Geldfreie Produktion (1): Subsistenz, Zentralplanung, Commons
(Voriger Artikel: Verteilung ohne Geld?)
[Dieser Text entstand im Rahmen des von der Volkswagenstiftung geförderten Forschungsprojekts Die Gesellschaft nach dem Geld.]
Produktion verstehe ich in einer umfassenden Weise, die in Anlehnung an Dalton (1971: 25) den Versorgungsprozess mit notwendigen und gewünschten Tätigkeiten und Gütern umfasst. Zuhause essen kochen oder die Kinder ins Bett bringen ist in diesem Sinne ebenso Produktion wie das Installieren einer Software auf einem Computer oder die Herstellung des Computer.
Bei der Frage, wie produziert wird, ist zunächst zwischen Produktion für den erweiterten Eigenbedarf und Produktion für allgemeine andere zu unterscheiden. Mit „erweitertem Eigenbedarf“ ist dabei die Produktion für sich selber ebenso wie für Verwandte und Bekannte gemeint – für Personen, zu denen eine persönliche Beziehung besteht. Wenn ich für mich oder meine Familie Essen koche oder einem Freund das Fahrrad repariere, ist das erweiterter Eigenbedarf; baue ich ein Bett oder einen Computer zusammen, ohne zu wissen, wer diese später nutzen wird, ist das Produktion für allgemeine andere. Produktion für allgemeine andere kann auch dann stattfinden, wenn diejenigen, für die produziert wird, der Produzentin persönlich bekannt sind, aber zu den meisten Nutznießern der Produktion keine über den Produktionsprozess hinausgehende persönliche Beziehung besteht. Klempnerinnen, Friseure und die meisten anderen Dienstleisterinnen treffen ihre Kunden und in manchen Fällen erwachsen aus solchen Begegnungen gute Freundschaften, aber die persönliche Beziehung ist in aller Regel nicht ausschlaggebend für die Durchführung der Dienstleistung.
Heute ist Produktion für den erweiterten Eigenbedarf meistens unbezahlt und die für allgemeine andere meistens bezahlt, aber beides ist nicht immer so. Wer sich ehrenamtlich etwa in einer Suppen- oder „Volxküche“ engagiert, produziert unbezahlt für allgemeine andere; umgekehrt wird bei regelmäßig wiederholten Tätigkeiten wie etwa Nachhilfe oder Babysitting auch im guten Bekanntenkreis gelegentlich eine Bezahlung vereinbart.
Die Produktion für den erweiterten Eigenbedarf ist ein wichtiger Teil des Produktionsprozesses in jeder Gesellschaft, der oft wenig gewürdigt und tendenziell „vergessen“ wird, wie insbesondere Feministinnen zurecht beklagen (vgl. z.B. Kratzwald 2014). Historisch gesehen war diese Produktionsweise in subsistenzorientierten Ökonomien dominant – Subsistenzproduktion ist Produktion in überschaubaren Gruppen für den gemeinsamen Eigenbedarf, was durchaus als Produktion für den erweiterten Eigenbedarf aufgefasst werden kann, da die Gruppe für zumindest lose Beziehungen aller ihrer Mitglieder untereinander sorgt.
Die Dunbar-Hürde
Darin liegt freilich auch die im vorigen Artikel bereits benannten Begrenzung von Subsistenzproduktion: Da sie auf persönlichen Beziehungen aufbaut, funktioniert sie vor allem im Kleinen. Ich bezeichne dies als Dunbar-Hürde, nach der vom Anthropologen Robin Dunbar identifizierten Dunbar-Zahl, die die Anzahl von Personen angibt, zu denen jemand persönliche Beziehungen unterhalten kann. Typischerweise wird die Dunbar-Zahl mit „um die 150“ angegeben, wobei sie individuell zwischen etwa 100 und 250 schwanken kann (vgl. Wikipedia: Dunbar-Zahl).
Gruppen, die sich durch ein hohes Maß an Subsistenzorientierung und Produktion für den gemeinsamen Eigenbedarf auszeichnen und dabei auf Vermittlungsformen wie Geld oder ausgeprägte soziale Hierarchien verzichten, überschreiten die Dunbar-Zahl fast nie. Nomadische Jäger-und-Sammler-Kulturen – die älteste Gesellschaftsform der Menschheitsgeschichte – leben in Gruppengrößen von selten mehr als 50 Personen zusammen. Moderne Kommunen (intentional communities) wie Twin Oaks in den USA und die Kommune Niederkaufungen in Deutschland überschreiten selten die Größe von 100 Mitgliedern. Auch diejenigen Projekte für Solidarische Landwirtschaft (Solawi, engl. CSA = community-supported agriculture), die die anfallenden Kosten in solidarisch-selbstorganisierten Bieterrunden aufteilen, haben sehr selten mehr als 150 Anteile (wobei ein Anteil zu mehreren Personen, etwa einer Familie, gehören kann, was aber auf die Struktur der Solawi keinen direkten Einfluss hat). Auch der (noch unveröffentlichte) Beitrag von Lars Heitmann zum Forschungsprojekt Die Gesellschaft nach dem Geld zeigt, dass Projekte, die weitgehend oder komplett auf Geld zu verzichten versuchen, die Dunbar-Hürde nur in den seltensten Fällen überschreiten. Dasselbe gilt für die von Friederike Habermann (2009) beschriebenen „Halbinsel“-Projekte.
