort kann nicht weiteres Schönreden sein. Du musst auf die Logik eingehen: Wenn es PAZ und GAZ gibt, dann läuft meine Bedürfnisbefriedigung am besten über eine große PAZ, über UOA in der Tasche.
Eine berechtigte Frage. Mein (logisches) Argument ist: Im Commonismus geraten produktive und sinnlich-vitale Bedürfnisse der Tendenz nach nicht mehr in einen Widerspruch. In Modellen mit Zwangsarbeit ist das aber notwendig der Fall.
Das sind leider keine Nebensächlichkeiten. Die Frage der Abgehobenheit „von den normalen Menschen“ ist einerseits völlig berechtigt, aber andererseits löse ich das Problem nicht, in dem ich meine Inhalte an das anpasse, was viele Menschen kennen, damit sie es verstehen können. Dann reproduziere ich den alten Scheiss. Ich habe gerade im Radio mal wieder eine Diskussion über die Klimakatastrophe gehört, zu der auch eine FFF-Frau eingeladen war. Mal abgesehen von der Zumutung, dass sie nun liefern solle, wie man die Krise löst, fiel ihr leider nichts anderes ein als „Wir wollen, dass es die Politik besser macht“. Das ist leider nicht möglich, zumindest gemessen an der Dimension des Problem globaler Klimakatatrophe, weil die Eigenlogik des gesellschaftlichen Gesamtsystems das nicht zulässt (die Politik eingeschlossen). – Willst du diese Erkenntnis verschweigen, um besser verstanden zu werden? Zum Beispiel…
Ich finde es toll, wenn Menschen den Commonismus in gute Worte bringen. Das kann ich nicht. Ich kann nur immer wieder auf die Klippen und Unschärfen hinweisen, wenn Leute dann mit „zu einfachen“ Darstellungen kommen. Ein Dilemma, das ich nicht lösen kann.
@Irina „Wenn ich keinen Bock habe zu arbeiten, aber gearbeitet werden muss, finde ich es durchaus fair, wenn ich dann weniger konsumieren kann. Ich könnte das ja jederzeit ändern und tätig werden.“
Und wenn ich das nicht kann? Warum denken eigentlich immer so viele gleich, dass Menschen, die nicht arbeiten, dazu keinen Bock haben? Und selbst wenn es Menschen gibt, die „keinen Bock“ zum Arbeiten haben, dann stellt sich mir eher die Frage, weshalb das so ist, und ob das generell so ist. Ich würde dann da individuell näher hingucken wollen. Vielleicht tut dieser „kein Bock auf Arbeit“-Mensch ja sehr wohl etwas (das im derzeitigen System) nur nicht als Arbeit anerkannt wird. Vielleicht ist er auch psychisch oder physisch einfach nicht in der Lage zu arbeiten. Jedenfalls würde ich niemandem deswegen weniger zuerkennen. Und ich empfinde es als Folter, jemanden zur sogenannten „Arbeit“ zu zwingen, und ihm nur das Nötigste zum Überleben, aber nicht zum Leben zu gönnen.
@Irina (1.3.24)
Nee, sorry, das deute ich jetzt als Abwehr. Ich haue nicht, hab auch nix vorab beschlossen, sondern verwende Argumente und meine sie ernst. Es ist subjektiv eher umgekehrt, dass Utopist:innen einen Vertrauensbonus bei mir haben – bis ich dann leider oft enttäuscht werde.
Danke für die Klarstellung. Jetzt hätte ich gerne noch eine Begründung dafür, warum es nicht ohne geht. Du kannst gerne den Commonismus als Proof verwenden und daran nachweisen, was da wg einer fehlenden UOA nicht funktionieren wird.
Ja, das ist Arbeitszwang. Das sagt fast wörtlich Arbeitsminister Heil auch, nur das der noch Kürzungen der Existenzmittel als Keule verwendet. Der Kapitalismus ist das historisch am perfidesten ausgereifte System des Arbeitszwangs. Die milde GIK-Variante macht es eben nur das: milder, aber nicht anders.
Zur Fairness oder Gerechtigkeit hat sich Marx passend geäußert: Unter Bedingungen der Ungleichheit ist Fairness/Gerechtigkeit ungerecht.
Ein Missverständnis? Ich meinte, dass die Akkumulationsfunktion eine der beschnittenen Funktionen des Arbeitsschein-Geldes ist. Ich sehe die Situation ähnlich wie in der DDR: Dort gab es zwar Geld, doch du konntest dafür nicht sehr viel kaufen. Also lohnte es sich nicht, zu sparen. Die individuelle Anhäufung nahm daher andere Formen an: Seltene Güter sammeln (Klassiker: Die Autoreifen im Film „Paul und Paula“, in Moskau wurde ich auf der Straße auf „Jeans“ angesprochen etc.) oder seltene Dienstleistungen oder das Horten von Materialien in Betrieben (der Mangel wunderbar dargestellt in „Spur der Steine“) etc. Ich schließe daraus: Wenn du Geld in der Gesellschaft einsetzt, also zwei Vermittlungsphären schaffst, die im Widerspruch zu einanderstehen, und dann gutmeinend einige Funktionen einschränkst, dann kehren diese Funktionen in anderer Form wieder, und sie nehmen auch gesellschaftlichen Charakter an.
Eine solche „Wiederkehr des Verdrängten“ sind Schattenmärkte. Es gab sie in der DDR, und es wird sie in einer GIK-Gesellschaft wahrscheinlich auch geben. Der Grund ist einfach: Wenn du das Prinzip der Tauschlogik einsetzt (und Zwangsarbeit), dann will ich für meine Arbeit auch möglichst den größten Anteil vom Kuchen herausholen. Ich kann dann für meine individuell ertauschten und gehorteten Dinge auf Schattenmärkten viel Mehr gesellschaftlich produzierte Äquivalente rausholen als durch bloße Einlösung meiner Arbeitsscheine im staatlichen Shop.
Na ja, das ist das schönrednerische Hoffen, das ich oben in meiner Antwort auf Lucki schon beklagte. Das konnte ich zu DDR-Zeiten genauso in Lehrbüchern lesen. Ich habe die noch da, aber es ist mir zu aufwändig, da jetzt Zitate rauszusuchen. Ich hatte früher tatsächlich auch diese Hoffnungen, dass die Nichtentfremdung sich doch irgendwann in einem eigenen Antrieb zeigen müsse. War aber nicht so, die Entfremdung war offenbar doch nicht weg. – Ich kann solchen Anrufungen nicht mehr folgen, sorry.
Das stimmt. Aber ich habe sie begründet. Und im Grunde hast du es oben zugestanden. Lies statt „verschleiern“ besser „theoretische Leerstelle“.
Nein, das ist keine Frage der Politik, sondern der Ökonomie. Ich habe gar keine Probleme von kooperierenden und sich absprechenden Betrieben auszugehen. Doch es ist in meiner Sicht eine „unmittelbaristische“ Vorstellung, Menschen müssten sich einfach nur „zusammensetzen, um sinnvoll auch tätigkeitsteilige Produkte zu erstellen“. So funktionieren nur interpersonale Zusammenhänge, lokale Betriebe, lokale Commons. Was jedoch erstaunlich oft vernachlässigt wird, ist die Tatsache, dass unsere Ökonomie zu 99% aus transpersonalen Zusammenhängen besteht, aus der Kooperation von einander anonymen Menschen. Diesen Vergesellschaftungsgrad könnte man zurückfahren, aber nicht wesentlich will man die Vorteile arbeitsteiliger Strukturen nicht verlieren. Dann braucht es aber einen Koordierungsmechanismus, der nix mit „zusammensetzen“ zu tun hat. Und diese Funktion ist im GIK-Modell logisch angelegt: Es ist die gesellschaftliche Buchhaltung, denn die kennt alle nötigen Daten. Irgendwer muss die transpersonale Koordination leisten, wenn es nicht die Buchhaltung ist, wer dann? Es mag ja sein, dass die GIK die Fehler zentralistischer Planung nicht wiederholen wollte. Doch das passiert nicht dadurch, das man die gesellschaftliche Vermittlung konzeptionell einfach weglässt und darauf hofft, dass sich das Problem irgendwie regelt.
Ja, das ist unbedingt so. Das ist aber, so vermute ich, immer so: Die eigene Sicht fließt in das Diskutierte ein. Ich lege meine Sicht hier aber auch offen. Von der Motivation her geht es mir nicht um bloße „Zerstörung der GIK“ oder so, sondern ich bin eher traurig, wenn heute immer und immer wieder die gleichen Fehler wiederholt werden: Geld/Arbeitsscheine, Wert/Gebrauchswert-Spaltung, Unmittelbarismus, Arbeitszwang.
@Stefan
Ich möchte die Diskussion gerne noch einmal öffnen und ein wenig wiederholen, bevor ich mich dann zurückziehe. Ich denke, die meisten Argumente wurden ausgetauscht und irgendwann beginnen wir uns, im Kreis zu drehen.
„Nein, das ist keine Frage der Politik, sondern der Ökonomie.“
In einer Arbeitszeitökonomie würden ökonomische Vorgänge politische Implikationen haben und umgekehrt. Zum Beispiel könnten politische Strukturen die Wirtschaftsaktivitäten beeinflussen, und wirtschaftliche Faktoren könnten politische Entscheidungen beeinflussen. Daher ist es wichtig, sich klar zu machen, dass Ökonomie und Politik keine getrennten Sphären sind, gerade wenn es um Fragen der gesellschafltichen Koordination geht.
