Wie der Kapitalismus entstand
Und was uns das über die Entstehungsvoraussetzungen der nächsten Gesellschaft lehrt
[Alle »Keimformen«-Artikel in Streifzüge 60/2014]
Die US-amerikanische Historikerin Ellen Meiksins Wood befasst sich in ihrem sehr lesenswerten Buch The Origin of Capitalism: A Longer View (London: Verso, 2002, Seitenangaben nachfolgend in Klammern) mit der Frage nach der Entstehung des Kapitalismus. Ihre Antwort ist dabei sowohl originell als auch plausibel, weshalb sie eine nähere Betrachtung verdient. Im Folgenden sollen zunächst Woods – im deutschsprachigen Raum bislang wenig diskutierte – Erkenntnisse vorgestellt werden. Anschließend erörtere ich kurz, wie weit ihre Rekonstruktion dem Keimform-Modell geschichtlicher Entwicklungen entspricht, wobei ich einige für die Keimformtheorie problematische Differenzen sehe. Dreht man Woods Analyse der Entstehungsvoraussetzungen des Kapitalismus um, erkennt man Merkmale, die eine Produktionsweise aufweisen muss, um nicht zwangsläufig wieder beim kapitalistischen Modell zu landen – das Thema des letzten Teils dieses Artikels.
Provokant ist das Buch, weil es die verbreitete Annahme, der Kapitalismus sei eine „natürliche“ und unvermeidliche Produktionsweise, negiert. In der Mainstream-Sicht entspricht der Kapitalismus der menschlichen Natur. Er musste sich daher entwickeln, sobald die ihm entgegenstehenden Hindernisse beseitigt waren. Oft werden frühere Gesellschaften als Proto-Kapitalismen aufgefasst, die das kapitalistische Modell nur noch nicht vollständig umsetzen konnten. Marxist_innen weisen die Natürlichkeit des Kapitalismus zurück, sehen ihn aber oft als notwendige Etappe in der Menschheitsgeschichte an. Die Geschichte wird hier als logische Abfolge von Produktionsweisen gesehen, die im Dreischritt Feudalismus – Kapitalismus – Kommunismus münden soll. Jede spätere Produktionsweise wird dabei als „höher“ oder „besser“ als die vorigen aufgefasst. Wood will von alledem nichts wissen, sie hält den Kapitalismus nicht für „natürlich“ und betont, dass seine Entwicklung aus dem Feudalismus heraus keineswegs zwingend, sondern Ergebnis historischer Zufälle war.
Wood benennt zunächst einige spezifische Merkmale des Kapitalismus (2f):
- Die Menschen hängen vom Markt ab, um ihre Lebensmittel zu erwerben, in anderen Worten: um zu überleben.
- Ebenso brauchen Produktionseinheiten (Firmen) den Markt, um die nötigen Produktionsmittel zu erwerben und die hergestellten Waren zu verkaufen.
- Aneignung/Bereicherung erfolgt über Marktmechanismen wie den Kauf von Arbeitskraft, nicht über außerökonomische Mechanismen wie unmittelbaren Zwang (anders als bei direkten Abhängigkeitsverhältnissen, etwa im Feudalismus).
- Alle sind vom Markt abhängig und daher gezwungen, sich den Marktgesetzen zumindest so weit zu unterwerfen, dass ihr weiteres Überleben (ob als Mensch oder Firma) gesichert ist. Alle werden also gezwungen, gegen andere zu konkurrieren, da sie sich nur so auf dem Markt durchsetzen können. Firmen sind zudem zur Profitmaximierung gezwungen, da sie nur so Investoren gewinnen und halten können.
- Der Konkurrenzzwang erfordert ein permanentes Streben nach Steigerung der Produktivität, etwa durch technische oder organisatorische Innovationen. Wer dies besser macht als andere, gewinnt einen temporären Vorteil; wer es schlechter macht oder sich dem Innovationsstreben ganz verweigert, geht unter.