Meiner Ansicht nach ist das kein Zufall. Kleinere Gruppen können gerade deshalb auf feste Preise und andere Mechanismen zur Kopplung von individuellen Beiträgen (Kosten) und Nutzungen verzichten, weil sie überschaubar genug sind, um alle notwendigen Entscheidungen in direkter Kommunikation zu vereinbaren. So treffen sich bei Bieterrunden alle Solawi-Mitglieder face-to-face und gehen erst dann wieder auseinander, wenn alle erwarteten Kosten aufgeteilt wurden.
Jenseits der Dunbar-Zahl – in Gruppen mit mehreren hundert, tausenden oder mehr Mitgliedern – wird die direkte Kommunikation aller mit allen rasch unmöglich und kein Gruppenmitglied kann noch persönliche Kontakte zu allen anderen Mitgliedern unterhalten. Derartige größere Zusammenhänge jenseits der Dunbar-Hürde dürften aber auch in Zukunft für die Organisation der produktiven Prozesse unentbehrlich sein – wie im vorigen Artikel erörtert, dürfte Subsistenzproduktion in kleinen Gruppen kein praktikables oder jedenfalls kein wünschenswertes Modell für eine postkapitalistische Zukunft sein. Neben der Produktion für den erweiterten Eigenbedarf in überschaubaren, auf gegenseitiger Bekanntschaft aufbauenden Gruppen wird es auch künftig die Produktion für allgemeine andere brauchen, bei der sich Produzentinnen und Konsumenten/Nutznießer im Regelfall nicht oder höchstens flüchtig kennen.
Zentralplanung?
Bei der Produktion für allgemeine andere lässt sich wiederum zwischen zentraler und dezentraler Koordination unterscheiden. Zentral meint dabei nicht unbedingt die ganze Welt oder ein ganzes Land, wohl aber, dass es für ein bestimmtes geografisches Gebiet (z.B. eine Stadt oder einen Landstrich) einen gesamtgesellschaftlichen Produktionsplan gibt, der (Entnahme- und Nutzungs-)Rechte sowie (Beitrags-)Pflichten aller Einwohner dieses Gebiets verbindlich regelt. Ein solcher Produktionsplan könnte dabei durchaus demokratisch erstellt werden. Alle melden ihre konsumtiven und produktiven Wünsche an. Anschließend wird daraus ein gesamtgesellschaftlicher Produktionsplan erarbeitet, der die unterschiedlichen Wünsche möglichst gut unter einen Hut zu bringen versucht und jeder Personen ihren Platz im Produktionsprozess zuweist, bevor er zur Abstimmung gestellt wird. Erst nach bestandener Abstimmung wird der Plan „abgearbeitet“.
Ob das praktikabel wäre, ist fraglich. Aber selbst wenn, würde ein solcher Zentralplanungsprozess den einzelnen keine Freiheit lassen. Wenn er das Geld als Vermittlungsinstrument ersetzen will, müsste der Plan sowohl die Aufgaben (Pflichte) als auch die Konsummöglichkeiten (Rechte) jeder Person festlegen, ohne dass diese dem zwangsläufig zustimmen wird. (Einem demokratisch beschlossenen Plan hätte zwar die Mehrheit der Bevölkerung, aber keineswegs alle zugestimmt – dass eine komplexe Gesellschaft mit Zehntausenden oder Millionen von Mitgliedern irgendeine nicht völlig triviale Entscheidung im Konsens aller Mitglieder verabschiedet, ist praktisch ausgeschlossen).
Zentralplanung – selbst in relativ lokalisierten Zusammenhängen mit vielleicht nur einigen Zehntausend Mitgliedern – ist also hochgradig problematisch nicht nur in Hinblick auf ihre Praktikabilität, sondern auch in Hinblick auf die Festschreibung der individuellen Handlungsmöglichkeiten der involvierten Personen.