„Es verschleiert einfach die logischen Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Abstimmung der Produktionsqualitäten und -quantitäten. Wozu überhaupt eine gesellschaftliche Buchhaltung, wenn sie nicht zur gesellschaftlichen Koordination/Planung genutzt wird?“
Die gesellschaftliche Buchhaltung erfasst in einer Arbeitszeitökonomie den gesamtwirtschaftlichen Güterstrom. Dadurch erlangt die Gesellschaft Transparenz und Zugriff auf alle relevanten Wirtschaftsdaten, was eine gesellschaftliche und transpersonale Koordination der Prdouktion ermöglicht. Die öffentliche Buchhaltung kann als eine Institution der transpersonalen, vermittelten Vereinbarung betrachtet werden. Ihr Zweck besteht darin, die gesamten Prozesse in einer Arbeitszeitökonomie zu erfassen und eine umfassende gesellschaftliche Planung zu ermöglichen. Basierend auf diesem Ansatz sind die Betriebe als genossenschaftliche Arbeitsorganisationen befähigt, sich sinnvoll und entsprechend den Bedürfnissen ihrer Mitglieder in einer strukturierten Gesamtheit horizontal und vertikal zu vernetzen und die Produktion koordiniert zu planen.
Du interpretierst die öffentliche Buchhaltung fälschlicherweise, dass sie bei der Planerfüllung der Betriebe zwangsläufig zu einer politisch-eingreifenden Behörde wird, die Betriebe zwangsmaßregelt. Du sagst, dass sei modellimanent so angelegt. Das ist jedoch falsch und das habe ich auch mehrmals kritisiert, dass du solche Annahmen machst und sie in das Modell projizierst.
*„Die Bäckerei ist ein zu simples Beispiel, weil die Endkonsumprodukte herstellt. Was ist aber bei, sagen wir, eintausend Betrieben, die tätigkeitsteilig ein Produkt herstellen?“ *
Anbei ein stark vereinfachtes Beispiel, wie Planung, Koordination und Produktion eines arbeitsteiligen Produkts mit hunderten involvierten Betrieben aussehen könnte. Solche Konkretisierungen sind natürlich immer problematisch. Es dient nur dazu, welche Möglichkeiten sich unter der Bedingung einer Arbeitszeitökonomie aufzeigen und warum „Unmittelbarismus“ nicht zutrifft:
1) Bedarfsermittlung: Die gesellschaftlichen Bäckereien schließen sich zu Branchenräten/Branchenverbänden zusammen. Sie ermitteln ihren durchschnittlichen Bedarf von 100 Industriebacköfen pro Monat.
2) Koordination: Der Bedarf wird in verschiedenen Verbandsräten und im allgemeinen Rätekongress ausgeschrieben. Fünf Produktionsbetriebe für Küchengeräte besprechen sich über Beschaffenheit der Backöfen und schließen sich zu einer Kooperation zusammen, um den Bedarf von 100 Backöfen zu decken. Die Produktionsbetriebe wissen am besten, woher sie die benötigten Rohstoffe und Teilfabrikate der Industrieöfen bekommen können. Die Kosten dafür sind in der gesellschaftlichen Buchhaltung ersichtlich.
3) Planverfahren: Die Betriebe planen individuell die Produktion der Industrieöfen nach der gemeinsamen Produktionsformel Produkt = Produktionsmittel + Rohstoffe + Arbeitszeit. Die Produktionspläne reichen die Betriebe bei der öffentlichen Buchhaltung ein. Die Pläne werden genehmigt, da diese aufgrund von Erfahrungswerten plausibel erscheinen.
4) Materialbeschaffung: Die Betriebe bestellen die für den Bau der Industriebacköfen benötigten Materialien von verschiedenen Zulieferbetrieben.
5) Produktion: Die fünf Betriebe produzieren die Industriebacköfen gemäß ihren genehmigten Plänen. Es stellt sich heraus, dass nicht alle Betriebe ihre Produktionsziele erreichen konnten und zuwenig produziert wurde. Die Kosten der produzierten Industriebacköfen werden gemittelt.
6) Distribution: Aufgrund einer vorübergehenden Unterversorgung von Industriebacköfen werden zunächst die Betriebe beliefert, die den größten Bedarf haben. Hierfür existieren strukturell verankerte politische Vermittlungsverfahren in den zuständigen Branchenräten. Die fertigen Industriebacköfen werden an die Bäckereien geliefert.
7) Neuer Planungszyklus: Während des nächsten Planungszyklus wird der aktuelle Bedarf der Industriebacköfen angepasst. Konsumgenossenschaften, Branchenverbände und Branchenräte liefern dafür die Daten. In den Branchenräten werden weitere Informationen zu Qualität und Nachhaltigkeit ausgetauscht. Die Produktionsbetriebe reflektieren die Fehler im vorherigen Planungsprozess und streben an, sie im nächsten Planungszyklus zu vermeiden.
„Ja, das ist Arbeitszwang. Das sagt fast wörtlich Arbeitsminister Heil auch, nur das der noch Kürzungen der Existenzmittel als Keule verwendet. Der Kapitalismus ist das historisch am perfidesten ausgereifte System des Arbeitszwangs. Die milde GIK-Variante macht es eben nur das: milder, aber nicht anders.“
Die Sichtbarmachung der individuellen Arbeitsleistung sowie deren Verhältnis zum gesellschaftlichen Arbeitsprodukt in einer Gebrauchswertökonomie hat nichts mit Arbeitszwang zu tun. Es sollte einer selbstverwalteten Gesellschaft offenstehen, selbst zu entscheiden, ob und in welchen Verhältnis sie die Verwendung von Arbeitsscheinen als regulatives Prinzip zulassen möchte. Falls die Arbeitsscheine nicht benötigt werden, werden sie ohnehin obsolet und sterben ab, wenn der FIK (Faktor individueller Konsum) gegen null tendiert und der öffentliche Sektor wächst, was modellimanent naheliegt. Wenn jedoch festgestellt wird, dass sie unverzichtbar sind (Schutz vor Einfall von reaktionären Kräften, Sicherstellung des dezentralisierten Konsums, Krisenintervention usw.), kann die Gesellschaft entscheiden, sie zu einem gewissen Grad beizubehalten.
„Eine solche „Wiederkehr des Verdrängten“ sind Schattenmärkte. Es gab sie in der DDR, und es wird sie in einer GIK-Gesellschaft wahrscheinlich auch geben. Der Grund ist einfach: Wenn du das Prinzip der Tauschlogik einsetzt (und Zwangsarbeit), dann will ich für meine Arbeit auch möglichst den größten Anteil vom Kuchen herausholen.“
Die Motivation der Arbeiter:innen in der demokratischen Arbeitszeitrechnung liegt in der Einsichtnahme, dass sie ein größeres Stück vom Kuchen erhalten, wenn sie nicht aus egoistischem Eigeninteresse, sondern im Sinne von Kooperation und Gemeinschaft handeln. Der Vergleich zur DDR ist hier aus verschiedenen Gründen fehl am Platz, beispielsweise da die Betriebe in der DDR nicht selbstverwaltet waren, sondern nach dem Diktat der zentralisierten Planbehörde agieren mussten.
„Die eigene Sicht fließt in das Diskutierte ein. Ich lege meine Sicht hier aber auch offen. Von der Motivation her geht es mir nicht um bloße „Zerstörung der GIK“ oder so, sondern ich bin eher traurig, wenn heute immer und immer wieder die gleichen Fehler wiederholt werden: Geld/Arbeitsscheine, Wert/Gebrauchswert-Spaltung, Unmittelbarismus, Arbeitszwang.“
Ich gebe dir recht, unsere eigenen Werte spiegeln sich notwendigerweise in der Diskussion wieder. Doch da wir hier hypothetische Gesellschaftskonzepte betrachten, erstaunt es mich, dass deine Antworten so eindeutig sind und wenig Zweifel offen lassen. Du hast selbst weiter oben von „Nahelegungen“ gesprochen. Für mich ist die wichtigste Nahelegung die Einsicht, dass die soziale Praxis letztendlich darüber entscheiden wird, ob die demokratische Arbeitszeitrechnung für eine gesellschaftliche Emanzipation zu gebrauchen ist.
@Christian
Nachdem ich die gesamte Diskussion erneut durchgelesen habe, ist mir aufgefallen, dass ich noch auf einen Beitrag vom 29.12.23 von dir eingehen wollte, den ich ganz vergessen hatte. Das hole ich nun nach. In deinem Beitrag schreibst du:
„In der Diskussion über die Zugänglichkeit von Konsumgütern scheint es hingegen für Minderheiten deutlich schwieriger zu sein, ihre Konsumwünsche zu befriedigen. Solange sie nicht die Mehrheit überzeugen können, scheint es keine Möglichkeit zu geben, sich zusammenzuschließen und ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“
Die Genehmigung eines Produktionsplans durch die öffentliche Buchhaltung hängt nicht von der Überzeugung der Mehrheit ab. Vielmehr ist entscheidend, ob es potenzielle Abnehmer:innen für das Produkt oder die Dienstleistung gibt. Infolgedessen ist selbst der Konsum von exotischen oder Nischenprodukten problemlos möglich, solange es eine Nachfrage seitens der Verbraucher:innen gibt.
@Sophia
Für alle, die nicht arbeiten können, gibt es den „Öffentlichen Sektor“, der die Menschen versorgt. Schau doch mal ins Video rein, da wird es genauer erklärt:
https://www.youtube.com/watch?v=Rqq68am-Hhw
@Irina: Du schreibst
Okay, du stimmst mir also zu, dass die Buchhaltung die gesellschaftliche Vermittlungsaufgabe hat. Die genannte Vereinbarung ist der gesamtgesellschaftlich kohärente Plan. Der Dissenz ist jetzt nur noch, ob die Buchhaltung den Plan auch durchsetzen kann oder nicht. Mein Argument ist: Nur wenn die Buchhaltung auch den Plan durchsetzen kann, kann er funktionieren, sonst nicht.
Das sind sie sicher, nur wie machen sie das? „Einfach absprechen“ habe ich als Unmittelbarismus kritisiert. Das geht ab einer bestimmten Größenordnung nicht mehr.
Ja, deinen Einspruch habe ich verstanden. Meine Frage war jedoch: Wer soll das sonst machen?