- Das Ziel jede_r Kapitalist_in (und damit, wenn man so will, des Kapitalismus selbst) ist die möglichst rasche Vermehrung des eingesetzten Kapitals – die Kapitalist_in als Privatperson mag andere Ziele haben, aber als Unternehmer_in muss sie so handeln, um ihre Investoren zufriedenzustellen. Die zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungenen Menschen haben in der Regel andere Ziele, dienen aber zwangsläufig dem Ziel der Kapitalvermehrung.
Woods Frage ist nun: Wie kam es überhaupt dazu, dass diese sehr spezifische Art der gesellschaftlichen Reproduktion entstanden ist und sich innerhalb weniger Jahrhunderte über fast die ganze Erde ausbreiten konnte? Sie kritisiert (3f), dass die meisten Darstellungen der Entstehung des Kapitalismus zirkulär sind. Sie setzen den „Geist des Kapitalismus“ – den Drang zur Gewinnmaximierung – ebenso voraus wie eine allgemeine Tendenz zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Dabei sind dies zwei spezifische Merkmale der kapitalistischen Produktionsweise, die anderen Gesellschaften fremd sind. Eine Erklärung der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus muss also auch erklären, wie dieser Drang und diese Tendenz entstanden und warum sie sich so rasch verbreiten konnten.
Wo und wie entstand dieses seltsame System?
Wood betont, dass der „Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus“ nicht als allgemein westeuropäisches Phänomen aufgefasst werden kann. Der Feudalismus entwickelte sich in verschiedenen Ländern auf unterschiedliche Weise, und nur eine davon – nämlich die englische – führte zum Kapitalismus (73). Das entscheidende Moment in der Entstehung des Kapitalismus sieht sie in der Durchsetzung von Eigentums- und Produktionsverhältnissen, die die Marktteilnahme zum Zwang machten und damit die Produzierenden dem kapitalistischen Bewegungsgesetz – der Notwendigkeit, sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen – unterwarfen (76).
Diese spezifischen Verhältnisse entwickelten sich nicht in der Stadt, sondern auf dem Land, und zwar im England des 16. Jahrhunderts. Auch vorher und anderswo wurden die direkten Produzent_innen (auf dem Land Bauernfamilien) durch eine privilegierte Klasse (im Feudalismus die Grundherren) ausgebeutet, doch fand dies mittels außerökonomischer Mittel statt, durch Androhung von direktem Zwang. Im absolutistischen Frankreich gab es etwa eine Klasse von Amtsinhabern, deren Ämter das Recht zur Erhebung von Abgaben und Steuern mit sich brachten. Der Zugang zu solchen lukrativen Ämtern wurde durch gute Beziehungen ermöglicht oder direkt gekauft; wer die Steuern verweigerte, dem drohte die Staatsgewalt. Zugleich hatten die Bauern jedoch dauerhafte Rechte an ihren Produktionsmitteln, also in erster Linie dem von ihnen bebauten Land – sie durften es vielleicht nicht ohne Zustimmung verlassen, konnten aber auch nicht vertrieben werden.
Im England des 16. Jahrhunderts änderte sich das. Dieser Entwicklung war ein Machtkampf zwischen dem englischen König und den Grundherren und Stadtregierungen vorausgegangen, bei dem letztere den Kürzeren gezogen hatten. Dadurch hatte die Monarchie im Unterschied zu anderen europäischen Staaten eine ungewöhnlich starke Position bekommen, die den einzelnen Grundherren kaum Macht zur außerökonomischen Bereicherung durch Steuern oder Fronarbeit ließ. Zugleich war ein besonders hoher Anteil des Bodens formales Eigentum einer relativ kleinen Klasse von Grundherren. Es wurde von Pächtern bewirtschaftet, die nur temporäre Besitzrechte an dem bearbeiteten Land erhielten. Dagegen hatten in Frankreich und anderen Ländern die Bauern zumindest per Gewohnheitsrecht dauerhafte Rechte an ihrem Land und konnten nicht einfach vertrieben werden (98ff).