Dezentrale Koordination und Gegenseitigkeit
Bei dezentraler Koordination entscheiden hingegen die einzelnen Individuen, was sie tun und was sie konsumieren/nutzen möchten, ohne sich darüber zuvor mit allen anderen verständigen zu müssen. Dabei hängen ihre Möglichkeiten freilich auch von Entscheidungen von anderen ab. Einzelne entscheiden sich zudem nicht notwendigerweise individuell, sie können sich freiwillig zu Organisationen (z.B. Vereine, Betriebe, Projekte) zusammenschließen oder kollektive Entscheidungen im Familien- oder Freundeskreis treffen.
Dezentral organisierte Produktion für allgemeine andere bedeutet, dass Einzelpersonen oder Organisationen für andere Personen oder Organisation produzieren; ebenso kann es vorkommen, dass die Mitglieder einer Organisation gemeinsam nur für sich selbst produzieren. Sieht man vom letzterem Falle zunächst ab (unten werde ich unter dem Stichwort „Commons“ darauf zurückkommen), fallen Produzenten und Nutznießer der Produktion also auseinander. Die Frage stellt sich dann, ob eine Gegenseitigkeit (Gegenleistung) explizit vereinbart, implizit erwartet oder gar nicht erwartet wird.
Keine Gegenseitigkeit erwartet wird etwa von Wohltätigkeitsorganisationen, bei Hobby- und Freizeitaktivitäten, deren Ergebnisse anderen Personen frei zugänglich gemacht werden (wenn etwa ein Hobbychor zu einem kostenlosen Konzert einlädt) sowie bei Akten der Hilfsbereitschaft gegenüber Unbekannten. Wer einer anderen Person den Weg erläutert, erwartet nicht, von dieser Person später einmal selbst eine Wegbeschreibung oder irgendeine andere Gegenleistung zurückzukommen.
Bei Geschenken und Gefallen im Freundeskreis wird hingegen eine spätere Gegengabe implizit erwartet, auch wenn man dies nie explizit aussprechen oder gar „einklagen“ würde. Wer einer Freundin beim Umzug geholfen hat, ist enttäuscht, falls diese später ohne Angabe von Gründen die Hilfe beim eigenen Umzug verweigert; hat man einem Freund ein Geburtstagsgeschenk gemacht, ist man etwas irritiert, falls dieser zur eigenen Geburtstagsfeier ganz ohne Mitbringsel auftaucht. Dies ist das von Polanyi als Reziprozität oder Gegenseitigkeit bezeichnete Organisationsprinzip.
Explizit vereinbarte Gegenseitigkeit ist der im Kapitalismus vorherrschende Modus – hier einigen sich zwei Parteien auf einen Vertrag, der Leistung und Gegenleistung festlegt. Nur wenn sich beide Seiten einigen können, kommt die Transaktion überhaupt zustande. Hält sich eine Seite nicht an den ausgehandelten Vertrag, kann die andere ihn (notfalls vor Gericht) einklagen oder eine Rückgabe der von ihr selbst bereits erbrachten Leistungen einfordern. Explizit vereinbarte Gegenseitigkeit muss aber nicht unbedingt einen „Rechtsweg“ kennen; denkbar ist statt eines einklagbares Vertrags etwa auch eine vor Zeugen geschlossene Vereinbarung. In diesem Fall würde eine Beteiligte, die die Vereinbarung ohne gute Gründe bricht, zumindest bloßgestellt und es würde ihr in Zukunft womöglich schwerfallen, weitere Vereinbarungen mit anderen einzugehen. Als Überbegriff für beides – Verträge mit Rechtsweg und Vereinbarungen ohne – werde ich den Begriff „Abkommen“ verwenden.
Das alte römische Recht unterschied zwischen drei Arten von Verträgen (oder, allgemeiner, Abkommen):
- do ut des: ich gebe, damit du gibst, z.B. Kaufverträge, Mietverträge oder Kredit (eine Partei gibt jetzt eine gewisse Geldsumme, die andere zahlt später mehr zurück).
- do ut facias: ich gebe, damit du machst (oder von der anderen Seite aus betrachtet: facio ut des – ich mache, damit du gibst), z.B. Arbeits- oder Dienstleistungsverträge.
- facio ut facias: ich mache, damit du machst – gegenseitige Verpflichtungen, z.B. ein Verteidigungsbündnis (bei dem sich alle Beteiligten verpflichten, zu Hilfe zu komme, falls einer von ihnen angegriffen wird) oder ein Ehevertrag (bei dem sich zwei Personen verpflichten, sich gegenseitig bis ins hohe Alter umeinander zu kümmern und der anderen bei Krankheit und anderen Notlagen zur Seite zu stehen).