Danke dafür. Bei aller Problematik von Beispielen, die uns beiden klar ist, finde ich hier das von mir problematisierte Fehlen der gesamtgesellschaftlichen Koordination (wenn es nicht die Buchhaltung macht) wieder:
Wenn nun andere Bereiche eben diese Rohstoffe/Teilprodukte ebenso bekommen wollen, wer entscheidet das?
Was ist, wenn nun die Buchhaltung sieht, dass die Rohstoffe/Teilprodukte schon vergeben sind, was macht sie dann? Dann muss sie den Plan ablehnen. Und dann?
Das habe ich auch nicht behauptet. Meine Attestierung, dass es sich um Arbeitszwang handele, bezog sich deine Formulierung, dass „(w)enn ich keinen Bock habe zu arbeiten … ich dann weniger konsumieren kann. Ich könnte das ja jederzeit ändern und tätig werden“. Anders gesagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht (so viel) essen.
Auch diese Vorstellung gab es in der DDR: „So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“. Das egoistische Eigeninteresse realisiert über Schattenmärkte sichert mein größeres Stück vom Kuchen viel schneller.
In der Praxis suchten sie dem Plandiktat auf vielerlei Weise zu entgehen. Zum Beispiel indem sie falsche Zahlen meldeten, um nicht so hohe Vorgaben zu bekommen. Eine Dynamik, die ich auch für die GIK vermutete: Ich muss als Betrieb meine Lage so darstellen, dass ich die Ressourcen/Mittel bekomme und nicht die anderen (siehe das Beispiel oben).
Da sind wir einer Meinung, denn das gilt für alle Ansätze! Danke für deine Geduld angesichts meiner deutlichen Kritik.
@Irina (1)
Ich verfolge mit Hochspannung die Diskussion zwischen dir und Stefan. Bei einem zentralen Argument steht bei euch Aussage gegen Aussage. Stefans Kritikpunkt Nummer 1 an den Arbeitszertifikaten ist, dass sie den “Doppelcharakter der Ware” und die Dominanz der der Wertlogik reproduzieren würden. Du schreibst dagegen am 14. Januar, dass die Arbeitsscheine weder den Charakter eines Wertausdrucks noch den eines Fetischs besäßen.
Immer wenn ich nicht weiter weiß, schaue ich in das Werk von Moishe Postone über “Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft”.
Im zentralen Kapitel über “Abstrakte Arbeit” weist Postone nach, dass die Kategorie der abstrakt menschlichen Arbeit die für den Begriff des >Warenfetisch< zentrale Ausgangsbestimmung ist. Er demonstriert, dass für Marx sogar die Kategorien, die das >Wesen< der kapitalistischen Gesellschaftsformation bestimmen wie >Wert< und >abstrakt menschliche Arbeit<, verdinglicht sind. Auf S.227 schreibt er mit Bezug auf Lucio Colletti, dass die Kategorie der abstrakten Arbeit von den meisten Marxisten niemals wirklich erklärt wurde und als geistige Verallgemeinerung verschiedener Arten konkreter Arbeit behandelt worden sei, statt als Ausdruck von Realität.
S.231 In der warenförmigen Gesellschaft habe die Arbeit eine zweifache Funktion: einerseits sei sie eine spezifische Art der Arbeit, die besondere Produkte für Andere produziere. Andererseits diene Arbeit, unabhängig von ihrem besonderen Inhalt, dem Produzenten als Mittel, die Produkte Anderer zu erwerben. S.232 Dadurch sei eine neue Form von Interdependenz entstanden: “Niemand konsumiert, was er produziert, und dennoch fungiert die Arbeit des Einen – oder deren Produkte – als das notwendige Mittel, um Produkte von Anderen zu erhalten.”
S.233 Die Funktion der Arbeit als gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit habe Marx als >abstrakte Arbeit< bezeichnet. S.235. “Als eine gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit abstrahiert die Arbeit von der Besonderheit ihres Produkts, und somit von der Besonderheit ihrer eigenen konkreten Form. In der Marxschen Analyse bringt die Kategorie der abstrakten Arbeit diesen realen gesellschaftlichen Abstraktionsprozeß zum Ausdruck. Sie basiert nicht auf einem bloß begrifflichen Abstraktionsprozeß. Als Praxis ist die Arbeit, die eine gesellschaftliche Vermittlung konstituiert, Arbeit im allgemeinen.
Außerdem setzen wir uns hier mit einer Gesellschaft auseinander, in der die Warenform verallgemeinert und deshalb gesellschaftlich bestimmend ist: Die Arbeit aller Produzenten dient als Mittel, mit dem die Produkte Anderer beschafft werden können. Deshalb dient die >Arbeit im allgemeinen< auf gesellschaftlich-allgemeine Art und Weise als vermittelnde Tätigkeit. Doch ist die Arbeit als abstrakte nicht nur in dem Sinne gesellschaftlich-allgemein, daß sie alle Produzenten untereinander vermittelt – auch der Charakter der Vermittlung ist gesellschaftlich-allgemein.” S.236 “Weil aber jede einzelne Arbeit auf die gleiche gesellschaftlich vermittelnden Weise wie alle anderen fungiert, konstituieren die abstrakten Arbeiten insgesamt keine ungeheure Sammlung verschiedener abstrakter Arbeiten, sondern eine allgemeine gesellschaftliche Vermittlung oder, anders gesagt: gesellschaftlich totale abstrakte Arbeit. Somit konstituieren ihre Produkte eine gesellschaftlich totale Vermittlung: Wert.”
S.244 “Nicht Arbeit als solche konstituiert Gesellschaft, wohl aber Arbeit im Kapitalismus.” S.245 “Dabei zeigt [Marx], daß die für den Kapitalismus charakteristische, durch Arbeit vermittelte Form gesellschaftlicher Verhältnisse nicht bloß eine gesellschaftliche Matrix konstituiert, innerhalb der die Individuen ihren Platz finden und miteinander in Beziehung treten. Sondern diese Vermittlung, die zunächst als Mittel (zum Erwerb von Produkten Anderer) analysiert wird, nimmt zudem ein Eigenleben an: Sie existiert gleichsam unabhängig von den sie vermittelnden Individuen. Sie entwickelt sich zu einer Art objektivem System über den Individuen und gegen sie und bestimmt zunehmend die Ziele und Mittel menschlicher Tätigkeit. (…) Arbeit im Kapitalismus läßt eine gesellschaftliche Struktur entstehen, die diese Arbeit wiederum beherrscht.”
S.250 “In gewissem Sinne ist Arbeit eine notwendige Vorbedingung, das heißt eine transhistorische oder >naturgegebene< gesellschaftliche Notwendigkeit menschlicher gesellschaftlicher Existenz als solcher. Diese Notwendigkeit kann aber die Besonderheit warenproduzierender Arbeit verschleiern – nämlich die Tatsache, daß, auch wenn man das von einem Produzierte nicht konsumiert, diese Arbeit dennoch weiterhin das gesellschaftlich notwendige Mittel bleibt, um Produkte für den Konsum zu erlangen. Letzteres ist, im Gegensatz zur naturgegebenen, eine historisch bestimmte gesellschaftliche Notwendigkeit. (Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten von Notwendigkeit ist, wie sich zeigen wird, für das Verständnis des Marxschen Begriffes von Freiheit in der postkapitalistischen Gesellschaft wichtig.) Weil die besondere, gesellschaftlich vermittelnde Rolle, die die warenproduzierende Arbeit spielt, verschleiert ist, und diese Arbeit als Arbeit an sich erscheint, verschmelzen diese beiden Arten von Notwendigkeit in der Form einer einzigen, scheinbar transhistorisch gültigen: wer überleben will, muß arbeiten. So erscheint eine für den Kapitalismus spezifische Form gesellschaftlicher Notwendigkeit als »naturgegebene Ordnung der Dinge». Diese scheinbar transhistorische Notwendigkeit – daß die Arbeit des Individuums die für seinen Konsum (oder den seiner Familie) notwendigen Mittel bereitstellt – dient als Grundlage einer fundamentalen Legitimationsideologie der kapitalistischen Gesellschaftsformation als ganzer in ihren verschiedenen Phasen. Als Affirmation der Grundstruktur des Kapitalismus geht eine solche Legitimationsideologie tiefer als solche Ideologien, die eng an besondere Phasen des Kapitalismus gebunden sind – etwa an den marktvermittelten Äquivalententausch.”
S.259f. “Positionen, die die besondere Funktion der Arbeit im Kapitalismus nicht erfassen, schreiben der Arbeit als solcher einen gesellschaftlich synthetisierenden Charakter zu: sie behandeln sie als das transhistorische Wesen des gesellschaftlichen Lebens überhaupt. Warum aber Arbeit als >Arbeit< gesellschaftliche Verhältnisse konstituieren kann, können sie ebensowenig erklären wie den soeben analysierten Zusammenhang zwischen Erscheinung und Wesen. Wie wir gesehen haben, postulieren diese Interpretationen eine Trennung zwischen den Erscheinungsformen. die historisch veränderlich sind (Wert als Marktkategorie), und einem historisch unveränderlichen Wesen (>Arbeit<). (…) Diese Fehlinterpretation ist durchaus verständlich, denn sie ist eine der untersuchten Form selbst immanente Möglichkeit. Wir haben gesehen, daß Wert keine Vergegenständlichung der Arbeit an sich ist, sondern eine ihr historisch spezifische Funktion. In anderen Gesellschaftsformationen spielt Arbeit keine derartige Rolle, oder nur marginal.