Auch in England hatte bis dahin Gewohnheits- und teils auch geschriebenes Recht die Bedeutung dieser Eigentumsverhältnisse eingeschränkt: Land wurde in der Regel für sehr lange Zeiträume verpachtet, die Höhe der Pacht blieb dabei unverändert und war durch Gewohnheit oder Gesetze beschränkt. Doch nachdem die Machtkonzentration bei der Krone es den Grundherren unmöglich machte, durch direkten Zwang mehr Abgaben aus ihren Pächtern herauszupressen, blieb ihnen nur die Erhöhung der Pacht zur Bereicherung. Ab dem 16. Jahrhundert machten sie zunehmend von dieser wirtschaftlichen Macht Gebrauch. Nachdem einige der Grundherren mit der Praxis begonnen hatten, die verlangten Mieten so weit zu erhöhen, wie der Markt es hergab, weckte dies die Begehrlichkeiten anderer Grundherren, so dass die Praxis immer weiter um sich griff.
Konnte ein Pächter die höhere Pacht nicht zahlen, konnte der Grundherr ihn vor die Tür setzen und das Land an jemand anders vermieten. Die Pächter und potenziellen Pächter wurden so gezwungen, gegeneinander zu konkurrieren und dabei möglichst effizient zu arbeiten. Die Pächter waren somit die Ersten, die – nicht aus eigenem Antrieb, sondern unter dem Zwang der Verhältnisse – lernen mussten, wie Kapitalisten zu denken und sich um Innovationen zur Erhöhung der Erträge bei gleichbleibendem Aufwand oder zur Verringerung des Aufwands bei gleichbleibenden Erträgen zu bemühen (100f).
Hier sieht Wood den Ausgangspunkt des Kapitalismus, da die Ausbeutung erstmals auf wirtschaftlichem Wege stattfand, durch nominell frei ausgehandelte Verträge zwischen den Eigentümern der Produktionsmittel – den Grundherren – und den eigentumslosen direkten Produzenten. Anders als im Feudalismus herrscht hier kein direktes, offenes Gewaltverhältnis mehr, sondern es ist ihre Eigentumslosigkeit, die die direkten Produzenten zwingt, ihre Arbeitskraft oder einen Teil ihrer Erträge an die Eigentümer abzutreten, um im Gegenzug Zugang zu den Produktionsmitteln zu erhalten (95f).
Ausbreitung der Lohnarbeit – der Markt wird allgemeiner Zwang, die Commons werden zerstört
Die Farmer, die sich an die Anforderungen der Konkurrenz nicht schnell genug anpassten, verloren mit dem gepachteten Land die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu sichern, und vergrößerten die Masse der Eigentumslosen. Einige fanden ein Auskommen als Angestellte ihrer Nachfolger oder anderer erfolgreicher Pächter. Zuvor war Lohnarbeit in der Landwirtschaft selten gewesen. In der Regel bearbeiteten die Pächter ihr Land selbst, unterstützt durch ihre Familien. Durch den beginnenden Einsatz von Lohnarbeit konnten die erfolgreichen Farmer größere Flächen bearbeiten als zuvor. Die insgesamt erforderliche Arbeit sank durch die zunehmende Konzentration und von der Konkurrenz erzwungene Produktivkraftsteigerungen. Die dadurch steigende Zahl der Eigentumslosen, die auf dem Land nicht mehr „gebraucht“ wurden, schuf die Voraussetzungen für die Entstehung des englischen Industriekapitalismus (103).