Zu beachten ist, dass die ersten beiden Vertragsformen asymmetrisch sind, während die dritte nicht immer, aber oft symmetrisch ist (beide Seiten verpflichten sich, das gleiche zu machen, z.B. sich gegenseitig im Notfall zu Hilfe zu kommen). Die erste Vertragsform mag symmetrisch aussehen (beide Seiten „geben“), funktioniert aber nur, wenn beide Unterschiedliches geben – andernfalls ändert sich durch den Vertrag nichts und er ist für beide Seiten entbehrlich.
Geld kommt bei der dritten Art von Verträgen nicht vor, aber bei den ersten beiden Arten dürfte es in aller Regel eine Rolle spielen. Irgendeine Art von „Zwischentauschgut“ (Gabler Wirtschaftslexikon) oder „allgemeinem Äquivalent“ (Karl Marx) taucht dort normalerweise auf mindestens einer Seite als das auf, was „ich gebe“ oder „du gibst“. Ohne Geld können solche Verträge nur Naturaltausch-Transaktionen erfassen, was gegenüber der geldbasierten Variante so unflexibel ist, dass es nur in Ausnahmefällen in Frage kommen dürfte.
Commons
Kritikerinnen dieser römischen Rechtskonzeption werden bemängeln, dass sie unvollständig ist – insbesondere fehlt das Konzept der Commons, das sich auf gemeinsam hergestellte, gepflegte und genutzte Produkte und Ressourcen und die Art und Weise von deren Herstellung und Nutzung bezieht. Das Management klassischer Commons, die sich um materielle Ressourcen (etwa Weideland oder ein Bewässerungssystem) drehen, kann man als eine vierte Art von Abkommen beschreiben:
- Wir machen, damit wir bekommen.
Wo bei den römischen Vertragstypen zwischen „ich“ und „du“ unterschieden wird – beide gehen Verpflichtungen ein, aber in der Regel unterschiedliche (jedenfalls bei den ersten beiden Vertragstypen) –, fallen bei den Commons alle Beteiligten zu einem gemeinsamen „wir“ zusammen. Auch hier haben die Beteiligten Rechte und Pflichten, die aber für alle gleichermaßen gelten. Die „Früchte“ eines Commonssystems (etwa das Wasser aus einem Bewässerungssystem) werden unter allen Beteiligten in einer gemeinsam vereinbarten Weise aufgeteilt, die dafür sorgt, dass niemand zu kurz kommt. In analoger Weise werden die Kosten aufgeteilt, etwa indem bestimmte Aufgaben im Wechsel von je einer der beteiligten Parteien übernommen werden und sich alle beteiligten Parteien (oft Familien) an gelegentlichen Arbeitseinsätzen zu Wartung oder Ausbau des Commons durch Entsendung einer arbeitsfähigen Person beteiligen (vgl. Ostrom 1999 für die Analyse diverser derartiger Arrangements).
Pflichten und Rechte sind dabei untrennbar verbunden – klassische Commons sind kein „free lunch“, auch bei ihnen handelt es sich um eine Art explizit vereinbarter Gegenseitigkeit. Da Rechte und Pflichten meist in Form von Sachleistungen erbracht werden, handelt es sich bei solchen Commonssystemen aber oft um eine Art des geldfreien Wirtschaftens.
Die neuen, digitalen Commons gehen darüber hinaus, sie funktionieren nicht nur geldfrei (jedenfalls aus Nutzersicht), sondern verzichten auch auf die Erwartung von Gegenseitigkeit. Alle dürfen die Wikipedia lesen oder mittels des Webbrowsers Firefox surfen, ohne selbst Artikel oder Programmcode schreiben zu müssen. Wer sich in irgendeiner Weise beteiligen will, ist dazu herzlich eingeladen, aber alle anderen sind als bloße Nutzerinnen ebenfalls willkommen.
Welche von diesen produktiven Interaktionsmöglichkeiten wären noch möglich, wenn das Geld wegfallen würde? Ich würde davon ausgehen, dass dies den weitgehenden Wegfall der ersten beiden römischen Rechtstypen – „Ich gebe, damit du gibst“ bzw. „damit du machst“ – bedeuten müsste. In Ausnahmefällen könnten diese noch in Form von Naturaltausch-Abkommen vorkommen (statt Geld werden konkret-nützlichen Güter ausgetauscht). Doch sobald es um mehr als nur Ausnahmen geht, dürfte wegen dessen größerer Flexibilität sehr schnell irgendeine Form von Geld (etwa „IOUs“ – „I owe you“ = ich schulde dir so und so viel) auftauchen.