Daraus folgt, daß die Funktion der Arbeit, gesellschaftliche Vermittlung zu konstituieren, keine wesenhafte Eigenschaft der Arbeit selbst ist. Sie ist in keinem Merkmal menschlicher Arbeit als solcher aufzufinden. Das Problem liegt somit darin, daß die Analyse, wenn sie von einer Untersuchung der Ware ausgehend, aufdecken will, was den Wert der Waren konstituiert, wohl auf die Arbeit stoßen kann, nicht aber auf ihre vermittelnde Funktion. Diese spezifische Funktion erscheint nicht als Eigenschaft der Arbeit und kann dies auch gar nicht. Sie kann auch nicht durch eine Untersuchung der Arbeit als einer produktiven Tätigkeit enthüllt werden, denn in allen Gesellschaftsformationen stellt das, was wir als Arbeit bezeichnen, eine produktive Tätigkeit dar. Die einzigartige gesellschaftliche Funktion der Arbeit im Kapitalismus kann allein schon deshalb nicht unmittelbar als Eigenschaft der Arbeit erscheinen, weil Arbeit an und für sieh keine gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit ist: Als solche kann nur ein manifestes gesellschaftliches Verhältnis erscheinen. Die historisch spezifische Funktion der Arbeit kann darum nur in vergegenständlichter Form erscheinen: als Wert in seinen unterschiedlichen Formen (Ware, Geld, Kapital). Es ist deshalb unmöglich, eine manifeste Form der Arbeit als gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit zu entdecken, indem man hinter die Form – den Wert – schaut, in der sie notwendig vergegenständlicht ist, eine Form, die ihrerseits nur materialisiert als Ware, Geld usw. erscheinen kann. Natürlich erscheint die Arbeit, doch die Form ihrer Erscheinung ist nicht die einer gesellschaftlichen Vermittlung, sondern schlicht >Arbeit< selbst.
Durch die Untersuchung der Arbeit selbst also kann man ihre Funktion, ein Medium gesellschaftlicher Verhältnisse zu konstituieren, nicht entdecken; vielmehr gilt es, ihre Objektivierungen zu untersuchen. Aus diesem Grund begann Marx seine Darstellung auch nicht mit der Arbeit, sondern mit der Ware, der grundlegendsten Objektivierung kapitalistischer Verkehrsformen (MEW Id, 369).”
So weit, so gut. Bitte verzeiht mir die langen Zitate. Ich hoffe, daraus wird deutlich, dass das Konzept einer Demokratischen Arbeitszeitrechnung (DAZ) die historischen Kategorien Abstrakte Arbeit / Wert nicht wird aufheben können.
@Irina (2)
Noch ein paar persönliche Worte, warum ich etwas gegen Arbeitszeitrechnung habe. Ich bin von Beruf Krankenpfleger. Arbeit mit Schwerstbehinderten. Alle meine “Kunden” haben von den Kassen ein bestimmtes Jahres-Budget in Stunden und Minuten erhalten. Täglich kreuze auf dem “Leistungsnachweis” die geplanten Zeitmodule an. Ein Formular für die Krankenkasse, eins für die Pflegekasse, eins für die Berufsgenossenschaften / Landschaftsverbände, eventuell noch eines für Privatzahlungen.
Wenn ich von den geplanten Zeiten abweiche, entsteht in meinem Büro ein erheblicher zusätzlicher Verwaltungsaufwand. Neulich musste ich einen Tagesdienst, den ich allein im Haus von Person A verbringen sollte, unterbrechen und drei kleine Dienste woanders übernehmen, weil eine Kollegin dort krank geworden war. Im Büro müssen in einem solchen Fall Zeitmodule im PC auf mehreren Formularseiten verschoben werden. Ich habe die Kollegin im Büro zufällig bei dieser Dienstplanänderung beobachtet. Sie hat ca. 20 Minuten dafür gebraucht. Am Ende des Monats wird ein anderer Büromensch nochmal alle Stundenzettel der Mitarbeiter mit den Leistungsnachweisen für die Kassen abgleichen. Und gelegentlich hat auch der Betriebsrat noch ein Auge darauf, um zu sehen, ob Pausen und Nachtruhezeiten eingehalten wurden. Mit wieviel Aufwand die Kranken- oder Pflegekasse unsere Leistungsnachweise auf Korrektheit überprüft, entzieht sich meiner Kenntnis.
Ich frage mich, wieviele Menschen in Deutschland tagein, tagaus nur damit beschäftigt sind, Arbeitszeit und/oder Geld zu zählen. In den Kranken-, Pflege-, und Rentenkassen, den ganzen anderen Versicherungshäusern oder in den Arbeitsämtern?
Könnten alle diese Menschen in einer postkapitalistischen Gesellschaft nicht ihre Zeit viel sinnvoller verbringen? Und ja, dann könnten wir in den frei gewordenen Büros alle Obdachlosen unterbringen, wäre das nicht eine gute Idee?
@ Christoph
Danke für deinen Hinweis auf Moishe Postone. Das hat mich angeregt, mich nochmals mit den unterschiedlichen Aspekten der Arbeit und mit der gesellschaftlichen Vermittlung bei Postone auseinanderzusetzen.
In der letzten Future Histories Podcast-Episode vom 31.3.2024 kommt das Thema Arbeitszeitrechnung ebenfalls vor. Jan Groos hat das „Kantine Festival Podium zu Problemen der Übergangsgesellschaft“ aufgezeichnet. Er wirkt selber auf dem Podium mit. Wen es interessiert, der höre mal hinein.
Nun noch einmal zurück zu Moishe Postone.
a) Was sagt Postone zum transhistorischen und ontologischen Aspekt der Arbeit?
Es gibt einen transhistorischen Aspekt: „Arbeit (hat) in allen Gesellschaftsformationen einen gesellschaftlichen Charakter.“ (Postone 233) „In allen Gesellschaftsformationen stellt das, was wir als Arbeit bezeichnen, eine produktive Tätigkeit dar. „Arbeit ist an und für sich keine gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit.“ (260) In traditionellen Gesellschaften werden Tätigkeiten und ihre Erzeugnisse von transparenten gesellschaftlichen Verhältnissen vermittelt. Die Tätigkeiten sind in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingebettet. (265)
b) Wie sieht das aus in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise?
Gesellschaften, in denen die kapitalistische Produktionsweise gilt, werden dagegen bestimmt durch den historisch-spezifischen Aspekt, die abstrakte Arbeit. Aber: „Der Unterschied zwischen stofflichem Reichtum und Wert, der in der Differenz verankert ist zwischen der Arbeit in nicht-kapitalistischen Gesellschaften – und der Arbeit im Kapitalismus – wird verwischt.“ (263) „Arbeit im Kapitalismus konstituiert gesellschaftliche Verhältnisse.“ (258) Im Kapitalismus vermitteln sich die Arbeit und ihre Produkte gesellschaftlich selbst. (232) „Wert ist die Kategorie der Vermittlung.“ (239)
Die Überschneidung zweier Arten von Notwendigkeit hat Christoph bereits benannt: Es stehen sich gegenüber eine transhistorische, >naturgegebene< gesellschaftliche Notwendigkeit (menschlicher gesellschaftlicher Existenz als solcher) UND „die Tatsache, dass Arbeit das gesellschaftlich notwendige Mittel ist, um Produkte für den Konsum zu erlangen. Das ist nicht naturgegeben, sondern eine historisch bestimmte gesellschaftliche Notwendigkeit.“ (250)
Der Wert ist die Kategorie, die die Herrschaft der Arbeit über sich selbst ausdrückt. Die Produzenten werden durch die historische Dimension ihrer eigenen Arbeit beherrscht. (283) Gemeint ist hier die abstrakte Arbeit.
c) Welche Anforderungen ergeben sich daraus für die befreite Gesellschaft?
In einer künftigen befreiten Gesellschaft muss mit dem Wert die Warenförmigkeit abgeschafft sein. Die Menschen können sich dann anders vermitteln, dabei kann die transhistorische Arbeit unter vielem anderen ein vermittelnder Aspekt sein.