Was bliebe, wären also
- Explizit vereinbarte Gegenseitigkeit in Form symmetrischer statt asymmetrischer Abkommen – die dritte römische Form „Ich mache, damit du machst“ und die Commons-Form „Wir machen, damit wir bekommen.“
- Implizit erwartet Gegenseitigkeit, etwa bei Geschenken und gegenseitiger Hilfe im Bekanntenkreis.
- Verzicht auf jede Erwartung von Gegenseitigkeit wie bei Hobbyproduktion und digitalen Commons.
Die radikalsten Verfechterinnen einer geldfreien Welt gehen davon aus, dass mit diesem zusammen auch jede Form von explizit oder implizit erwarteter Gegenseitigkeit verschwinden wird. Dann bleibe nur die dritte der genannten Möglichkeiten. Aber auch wenn man alle drei Möglichkeiten für weiterhin legitim hält, bleiben bei mir Zweifel, ob der Wegfall der asymmetrischen „Ich gebe, damit du gibst/machst“-Abkommen durch sie komplett zu ersetzen wäre.
Symmetrische Abkommen wie bei klassischen Commons sind für viele Fälle zu unflexibel. So kennen klassische Commons normalerweise keine Arbeitsteilung im Sinne einer Ausdifferenzierung und -spezialisierung – alle Aufgaben werden von allen Beteiligten anteilig oder im Wechsel übernommen. Grundsätzlich ist zwar auch eine differenzierte Aufgabenteilung denkbar (A kümmert sich immer um eine Sache, B um eine andere), doch erfordert das sehr hohen Abstimmungsaufwand, da alle Beteiligten die gefundene Ausdifferenzierung als fair akzeptieren müssen. Hier kommt wiederum die Dunbar-Hürde ins Spiel, wobei die Zahl von Beteiligten, für die solche individuellen Absprachen praktikabel sind, eher noch kleiner als die Dunbar-Zahl sein dürften. Ein paar dutzend Parteien werden sich vielleicht noch individuell absprechen können, wer welche Aufgabe übernimmt, bei Hunderten oder Tausenden geht das nicht mehr.
Gleichzeitig sind selbst bei individuell ausdifferenzierten Beiträgen die Entnahme- bzw. Nutzungsrechte in Commons für alle grundsätzlich gleich – alle haben Anspruch auf ihren Anteil der produzierten „Früchte“. Und in aller Regel werden nur wenige Arten von Produkten über ein Commonssystem verteilt – man bekommt vielleicht Zugang zu Wasser, zu lokal angebautem Gemüse oder zu Brennholz. Nun nutzt jede im Kapitalismus lebende Person aber Hunderte oder Tausende unterschiedlicher Produktkategorien – und welche das sind und wie intensiv sie genutzt werden, unterscheidet sich von Person zu Person ganz beträchtlich. Manche verreisen gern und viel; manche trinken regelmäßig Cocktails oder edlen Whisky; manche haben Haustiere, die versorgt werden müssen; viele essen Fleisch, während andere den Konsum von Fleisch oder sogar von jeglichen tierischen Produkten als unethisch ablehnen; unterschiedliche Menschen haben ganz verschiedene Hobbys, für deren Ausübung meistens diverse Produkte erforderlich sind.
Wie könnte ein und dasselbe Commonssystem für diese ganz unterschiedlichen Bedürfnisse sorgen? Es gibt darauf nur eine Antwort: gar nicht – die Vielzahl der „Früchte“ und der dafür nötigen Beitrage sowie Beteiligten wäre viel zu groß, als dass sich alle Beteiligten auf ein einheitliches Regelwerk zur Verteilung von Früchten und Pflichten einigen könnten. Um derartig vielfältige Bedürfnisse gemäß Commons-Prinzipien zu befriedigen, müssten Menschen somit nicht nur an einem, sondern an einer ganzen Reihe unterschiedlicher Commonssysteme teilnehmen – und also auch für jedes von ihnen die individuell anfallenden Beiträge leisten. Das aber dürfte zu einer extrem zerfaserten Lebensstruktur führen, weil man sich immer wieder in ganz unterschiedlichen Kontexten auf sehr verschiedene Weise betätigen muss. Gleichzeitig könnte sich niemand richtig spezialisieren; statt eine oder einige wenige Sachen „richtig gut“ machen zu können, würde man vieles nur oberflächlich lernen und immer mal wieder für kurze Zeit ausüben. Wahrscheinlich würde die sich so ergebene Vielfältigkeit des Tuns manchen gefallen, aber bei anderen dürfte sie zu Stress und Überforderung führen.