Wenn die künftige Gesellschaft Arbeitszertifikate benutzt, so wird sie die abstrakte Arbeit nicht los. Es ist nicht gelungen, die Warenförmigkeit ausschließen. Die Arbeitszeit auf den Arbeitszeitzertifikaten bleibt Wertsubstanz wie in der kapitalistischen Produktion. Christoph hat dazu Postone zitiert: „Niemand konsumiert, was er produziert, und dennoch fungiert die Arbeit des Einen – oder deren Produkte – als das notwendige Mittel, um Produkte von Anderen zu erhalten.” (232)
Die Bedürfnisbefriedigung ist an Zertifikate gekoppelt. Dass die Möglichkeit besteht, den ‚Faktor individueller Konsum‘ (FIK) auf Null zu drehen und so die Zertifikate loszuwerden, das klingt charmant. Meine Sicht: Bis dahin hat sich die Idee bereits blamiert, „soweit sie von dem ‚Interesse‘ verschieden war.“ (MEW 2: 85; Die heilige Familie)
Julian Bierwirth hat drei grundsätzliche Einwände gegen die Arbeitszeitrechnung benannt: 1. Fetischisierung, 2. Abspaltung der Sorge 3. Externalisierung. Genauer anhören kann man sich die drei Einwände auf Youtube unter dem Titel „Arbeitszeitrechnung – Eine sozialistische Utopie?“
@ Christoph
Danke für deine Einschätzung. Man sollte im Hinterkopf behalten, dass Postone die marxsche Kritik der politischen Ökonomie neu interpretiert hat. Diese Neuinterpretation erhielt seit der Veröffentlichung von „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ viel Kritik. Das spezielle Verständnis von Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie, wie es beispielsweise auch bei Bierwirt zu finden ist, führt in der Konsequenz zu allerhand Verwirrungen und falschen Annahmen; insbesondere in Bezug auf die demokratischen Arbeitszeitrechnung. Ich empfehle sehr diesen Text von IDA. Er bringt Klarheit in Bezug auf abstrakte Arbeit und das Wertgesetz und ist auch eine gründliche Kritik an der heutigen Wertkritik. Hier der erste Absatz:
Vor wenigen Wochen hielt Julian Bierwirth von der Theoriegruppe Krisis einen Vortrag über die neuere Debatte zur Arbeitszeitrechnung und unterzog diese Idee einer fundamentalen Kritik. Dabei stützte er sich explizit auf die Konzeption der Arbeitszeitrechnung, wie sie von der Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) in ihren Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung entwickelt worden ist und auch von uns vertreten wird. Die Arbeitszeitrechnung wird dabei als eine zunächst sympathisch daherkommende Alternative zur Geldwirtschaft betrachtet, die aber strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem Fetischismus der warenproduzierenden kapitalistischen Gesellschaft habe. Ferner wurde behauptet, dass eine arbeitszeitbasierte Ökonomie die im Kapitalismus übliche Abspaltung der reproduktiven („Care-Arbeit“) von den sogenannten produktiven Tätigkeiten gar nicht überwinden könne. Schließlich wurde auch das Modell der Produktivbetriebe, die vor allem hinsichtlich der Planerstellung relative Autonomie besitzen sollen, problematisiert, da es weiterhin – wie im Kapitalismus – die Externalisierung von Kosten begünstige, die auf die Gesellschaft abgewälzt würden. Zu diesen drei Punkten möchten wir im Folgenden Stellung nehmen. Obwohl der Referent eigenen Angaben zu Folge unter seinen drei Kritikpunkten keinerlei Gewichtung nach thematischer Wichtigkeit oder inhaltlicher Relevanz vornehmen wollte, nahm der erste Kritikpunkt (Fetischismus) in dem Vortrag deutlich den meisten Raum ein. Das ist wenig verwunderlich, ist doch die Wert- und Fetischkritik letztlich das „Spezialgebiet“ der Krisis-Gruppe. Da der Wertkritik ein spezifisches Verständnis der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zugrunde liegt, wird dieser Teil auch in dem hiesigen Text der ausführlichste sein. Wir möchten gerade diesen Punkt zum Anlass nehmen, einige methodologische Erwägungen über Das Kapital von Karl Marx sowie zur materialistischen Geschichtsauffassung insgesamt anzustellen und etwas weiter auszuführen. Auch hier werden die beiden anderen Punkte wohl wieder ins Hintertreffen geraten, obwohl wir gerade die Frage der Reproduktion für äußerst wichtig erachten. Was hier nur in aller Kürze diesbezüglich angerissen wird, wird noch einmal Gegenstand einer eigenständigen theoretischen Erörterung werden müssen.
https://arbeitszeit.noblogs.org/post/2023/07/05/replik-auf-kritik-der-gruppe-krisis/
@ Irina
Danke sehr für deine Antwort. Bitte bleib noch in der Diskussion!
Ich bin deinem Link gefolgt und habe die Replik der IDA auf die Kritik der Gruppe krisis am Konzept der DAZ gelesen. Du sagst, dieser Text würde Klarheit in Bezug auf abstrakte Arbeit und das Wertgesetz bringen und sei auch eine gründliche Kritik an der heutigen Wertkritik.
Ich fand den Text dagegen unklar, habe viele Sätze mit Schlangenlinien versehen, weil ich sie (noch) nicht richtig verstanden habe. Leider bezieht sich der Text nicht auf Moishe Postone, sondern hauptsächlich auf Robert Kurz. Hinter dem Label “Wertkritik” stehen viele verschiedene Autoren und die sollten nicht alle in einen Topf geworfen werden.
Moishe Postone ragt für mich heraus. Sein Buch “Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft” habe ich vorwärts, rückwärts und seitwärts gelesen. Ich habe bis heute keinen überflüssigen oder gar falschen Satz darin entdecken können. Es hat eine bestechende Logik und klare Sprache. Es ist sein Lebenswerk, ein episches Vermächtnis. Es gibt auf Youtube ein halbstündiges Interview mit Moishe Postone. Hör und schau dir das an, dann kannst du dir besser ein Bild von diesem Menschen machen. Auch in diesem Interview gibt es keinen überflüssigen Satz. Moishe Postone spricht wie er schreibt.
https://www.youtube.com/watch?v=eqjiznDQ3Ho&ab_channel=HellePanke
Nun aber zurück zu meiner persönlichen Kritik an dem Konzept der Demokratischen Arbeitszeitrechnung (DAZ). Demokratische Arbeit, Zeit und Rechnung. Das klingt schon so ähnlich wie der Titel des Buches “Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft” von Moishe Postone. Postone will damit sagen, dass unsere Gesellschaft von (abstrakter) Arbeit und (abstrakter) Zeit beherrscht werden.
Ich will noch ein Beispiel bringen. Seit etwa zwei bis drei Jahren kommen täglich Nachrichten über einen möglicherweise bevorstehenden Krieg um die Insel Taiwan. Viele wissen, dass Taiwan ein wichtiger Standort für die Herstellung von Computerchips ist, weniger bekannt dürfte sein, wie die Produktion von Halbleitern konkret vonstatten geht und warum diese Technologie solch eine immense Bedeutung hat.
Mir wurden die Augen geöffnet durch einen Sonntagsartikel (Long-Read) in der New York Times von Alex W. Palmer am 12. Juli 2023.
Überschrift: ‘An Act of War’: Inside America’s Silicon Blockade Against China.
Ich zitiere und übersetze wenige Sätze aus dem Artikel:
Im Oktober [2022] veröffentlichte das United States Bureau of Industry and Security ein Dokument, das auf 139 Seiten mit einem dichten bürokratischen Jargon und winzigen technischen Details einer wirtschaftlichen Kriegserklärung an China gleichkam. (…) Mit den Ausfuhrkontrollen vom 7. Oktober gab die Regierung der Vereinigten Staaten ihre Absicht bekannt, Chinas Fähigkeit zur Herstellung oder sogar zum Kauf der modernsten Chips einzuschränken. Die Logik dieser Maßnahme war einfach: Hochentwickelte Chips und die von ihnen angetriebenen Supercomputer und KI-Systeme ermöglichen die Herstellung neuer Waffen und Überwachungsgeräte. In ihrer Reichweite und Bedeutung hätten die Maßnahmen jedoch kaum weitreichender sein können und zielten auf ein Ziel, das weit über den chinesischen Sicherheitsstaat hinausging. „Der Schlüssel dazu ist, dass die USA Chinas KI-Industrie beeinflussen wollten“, sagt Gregory C. Allen, Direktor des Wadhwani Center for A.I. and Advanced Technologies am Center for Strategic and International Studies in Washington. „Das Halbleitermaterial ist das Mittel zum Zweck“.
Obwohl die Kontrollen vom 7. Oktober in der unscheinbaren Form von aktualisierten Exportregeln verkündet werden, zielen sie im Grunde darauf ab, Chinas gesamtes Ökosystem der Spitzentechnologie mit der Wurzel auszurotten. „Die neue Politik, die in Okt. 7 zum Ausdruck kommt, lautet: Wir lassen nicht nur nicht zu, dass China technologisch weiter vorankommt, sondern wir werden den derzeitigen Stand der Technik aktiv rückgängig machen“, sagt Allen. C.J. Muse, ein führender Halbleiteranalyst bei Evercore ISI, drückt es so aus: „Wenn Sie mir vor fünf Jahren von diesen Regeln erzählt hätten, hätte ich Ihnen gesagt, dass das eine Kriegshandlung ist – wir müssten uns im Krieg befinden.“
Wenn die Kontrollen erfolgreich sind, könnten sie China eine Generation lang behindern; wenn sie scheitern, könnten sie spektakulär nach hinten losgehen und genau die Zukunft vorantreiben, die die Vereinigten Staaten verzweifelt zu vermeiden versuchen. Das Ergebnis wird wahrscheinlich den Wettbewerb zwischen den USA und China und die Zukunft der globalen Ordnung für die nächsten Jahrzehnte prägen. „Es gibt zwei Daten, die ab 2022 in der Geschichte nachhallen werden“, sagt Allen. „Das erste ist der 24. Februar, als Russland in die Ukraine einmarschierte, und das zweite ist der 7. Oktober.“ (…)
Halbleiterfabriken, so genannte Fabs, sind die teuersten Fabriken der Welt, in denen die komplexeste Fertigung aller Zeiten durchgeführt wird, und zwar in einer Größenordnung, die bei keinem anderen Gerät je erreicht wurde. Die Chipindustrie im weiteren Sinne ist ein Netz gegenseitiger Abhängigkeiten, das sich über den ganzen Planeten in hochspezialisierten Regionen und Unternehmen erstreckt und dessen Leistungen durch Lieferketten von außergewöhnlicher Länge und Komplexität ermöglicht werden – ein Aushängeschild für die Globalisierung also. „Es ist schwer vorstellbar, wie die Fähigkeiten, die sie erreicht haben, ohne den Zugang zu den klügsten Köpfen der Welt, die alle zusammenarbeiten, möglich gewesen wären“, sagt Miller. Und doch ist es genau diese Vernetzung, die die Branche anfällig für Regulierungen macht, wie sie von der Regierung Biden angestrebt werden.
Nur eine kleine Handvoll Unternehmen kann an der Spitze konkurrieren, wo Durchbrüche Milliarden von Dollar und Jahrzehnte der Forschung kosten. Das Ergebnis ist eine Branche, die aus einer Reihe von Engpässen besteht. Das bekannteste Beispiel ist die Extrem-Ultraviolett (EUV)-Lithografiemaschine von ASML, einem niederländischen Mischkonzern, mit der die Schichten eines Chips ausgedruckt werden. 1997 stellte ASML Jos Benschop, einen jungen Ingenieur mit einem Doktortitel in Physik, ein, um die Entwicklung eines neuen Systems zu leiten, das den Kunden von ASML in der Halbleiterindustrie helfen sollte, kleinere, schnellere und dichtere Chips als je zuvor zu drucken. Es dauerte vier Jahre, bis der Konzeptnachweis erbracht war, der es rechtfertigte, ein kleines Team mit dieser Aufgabe zu betrauen, und weitere fünf Jahre, bis das Team einen Prototyp der Maschine gebaut hatte. Im Dezember 2010 absolvierte ein aktualisierter Prototyp, ein TWINSCAN NXE:3100, in einer Forschungseinrichtung in Südkorea schließlich seinen ersten erfolgreichen Testlauf. Es sollte noch fast zehn Jahre dauern, bis die ersten EUV-fähigen Produkte auf den Markt kommen würden.