Manche Aufgaben lassen sich auf diese Weise auch gar nicht lösen – ein Gesundheits-Commons, das auf spezialisierte Ärztinnen und Pfleger verzichtet und stattdessen alle anfallenden Aufgaben gleichmäßig unter seinen Mitgliedern aufteilt, dürfte deren Gesundheit eher abträglich sein. Aber die Beschäftigung von Profis, die bezahlt werden und sich deshalb einer Sache widmen können, statt noch in Dutzenden anderen Commonssystemen mitwirken zu müssen, würde dem Paradigma einer geldfreien Produktion widersprechen. In eine ähnliche Richtung würde es gehen, wenn unterschiedliche Commonssysteme vereinbaren, sich Beiträge zu einem von ihnen gegenseitig anzuerkennen, wie ich in meinem Buch Beitragen statt tauschen (Siefkes 2008) vorgeschlagen habe. Denn dafür bräuchte es zwar nicht unbedingt Geld, wohl aber eine diesem sehr ähnliche Verrechnungseinheit, die es ermöglicht, geleistete Beiträge „auf einen Nenner“ zu bringen und vergleichbar zu machen, um so entscheiden zu können, wer wie viel beitragen muss und wann es genug ist. (In meinem Buch wird diese Verrechnungseinheit „gewichtete Arbeit“ genannt.)
Aber, statt derartig weiterhin Geld oder etwas diesem recht Ähnliches zu brauchen, könnte man ja vielleicht auch auf jede Art von Verrechnung verzichten? Vielleicht widmet sich die Ärztin der Gesundheit anderer und vertraut dabei darauf, dass andere sich darum kümmern, dass sie genug zu essen und eine schöne Wohnung bekommt, dass auch ihr Haustier satt wird und sie zweimal im Jahr einen ausgedehnten Urlaub machen kann? Um derartige Vorstellungen wird es im nächsten Teil gehen.
(Fortsetzung: Stigmergie und Selbstauswahl)
Literatur
Dalton, George (1971). Economic Anthropology and Development. Essays on Tribal and Peasant Economies. New York: Basic Books.
Habermann, Friederike (2009). Halbinseln gegen den Strom. Königstein (Taunus): Ulrike Helmer.
Kratzwald, Brigitte (2014): Das Ganze des Lebens. Selbstorganisation zwischen Lust und Notwendigkeit. Sulzbach (Taunus): Ulrike Helmer.
Ostrom, Elinor (1999): Die Verfassung der Allmende. Tübingen: Mohr.
Siefkes, Christian (2008): Beitragen statt tauschen. Neu-Ulm: AG SPAK Bücher. URL: http://peerconomy.org/wiki/Deutsch.
Mein Problem bleibt leider bestehen. – Die gesamte Betrachtung (man sieht es an den Beispielen) setzt von zwei Seiten her an, der Freiheit der individuellen Lebensgestaltung („produktive Wünsche, konsumtive Bedürfnisse“), und der Frage des Ineinander-Flechtens dieser Wünsche: Die (Nicht)Erfüllung deines produktiven Wunschens ins Verhältnis gesetzt zur (Nicht)Erfüllung meines konsumtiven, und umgekehrt (oder im Kreis herum, jenseits der Dunbar-Zahl).
Die Frage wird nicht einmal gestellt, und offensichtlich nicht für ein Problem gehalten: Wie die Einzelproduktionen, zu denen sich Leute und/oder Gruppen (innerhalb des Dunbar-Limits) „wünschend“ oder gestaltend stellen können, miteinander Sinn-machend technisch verknüpft werden können. Können Leute denn auch „produktive Wünsche“ hinsichtlich der Art der Gesamtproduktion geltend machen? Da, wo zb knappe Produktions-Ressourcen auf Zwecke aufgeteilt werden, da wo über Fortschrittsoptionen verhandelt wird, oder über den Umgang mit Risiken? Das sind Zwecke, von deren Umsetzung nicht nur massenhaft Leute existenziell betroffen sind, sondern bei denen auch vorrangig gefragt werden muss: Wer ÜBERHAUPT JE die betreffenden Zusammenhänge (heute im weltweiten Masstab) übersieht. Ich habe anderswo geschrieben: Schön, wenn sie was haben, worüber sie streiten oder abstimmen oder sich einigen können. Die Dunbar-Zahl ist doch nicht das einzige Hindernis dabei.
Die simple Vorstellung ist die, dass die Einzelproduktion (Betrieb) ins Gesamt der Produktion irgendwie additiv eingeschaltet ist: Schön, wenn sie ihren Beitrag leistet, man kann ihn aber auch weglassen. Tatsächlich aber verbraucht sie unter modern-arbeitsteiligen Vorgaben Ressourcen, tatsächlich hängt von ihrer Arbeitsleistung (der ihrer Branche) ab, dass es an zahllosen anderen Stellen weitergeht. Die Entscheidung, „nur noch ökologisch“ oder nach cradle-to-cradle-Prinzipien zu produzieren, betrifft nie nur diese Branche, sondern ALLE. Und da sind ganz andere Hürden zu überwinden als die Dunbar-Zahl.