Die neueste Version des Geräts kann Strukturen mit einer Größe von nur 10 Nanometern herstellen; ein menschliches rotes Blutkörperchen hat im Vergleich dazu einen Durchmesser von etwa 7.000 Nanometern. Mit einem Laser wird ein Plasma erzeugt, das 40-mal heißer ist als die Sonnenoberfläche und extremes ultraviolettes Licht aussendet, das für das menschliche Auge unsichtbar ist und von einer Reihe von Spiegeln auf einen Siliziumchip reflektiert wird. Der Laser stammt von einem deutschen Unternehmen und besteht aus 457.329 Teilen; ein komplettes EUV hat mehr als 100.000 ähnlich komplizierte Komponenten.
Ein EUV ist nur ein Teil des Prozesses: Eine hochmoderne Produktionsanlage kann mehr als 500 Maschinen und 1.000 Arbeitsschritte umfassen. Und doch ist eine EUV-Maschine allein eine fast wundersame menschliche Leistung, die in einem Umfang und mit einer Präzision arbeitet, die nur schwer vorstellbar sind. „Ich glaube wirklich, dass unsere Maschine das Komplizierteste ist, was die Menschheit je hervorgebracht hat“, sagt Benschop, heute Corporate Vice President of Technology bei ASML. Heute, mehr als ein Jahrzehnt nach dem ersten Testlauf des TWINSCAN, ist kein anderes Unternehmen in der Lage, die Leistung von ASML zu wiederholen.
Ich gebe einen Link zu dem vollständigen Artikel. Es ist ein Geschenk-Artikel, sollte 30 Tage gültig sein.
https://www.nytimes.com/2023/07/12/magazine/semiconductor-chips-us-china.html?ugrp=m&unlocked_article_code=1.jk0.Hnsa.7z39TMUrdl5C&smid=url-share
Wie reagiert China darauf? Dort wird unter Hochdruck weiter geforscht und gearbeitet. Die Firma Huawei Technologies etwa baut ein riesiges Forschungs- und Entwicklungszentrum für Halbleiterausrüstung in Shanghai, da der chinesische Tech-Titan seine Chip-Lieferkette weiter aufrüstet, um einem harten Vorgehen der USA zu begegnen.
Das weiß ich aus der japanischen Wirtschaftszeitung Nikkei Asia Review vom 14. April 2024. Daraus noch ein Zitat:
Zu den Aufgaben des Zentrums gehört der Bau von Lithographie-Maschinen, die für die Herstellung modernster Chips unerlässlich sind. Washingtons Exportkontrollen haben den Zugang von Huawei zu dieser Ausrüstung, deren Produktion von nur drei Unternehmen dominiert wird, stark eingeschränkt: ASML aus den Niederlanden und die japanischen Unternehmen Nikon und Canon.
Um das neue Zentrum zu besetzen, bietet Huawei Gehaltspakete an, die bis zu doppelt so hoch sind wie die lokaler Chiphersteller, sagten Führungskräfte aus der Industrie und mit der Angelegenheit vertraute Quellen gegenüber Nikkei Asia. Das Unternehmen hat bereits zahlreiche Ingenieure eingestellt, die bei den weltweit führenden Herstellern von Chipwerkzeugen wie Applied Materials, Lam Research, KLA und ASML gearbeitet haben, so die Quellen. Sie fügten hinzu, dass auch Veteranen der Chipindustrie mit mehr als 15 Jahren Erfahrung bei führenden Chipherstellern wie TSMC, Intel und Micron zu den neuen und potenziellen Mitarbeitern gehören.
Die strengeren Exportkontrollen Washingtons in den letzten Jahren haben sich auch auf den Arbeitsmarkt in China ausgewirkt, unter anderem dadurch, dass es für chinesische Staatsbürger schwieriger geworden ist, für ausländische Chipfirmen im Land zu arbeiten. Dies hat dazu geführt, dass Huawei und anderen lokalen Unternehmen mehr Spitzenkräfte zur Verfügung stehen.
Doch während Huawei ein großzügiges Gehaltspaket bietet, kann die Arbeitskultur nach Ansicht von Managern der Chipindustrie eine Herausforderung darstellen.
„Die Arbeit mit ihnen ist brutal. Es ist nicht 996 – das heißt, man arbeitet von 9 Uhr morgens bis 21 Uhr abends, sechs Tage die Woche. … Es wird buchstäblich 007 sein – von Mitternacht bis Mitternacht, sieben Tage die Woche. Kein einziger freier Tag“, sagte ein chinesischer Chip-Ingenieur gegenüber Nikkei Asia. „Der Vertrag ist auf drei Jahre befristet, [aber] die meisten Leute können nicht bis zur Verlängerung überleben.“
https://asia.nikkei.com/Business/Tech/Semiconductors/Huawei-building-vast-chip-equipment-R-D-center-in-Shanghai
Ob Huawei im bitteren Konkurrenzkampf mit solchen Methoden obsiegen kann?
Halbleiterchips werden in tausenden Produkten bzw. Fabriken benötigt, vom Quantencomputer bis zum Toaster, von Datenzentren bis zu Gesundheitskarten.
Die Großmächte ringen darum, wer zuerst das nächste Produktivitätslevel (künstliche Intelligenz) erreicht.
Alex W. Palmer (New York Times) fragt sich auch, ob und wann China trotz der Sanktionen die Nase vorn haben wird. Er schreibt, dass der ehemalige stellvertretender Direktor des Büros für Wissenschafts- und Technologiepolitik des Weißen Hauses, Jason Matheny, das bezweifeln würde. Matheny habe gesagt, es sei einfach für politische Führer oder Führungskräfte zu denken, dass Probleme gelöst werden können, wenn nur genug Geld und Ingenieure auf dieses Problem geworfen würden. Aber die immense Komplexität der Wissenschaft und die weltumspannenden Lieferketten seien schwer zu imitieren. „Irgendwann“, so Matheny, „muss man die gesamte menschliche Zivilisation nachbilden“.
Doch wenn ein Land eine solche Herausforderung meistern könne, dann sei es wahrscheinlich China, meint Alex W. Palmer.
Ich glaube nicht, dass der kapitalistische Konkurrenzkampf aufhören würde, wenn weltweit Arbeitszeitrechnung eingeführt würde, denn die abstrakte -von allen Besonderheiten absehende- Arbeit aller Produzenten bliebe weiterhin das (Lebens-) Mittel, um an Produkte für den Konsum zu kommen. Die Stunden-Zertifikate wären eine Art Lebensberechtigunsschein. Wenn die Betriebe nicht der Wertlogik (gesellschaftliche durschnittlich notwendige Arbeitszeit) gehorchen würden, sondern stattdessen die nominal erbrachte Arbeitszeit “belohnen” wollten, würde das zu Neid und Missgunst, zu einer Art “negativer Konkurrenz“ unter den Betrieben führen.
@Christoph Ich finde es interessant, wie du den „kapitalistischen Konkurrenzkampf“ hier zu einer Art Naturkonstante erklärst, die auch dann vorhanden sein sollte, wenn es gar keinen Kapitalismus mehr gibt. Also etwa im Realsozialismus, der ja viele Probleme hatte – aber einen kapitalistischen Konkurrenzkampf der Unternehmen untereinander kann ich dort nicht erkennen. Wo hätte er auch herkommen sollen, so ganz ohne Kapitalismus? Ebenso ist mir unklar, warum das bei DAZ der Fall sein sollte. Die Unternehmen müssen da zwar weiterhin rechnen – wie ja auch jede:r rechnen will, der etwa für sieben Tage in die Berge und dafür genügend Proviant und Ausrüstung mitnehmen will –, aber sie stehen ja nicht in Konkurrenz zueinander. Sie müssen ihre Kund:innen zufriedenstellen mit guten Produkten, nicht mehr und nicht weniger. Wenn das alle hinkriegen, ist alles prima; wenn es Probleme gibt, können sie sich dabei unterstützen. Sie müssen nicht ihren Gewinn maximieren wie das kapitalistische Firmen müssen. Warum also sollten sie sich trotzdem niederkonkurrieren, als ob ihnen der Kapitalismus noch in den Knochen steckt? Das ist tatsächlich eine Mystifizierung kapitalistischer Verhältnisse, die so zu nahezu überhistorischen deklariert werden.