„Geld“ ist eine Form der Steuerung, die nur funktioniert, weil immer häufiger existenzielle Fragen im Zusammenhang mit dem vernetzten Produktionsprozess einfach ignoriert werden. Solche Fiktionen wie der mündige Verbraucher, der den ganzen Tag zubringt mit Produktinformationen, und durch sein Kaufverhalten in Masse irgendwelche Neu-Allokationen zuwegebringt – die sollen dann ergänzend hinzutreten, die Masse der bürgerlichen Robinsons macht es. Oder der Staat, mit Regulierung. Aber er kommt nicht hinterher.
Jenseits davon.. gibts nichts mehr. Beinah alle existenziellen Risiken, mit denen wir von Tag zu Tag mehr konfrontiert sind, einschliesslich des Geltendmachens von „produktiven und konsumtiven Wünschen“ der Einzelnen (als hätten sie nicht noch ganz andere) – ökologische, politische (die Wohlstands- und Bildungsgefälle in der Welt), die Frage der Risiken einer zwar hyper-produktiven, aber zugleich extrem wenig robusten oder nachhaltigen globalen Arbeitsteilung (damit sind fast alle „produktionsarchitektonischen“ Problemstellungen angesprochen, etwa Rohstoff-Recycling und cradle-to-cradle), schliesslich die Frage, wieviel Reichtum auf welche Art der Forschung und technische Entwicklung verwendet werden sollte – sie erfordern Stellungnahmen zum Gesamt dieser Produktion, die unendlich weit jenseits dessen liegen, was Christian für erwägenswert hält.
Und das ist nicht Christians Problem. Sondern das von uns allen. Es sich stellen, heisst: wissen, dass es unter Beibehaltung des jetzigen Produktionsnivraus nicht lösbar ist. Und kein Kapitalismus oder Nicht-Kapitalismus hilft da weiter.
#Zusammenfassung: Ich versteh nicht so ganz die Grundaussage des Textes. Kannst du mir sagen ob diese Zusammenfassung hinkommt: Du sagst oberhalb der Dunbar-Hürde wird Abstimmung schwierig. Du diskutierst verschiedene Formen expliziter Gegenseitigkeit anhand des römischen Rechts. Sagst, dass ohne Geld nur die Dritte „Ich mache, damit du machst“ möglich ist. Dann gibts noch die „Commons“-Form „Wir machen, damit wir bekommen“. Diese zwei („symetrische“) Formen expliziter Gegenseitigkeit sind ohne Geld noch möglich, aber sind nicht komplex genug um eine arbeitsteilige Gesellschaft zu vermitteln. Sie tendieren deshalb wieder Richtung Geld. Im nächsten Text willst du dich mit impliziter Gegenseitigkeit und nicht erwarteter Gegenseitigkeit auseinandersetzen. Stimmt das so in etwa?
#Commons und Vermittlung: Die große Schwierigkeit dieses Textes scheint mir, dass du gesellschaftliche Vermittlung nicht denkst. Du wiederholst immer wieder, dass Menschen sich absprechen müssen und nur von den Leuten mit dene sie sich absprechen bekommen sie auch was. Vl kommt das ja im nächsten Text, mal gucken. Und ist hier nicht anders denkbar, weil du versuchst zu argumentieren, dass auf dieser Ebene expliziter Gegenseitigkeit es gar nicht anders als interpersonal gehe kann.
Die Lösung liegt für mich eben im überschreiten des (von dir interpersonalisierten) Commons-Gedankens: „Wir machen, damit wir bekommen“ in Richtung gesellschaftlicher Ebene. Gesellschaftlich gilt die Notwedigkeit wir können nur das nutzen was wir hergestellt haben, aber individuell nicht. Dann gibt es auch Möglichkeiträume und ist Freiwilligkeit denkbar. Aber halt nur wenn die interpersonale Ebene eines WG-Commonismus „wir müssen uns halt alle absprechen“ überschritten wird mit einem Begriff transpersonaler, gesellschaflticher Vermittlung. Na mal gucken, was da noch kommt.
Ich hatte auch sofort den Gedanken: Es gibt noch (mindestens) eine andere Hürde. Einen schönen Namen dafür habe ich nicht, aber was ich meine sind komplexe, ineinander-geschachtelte, sachliche Verkettungen von Arbeitsschritten. Das meiste, was heute als Produktion ausgeführt wird, ist nichts, wo recht unmittelbar ein Bedürfnis von jemandem (u.U. anderem) befriedigt wird, sondern wo füreinander Voraussetzungen für weitere Arbeitsschritte ausgeführt werden. Schon alleine die sachliche Abstimmung dafür erfordert eine komplexe Vermittlung. Die ganze Produktion von Produktionsmitteln fällt hier herein.