@Christian
„Kapitalistischen Konkurrenzkampf“ gab es auch im Realsozialismus, wenn auch anders: https://www.krisis.org/1990/die-quadratur-des-kreises/
Johanna W. Stahlmann schrieb, während Konkurrenz in der Marktwirtschaft einen Zwang zur Verwohlfeilerung und ein gewisses Mass an Qualitätskontrolle bei Strafe der Unverkäuflichkeit setzen würde, habe die Konkurrenz unter den realsozialistischen Betrieben sich nicht um Verwohlfeilerung, sondern um massenhafte Einsaugung aller Arten von Ressourcen gedreht. Diese Inputkonkurrenz habe sich, grob gesprochen, auf drei Gebiete bezogen: Fonds (Geld), Investitionsgüter und Arbeitskräfte. Ich glaube, dass nach dem Konzept der Demokratischen Arbeitszeitrechnung sich die Konkurrenz zwar nicht auf Geld beziehen würde, wohl aber auf Arbeitszeitzertifikate. Wie die Inputkonkurrenz um Fonds (Geld) im Realsozialismus aussah, dazu zitiert Johanna W. Stahlmann P. Bunitsch: „… mit Hilfe von Bekanntschaften, Geschenken, Anrufen bei einflussreichen Leuten, Berufung auf die Autorität des entsprechenden Leiters, das Ansehen des Betriebes, der Stadt oder des Gebietes.“
Der zweite Gegenstand der Konkurrenz im Realsozialismus, die Konkurrenz um Investitionsgüter, hat laut Stahlmann zu zwei kontraproduktiven Formen der Konkurrenz geführt: erstens, dem fatalen Autarkiebestreben der Betriebe und Branchen, die damit versucht hätten, ihren Grundcharakter als gesellschaftliche Teilproduzenten permanent zu verleugnen und der Produktion nichtverwertbarer Tonnen noch eins draufzusetzen; zweitens, dem System der „Tolkatschi“, jener halblegalen Mittelsmänner, die mit nichts anderem als der Besorgung stofflicher Mittel auf inoffiziellen Wegen befasst gewesen seien. Zur Verdeutlichung bringt Stahlmann ein Zitat von A. Nove aus dessen Buch über das sowjetische Wirtschaftssystem:
„Der tolkac, wörtlich der Schieber, ist eine Art inoffizieller Versorgungsmakler, dessen Arbeit darin besteht, sich zu rühren, zu nörgeln, zu betteln, zu borgen und manchmal zu bestechen, damit die erforderliche Rohstoffe, Einzelteile und Ausrüstungen geliefert werden. Da der Versorgungsplan mit dem eigenen Produktionsplan und auch mit den Plänen der Lieferbetriebe übereinstimmen sollte, beweist schon die Existenz des tolkac, dass hier etwas im Argen liegt.“
Der dritte Konkurrenzmarkt, sei jener gewesen, den es am wenigsten hätte geben sollen, der aber wohl am meisten ausser Kontrolle gewesen sei – der Arbeitsmarkt.
Ein Drittel der Beschäftigten in der Sowjetunion habe jährlich den Arbeitsplatz gewechselt. Mit allen erdenklichen Mitteln, Wohnungen, Konsumgüterzuteilungen, Prämien etc. seien die Arbeiter abgeworben worden, gerade auf diesem nicht vorhandenen Markt hätten die Unternehmen am offensten konkurriert, weil es um Mehrwertproduzenten gegangen sei, die der Staat am freigebigsten subventioniert hätte.
Johanna W. Stahlmann schlussfolgert, dass diese spezifische Form der Konkurrenz, die nicht Verwohlfeilerung und Verbesserung zum Ziel gehabt habe, liesse sich einigermassen treffend als negative Konkurrenz betiteln.
Meiner Meinung nach gab es -rückblickend- gar keinen Sozialismus im 20. Jahrhundert, nicht in Russland, nicht in der DDR, nicht in China, nicht in Jugoslwawien, nicht in Kuba, nicht in Nord-Korea und auch nicht während der anarchistischen Revolution in Spanien 1936, so sehr ich auch mit allen diesen Ländern sympathisierte. Warum nicht? Nun, weil die Aufhebung des Kapitalismus erstens nur global gedacht werden kann, und zweitens “Kapital” nicht schon verschwindet, wenn sich lediglich die Eigentumsverhältnisse ändern.
Eine sozialistische Gesellschaft ist theoretisch auch in einem eng begrenzten Gebiet denkbar. Die Menschen dort müssten jedoch völlig autark leben. Ich denke dabei zum Beispiel an ein weltabgeschiedenes Kloster im Himalaya oder Robinson auf der Insel. Jedoch wäre auch an diesen Orten das Leben durch den Kapitalismus bedroht, sei es durch Klimakatastrophen oder schlicht deswegen, weil es an allen möglichen Ressourcen, weil es an allen Fähigkeiten der anderen Menschen mangeln würde.
@Christoph:
Aber Konkurrenz ist doch nicht zwangsläufig kapitalistisch. In jedem Wettkampf oder Turnier gibt es Konkurrenz, aber das macht sie nicht automatisch kapitalistisch. Und da wo es Knappheit gibt, gibt es zumindest immer ein sehr reales Risiko von Konkurrenz, sofern man es nicht schafft, mit dieser Knappheit auf andere Weise umzugehen. Im Realsozialismus ist das offensichtlich nicht gelungen, deshalb kam es zu Konkurrenz, aber was sollte daran spezifisch „kapitalistisch“ gewesen sein?
Dass sich der Realsozialismus dem kapitalistischen Weltsystem nicht komplett entziehen konnte und dass das seinen Charakter geprägt hat, darin würde ich übrigens durchaus mitgehen. Nur folgt daraus noch lange nicht, dass man ihn sinnvollerweise als bloße „Spielart“ des Kapitalismus analysieren kann.
@Christian
“Aber Konkurrenz ist doch nicht zwangsläufig kapitalistisch. In jedem Wettkampf oder Turnier gibt es Konkurrenz, aber das macht sie nicht automatisch kapitalistisch. Und da wo es Knappheit gibt, gibt es zumindest immer ein sehr reales Risiko von Konkurrenz ...”
Ja, Konkurrenz begegnet uns in vielen Lebensbereichen. Die Verteidiger der herrschenden Wirtschaftsweise sehen in der Konkurrenz sogar das wichtigste Prinzip der Wirtschaft und den Motor von Fortschritt, während manche Kritiker glauben, man könne die Konkurrenz beenden, wenn man Markt/Privateigentum durch Plan/kollektives Eigentum ersetzen würde.
Marx kritisierte hingegen: Die >>Konkurrenz muss es auf sich nehmen, alle Begriffslosigkeiten der Ökonomen zu erklären, während die Ökonomen umgekehrt die Konkurrenz zu erklären hätten<< (K III, 25/873). Doch >>begrifflich ist die Konkurrenz nichts als die innre Natur des Kapitals<< (Gr, 42/327). Die Konkurrenz, >>dieser wesentliche Lokomotor der bürgerlichen Ökonomie, etabliert nicht ihre Gesetze, sondern ist deren Exekutor. Illimited competition ist darum nicht die Voraussetzung für die Wahrheit der ökonomischen Gesetze, sondern die Folge – die Erscheinungsform, worin sich ihre Notwendigkeit realisiert.” (Gr, 42/457).
Was sind also die Gesetze, die die Konkurrenz in der Ökonomie erscheinen lassen?
Du sagst, es sei die Knappheit, bei der es immer ein sehr reales Risiko von Konkurrenz geben würde. Knappheit wovon? Knappheit von Wert! Oben hatte ich einen Artikel aus der NY-Times verlinkt, in dem der Versuch der USA und ihrer Verbündeten beschrieben wird, China von Hochtechnologie abzuschneiden. Der Konflikt hat das Potenzial zum Weltkrieg und worum geht es eigentlich? Da geht es doch nicht um Knappheit von Silizium oder einen anderen Gebrauchsgut, sondern um den Wettlauf zum historisch neuen Produktivitätslevel, das, demjenigen, der es als erster erreicht, zeitweise enorme Wertzuwächse in seiner Hemisphäre verspricht.
Die Initiative demokratische Arbeitszeitrechnung (IDA) hat zwischenzeitlich eine Replik zu der von Stefan Meretz an der Arbeitszeitrechnung geäußerten Kritik verfasst:
Arbeitszeitrechnung verhindert die Aneignung fremder Arbeit. Damit wird der Zwang, für andere zu arbeiten, abgeschafft und die Herrschaft von Menschen über Menschen effektiv überwunden.
Stefan Meretz, Mitbegründer des „Commons-Instituts“ in Bonn, hat unser Konzept der Arbeitszeitrechnung (AZR) einer Kritik unterzogen1. Wir wollen auf die elf von Meretz aufgeworfenen Kritikpunkte einzeln eingehen.
(1) Meretz beginnt mit dem Vorwurf, dass die Arbeitszeitrechnung weiterhin Warenproduktion sei und das Wertgesetz nicht abschaffe. In seiner Begründung argumentiert er scheinbar marxistisch, betrachtet die Kategorien der Arbeitszeitrechnung aber rein oberflächlich und begeht deshalb elementare Verwechslungen, die mit Marx selbst zu widerlegen sind: Bloß weil Produkte die Hände wechseln, gibt es keine Marktverhältnisse. Nur weil Produkte gegen Scheine die Hände wechseln, sind diese Scheine noch kein Geld (oder Lohn). Nur weil Produkte Arbeitszeit beinhalten und die Gesellschaft weiß, wie viel, gibt es noch keinen Wert. Und wenn Produkte arbeitsteilig hergestellt werden, sind sie deshalb noch keine Waren.2
Warenproduktion setzt dagegen Privatwirtschaft voraus, also die private Verfügung über die Mittel der gesellschaftlichen Produktion. Diese soll in der AZR gerade abgeschafft werden. So schreibt Marx im „Kapital“, dass die Arbeitszertifikate von Robert Owens, einem frühen Vorläufer der AZR, „ebensowenig ‚Geld‘ wie eine Theatermarke“ seien. Denn Owen setze „unmittelbar vergesellschaftlichte Arbeit voraus, eine der Warenproduktion diametral entgegengesetzte Produktionsform.“3 Auch Engels macht deutlich, dass der Wert verschwindet, wenn eine Gesellschaft „sich in den Besitz der Produktionsmittel setzt“ und deshalb „die in den Produkten niedergelegten Arbeitsquanta“ direkt in Zeit ausdrücken könne.4 Die vergesellschafteten Betriebe akkumulieren die Arbeitszertifikate auch nicht (diese gelten nur im Konsum). Das heißt dass die Betriebe ihre Produktion nicht verwerten müssen. Sie reproduzieren sich ausschließlich durch sinnvolle Planung, durch den Abgleich der Planungsgrößen mit den Daten vorheriger Planungszyklen.