Das mit Commons zu denken, wäre etwas ganz Neues.
So ganz umfassend scheint mir der gewählte Produktionsbegriff nicht zu sein. Die Produktion von Klimaveränderungen, Plastikmüll, Überfischung usw. bleibt dabei vornehm ausgeklammert. So kann die Frage nach zentralen Festlegungen auch auf globaler Ebene natürlich nicht sinnvoll diskutiert werden. Wie ein zentraler Rahmen für das produktive Für- und Voneinander auch auf globaler Ebene aussehen könnte, zeigt etwa Kate Raworth’s Doughnut Ecconomics. https://www.kateraworth.com/doughnut/
@franziska:
Um es, falls das nicht offensichtlich ist, nochmal klar zu machen: Mir geht es in dieser kleinen Artikelserie nur um die Kritik an hier und anderswo kursierenden naiv-kommunistischen Vorstellungen (wie ich sie ja früher selbst vertreten habe), die viele reale Probleme unterschätzen oder gar nicht erst in den Blick nehmen. Es geht hier (noch) nicht um die Alternative, darum, wie es stattdessen gehen könnte. Das ist natürlich ein sehr wichtiges Thema, das aber gesondert zu behandeln ist.
@Simon: Ja, deine Zusammenfassung trifft es ganz gut.
Du verwendest „gesellschaftliche Vermittlung“ als wäre das eine Black Box, die einerseits nicht mit Inhalt gefüllt werden muss und andererseits (gerade deshalb!) alle Probleme löst. Aber alles was ich hier und in den anderen Texten diskutiere, sind ja Formen gesellschaftlicher Vermittlung. Natürlich ist es denkbar, dass es noch weitere Formen gibt, mit denen sich die von mir genannten Probleme auf eine elegante und geldfreie Weise lösen lassen. Die müssten denn aber auch konkret beschrieben werden, ansonsten bleibt deine „gesellschaftliche Vermittlung“ eine Worthülse.
Wieso das? Verträge und Vereinbarungen können genauso gut eine Organisation (Betrieb, Verein, Staat …) auf einer oder beiden Seiten stehen haben, tatsächlich ist das ja sogar viel üblicher als zwischen zwei Einzelpersonen geschlossene Verträge.
Grundsätzlich ist das sicher richtig, muss aber jedenfalls noch genauer ausgeführt und ausgefüllt werden. Ein Poolmodell wie aus meinem „Beitragen statt tauschen“ geht ja etwa in diese Richtung.
@Annette:
Damit beschäftige ich mich im zweiten, heute erschienenen Teil. Einen griffigen „Hürde“-Begriff habe ich dafür allerdings auch nicht.
@HHH:
Das Doughnut-Modell erörtert ja nur Rahmenbedingungen für nachhaltig mögliche Produktion, sagt aber nichts darüber aus, wie diese eingehalten werden können. So richtig der Verweis auf die planetaren Grenzen ist — erst wenn man den Rahmen versucht mit Inhalt zu füllen, wird es spannend. Klar ist dabei, dass eine globale Planwirtschaft theoretisch diese Grenzen sehr leicht respektieren könnte — nur hätte sie eben wieder ganz andere Probleme. Alles nicht so einfach.
@Christian:
Was meinst du mit „konkret“? Wann ist eine Aussage für dich „konkret“?
@Stefan:
Ich denke, dass ist keine streng binäre Unterscheidung. Um hinreichend konkret zu sein, muss eine Aussage jedenfalls über Phrasen wie „gesellschaftliche Vermittlung“ oder „die Menschen werden sich dazu dann absprechen“ hinausgehen. Und aus ihr muss hervorgehen, warum die von mir geäußerten Kritikpunkte nicht greifen (wenn sie denn nicht greifen).
@Christian: Deine Antwort ist mir zu „unkonkret“, nein, ich verstehe sie einfach nicht. Keine binäre Unterscheidung — was meinst du? Die Kategorie „gesellschaftliche Vermittlung“ als Phrase abzuwerten, beantwortet meine Frage nicht. Und warum eine Kritik nicht greift, hat doch nichts mit Konkretheit, sondern mit dem inhaltlichen Gehalt zu tun.
Nochmal: Wann ist eine Aussage für dich „konkret“? Du forderst Konkretheit, also musst du auch mal sagen, was das für dich ist. Wie soll ich (oder wer auch immer) deine Forderung sonst erfüllen?