(2) Weiter wird bemängelt, dass in der AZR die einfache und nicht die komplizierte Arbeit zählt und jede nominelle Stunde Arbeitszeit gleich vergütet wird. Dies führe zu Verwerfungen, etwa dass geringer Qualifizierte keinen „monetären Anreiz“ hätten, eine „höhere Arbeitsintensität“ zu erreichen. Wir entgegnen, dass ganz im Gegenteil gerade eine Gesellschaft, die ungleich entlohnt, keinen Anreiz hat, die komplizierte, gefährliche, dreckige Arbeit zu vereinfachen und zu automatisieren. Wieso Meretz hier überhaupt innerhalb der marktwirtschaftlichen Logik argumentiert, bleibt schleierhaft. Der einzige Anreiz an der Weiterbildung und der Vervielfältigung der eigenen Fähigkeiten sollte das eigene leidenschaftliche Interesse dafür sein.
Das Prinzip, dass jede Arbeitsstunde gleich zählt, mag primitiv sein, es ist aber eines, von dem die Ausgebeuteten dieser Welt unmittelbar profitieren. Denn bisher zählt ihre Arbeits- und Lebenszeit kaum etwas. Außerdem führt die Gleichheit aller Arbeitsleistungen dazu, dass man sich über die Verteilung unangenehmer Arbeiten verständigen muss. Es gibt also keine Fremdsteuerung durch Marktanreize – das sollte Commonisten doch gefallen. Das Prinzip der gleichen Arbeitsstunde taugt nicht trotz, sondern wegen seiner Einfachheit als ökonomisches Grundprinzip. Betriebe können „nach einem einfachen Additions-Verfahren“ Pläne erstellen5 und für gesellschaftliche Planung relevante Informationen können „von unten“ aggregiert werden.
(3) Aber führt der „Betriebsegoismus“ nicht dazu, dass Betriebe falsche Planangaben machen? Auch hier werden von Meretz wieder fälschlicherweise Konkurrenzverhältnisse unterstellt, während die AZR Gemeineigentum an Produktionsmitteln und eine genossenschaftliche Wirtschaftsweise voraussetzt. In der AZR kann „Arbeitszeitbetrug“ leicht aufgedeckt werden, weil alle Pläne öffentlich sind und es eine allgemeine Recheneinheit gibt, die Äpfel mit Birnen vergleichbar macht. Außerdem werden Betriebe, die unverhältnismäßig hohe Arbeitsstunden aufschreiben, kaum Abnehmer für ihre Produkte finden und sich deshalb nicht wie geplant reproduzieren können.
(4) Die öffentliche Buchhaltung wird von Meretz als „verkappte Zentralplanung“ dargestellt, die Pläne in Eigenregie ändert und koordiniert sowie „Genehmigungszwang“ ausübt, bis ein sinnvolles Ganzes entsteht. Dies trifft nicht zu. Stattdessen ist die öffentliche Buchhaltung eine schlanke Instanz, deren Aufgabe nur darin besteht, die betrieblichen Pläne zu veröffentlichen und die Kontobewegungen in Arbeitszeit zu registrieren.
Alle können dann anhand der Veröffentlichungen der Buchhaltung nachvollziehen, ob Betriebe und Branchen ihre Pläne erfüllt haben. Die Gesellschaft kann, muss aber nicht, allgemeingültige Regeln beschließen, die Konsequenzen für Betriebe beinhalten, die schlecht planen und deren Konten deshalb nicht ausgeglichen sind. Anders gesagt: Pläne und Konten sind für alle einsehbar, welche Schlüsse daraus gezogen werden, ist in der Theorie nicht vorgegeben.
Die öffentliche Buchhaltung bildet die Grundlage für ökonomisches Handeln ohne Ausbeutung und Kapitalakkumulation. Sie hat nichts mit einer zentralen Planung zu tun, sondern ist ein Wirkmechanismus für die effektive Zuweisung und Tilgung von Mitteln zur Erbringung produktiver Arbeit, ohne Ausbeutung der Arbeiter:innen und ohne willkürliche Preispolitik.
(5) Daraus ergibt sich schon, dass die öffentliche Buchhaltung kein „Schattenstaat“ ist, der mit „Zwangsmitteln“ ausgestattet den betrieblichen Interessen „entgegengesetzt“ ist. Wir denken jedoch, dass es durchaus ein Vorzug der Arbeitszeitrechnung ist, dass sie betriebliche Bilanzen überprüfbar und vergleichbar macht und, weil sie eine Recheneinheit kennt, allgemeine Wirtschaftsregeln ermöglicht. Wer die Notwendigkeit von gesellschaftlicher Kontrolle in Produktion und Verteilung ernsthaft bestreitet, muss sich vorwerfen lassen, ein zu idyllisches Bild des Übergangs zu einer nichtkapitalistischen Gesellschaft zu zeichnen – oder gar kein echtes Interesse daran zu haben.
(6) Dass gesellschaftliches Eigentum und die „Rechtsform“ fortbestünden ist ein weiterer Kritikpunkt. Wir finden diesen Umstand durchaus akzeptabel, vermutlich ist er, wie Marx in der Kritik des Gothaer Programms schrieb, in einer niedrigeren Phase der kommunistischen Gesellschaft sogar „unvermeidbar“. Wichtig ist uns eine realistische, nachvollziehbare Perspektive weg vom Staat und hin zu einer Selbstverwaltung der assoziierten Produzent:innen und Konsument:innen.6
(7) Eine „gesellschaftliche Spaltung in eine bezahlte und eine unbezahlte Sphäre“ bleibe bestehen und die Zuweisung von reproduktiven Tätigkeiten an Frauen werde nicht aufgehoben, so Meretz. Die Arbeitszeitrechnung kennt tatsächlich eine Spaltung, aber eine in notwendige Arbeit und freie Zeit, in ein Reich der Notwendigkeit, das zurückgedrängt und ein Reich der Freiheit, welches stetig ausgedehnt werden soll. Arbeitszertifikate würden die geschlechterhierarchische Arbeitsteilung7 grundlegend verändern. Ungleich entlohnte und bisher abgewertete (Care-)Arbeit würde gleich vergütet werden. Bisher unentlohnte Reproduktionsarbeit würde transparent gemacht, gesellschaftlich anerkannt und der Vergütung zugeführt.
(8) Die These, dass in der AZR das „Ausplünderungsverhältnis“ zur Natur bestehen bleibe, wird erneut mit Warenform und Wertlogik erklärt. In einer demokratisch geplanten Wirtschaft kann jedoch der Wachstumszwang überwunden, „äußere Natur“ geschont und letztere nicht mehr als bloßes Mittel zum Zweck missbraucht werden. Wo diese Änderung der Wirtschaftslogik nicht genügt, kann die Gesellschaft in kommunalen bis hin zu globalen Räten explizit politische Regeln finden, um beispielsweise den CO2-Ausstoß zu regulieren. Eine vergesellschaftete Wirtschaft bietet beste Voraussetzungen, diese auch durchzusetzen.
(9 und 10) Dadurch, dass Arbeiter:innen Arbeitszertifikate für den Konsum erhalten, werde „die eigene Existenz an den Zwang zur Arbeit geknüpft“, kritisiert Meretz, obwohl auch er natürlich weiß, dass frei zugängliche Vorsorge in der AZR vorgesehen ist. Warum „nicht gleich alles kostenlos für alle verfügbar machen?“, fragt Meretz und unterstellt: „Weil dann der Arbeitszwang wegfiele, ohne den das Konzept nicht funktioniert.“
Die Gründe, die für Arbeitszertifikate sprechen, sind andere: Das Einlösen von Arbeitszertifikaten kommuniziert ein wirkliches Bedürfnis, sie sind verlässliche Signale, welche Konsummittel nachgefragt werden. Weil die Maßeinheit sowohl der Arbeitszertifikate wie der Planangaben „Stunden“ lautet, können Produktion und Konsum leicht in Gleichgewicht gehalten werden. Die Zertifikate sorgen dafür, dass die Konsument:innen mit der Sphäre der Produktion verbunden sind, sich für ihr Funktionieren interessieren: Wenn ich morgen für einen Laib Brot die doppelte Stundenzahl ausgeben muss, habe ich ein vitales Interesse an der Arbeit der Bäckerei. Zertifikate sind Ausdruck und Mittel eines nicht-entfremdeten und ausbeutungsfreien Verhältnisses der Konsument:innen-Produzent:innen zu ihrem Produkt.
(11) Schließlich stimmen wir zu, dass die AZR und unsere App „anschlussfähig“ sind, nicht jedoch, weil der Arbeitszwang „im Kapitalismus schon implementiert“ ist, sondern weil nur eine Zeitrechnung einer postkapitalistischen Gesellschaft die Mittel in die Hand gibt, Ausbeutung, Wertgesetz und Staat endlich „ins Museum der Altertümer“ (Engels) zu versetzen.
Die AZR ist ein schlanker Rahmen für die allgemeine Befriedigung von Bedürfnissen. Sie verunmöglicht kapitalistische Ausbeutung. Sie gibt den verschiedenen politischen Ebenen einer Gesellschaft erst den nötigen Raum, um alle gesellschaftlichen Fragen ohne die Daumenschraube des Kapitals im Sinne von Mensch und Umwelt zu verhandeln – Fragen, die im Detail keine noch so schlaue Theorie je zu lösen vermag.
Dass unsere Theorie, wie Meretz richtig erkannt hat, relativ „einfach“ ist, liegt daran, dass sie nur Grundprinzipien erläutern und den Beschlüssen der assoziierten Produzent:innen und Konsument:innen nicht vorgreifen will. Diese sind die wirklichen Expert:innen. In der betrieblichen Praxis und in der Eroberung der Produktion liegen die wirklichen Schwierigkeiten. Der Kommunismus ist deshalb das Einfache, das schwer zu machen ist, nicht andersherum.
Quelle:
https://arbeitszeit.noblogs.org/post/2024/06/24/abschaffung-des-arbeitszwangs/