Während in nichtkapitalistischen Gesellschaften Märkte immer nur eine Nebenrolle etwa für die Versorgung mit Luxusgütern spielen, wird der Markt erst mit dem Kapitalismus zur zentralen Instanz für alle. Wer kein Eigentum hat, muss versuchen, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, um sich die benötigten Lebensmittel kaufen zu können. Wer selbst nicht benötigtes Eigentum hat und es nicht einfach ungenutzt lassen will, muss versuchen, es über den Markt zu vermehren, was irgendeine Form der Beteiligung an kapitalistischen Unternehmen erfordert. Die Unternehmen müssen Arbeitskraft und andere benötigte Produktionsmittel auf dem Markt einkaufen und die hergestellten Waren verkaufen. Dadurch sind alle den Marktgesetzen unterwerfen, ob sie wollen oder nicht: Sie müssen sich gegen die Konkurrenz durchsetzen, was voraussetzt, ebenso produktiv oder nach Möglichkeit produktiver zu wirtschaften. Das Streben nach möglichst weitgehender Entwicklung der Produktivkräfte ist dem Kapitalismus deshalb inhärent. In nichtkapitalistischen Gesellschaften war die Produktionsweise hingegen eher statisch – niemand hatte Anlass, systematisch nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen, während im Kapitalismus alle permanent dazu gezwungen sind (97).
Dieses Streben nach Produktivitätssteigerungen wurde im englischen Agrarsektor sowohl für Grundherren als auch für Pächter rasch zum Schlüsselprinzip, das unter dem Begriff improvement verhandelt wurde. Das Wort gewann dabei erst später seine heute allgemeine Bedeutung „Verbesserung“, es leitet sich von derselben Wurzel wie „Profit“ ab und bedeutete „profitable(r) machen“ (106). Improvement beinhaltete somit auch das Streben nach Profitmaximierung. Wer weniger profitabel war, blieb im Konkurrenzkampf gegen andere Pächter auf der Strecke. Später sorgte die Notwendigkeit, Investoren zu gewinnen und bei der Stange zu halten und genug finanzielle Mittel für Neuinvestitionen anzusammeln, dafür, dass die Maximierung der Profite im Kapitalismus nie freiwilliges Ziel, sondern Pflicht war.
Möglichkeiten zum improvement boten nicht nur verbesserte Werkzeuge (wie Pflüge mit Rädern) und Anbautechniken (wie Fruchtfolge), sondern auch „Optimierungen“ der Eigentumsrechte. Allmenden (gemeinschaftlich genutzte Weiden) und traditionelle „Jedermanns“-Rechte etwa zum Sammeln von Feuerholz und nach der Ernte übrig gebliebenem Getreide wurden als „rückschrittliche“ Verwertungshindernisse betrachtet, die es zu beseitigen galt. Dieses Programm wurde vom 16. bis zum 19. Jahrhundert äußerst erfolgreich umgesetzt und als „Einhegung der Allmenden“ (enclosure of the commons) bekannt. Da aber viele Menschen auf diese Allmende-Gebiete und Jedermanns-Rechte für ihren Lebensunterhalt angewiesen waren, schuf ihre Zerstörung eine zunehmende Zahl von Eigentumslosen. Diese zogen zunächst als Vagabunden durchs Land, standen dem sich verbreitenden Kapitalismus aber auch als Arbeitskräfte zur Verfügung (107f).
Anfangs leistete die Monarchie diesen Einhegungen noch ansatzweise Widerstand, allein schon weil die Vertriebenen die öffentliche Ordnung bedrohten. Mit der bürgerlichen „Glorious Revolution“ Ende des 17. Jahrhunderts war es damit vorbei. Im 18. und 19. Jahrhundert erließ das durch die Revolution gestärkte Parlament eine Reihe von Gesetzen, die weitere Einhegungen vornahmen und die traditionellen Commons-Rechte annullierten (109).
Die Abhängigkeit der englischen Pächter vom Markt war also die Ursache für die Entstehung eines eigentumslosen Proletariats. Sie selbst waren nicht zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen, aber sie mussten die für ihre Reproduktion erforderlichen Mittel (insbesondere Land) auf dem Markt kaufen oder mieten, und das setzte die kapitalistische Dynamik in Gang. Der massenhafte Einsatz von Lohnarbeit kam erst später als Resultat dieser Entwicklungen (131).
Den Vertriebenen blieb oft nur die Abwanderung in die Städte, wo sie zum Proletariat wurden. Besonders groß war der Zuwachs in London, das rasch zur größten Stadt Europas wurde. Landesweit verdoppelte sich zwischen 1500 und 1700 die Anzahl der Stadtbewohner_innen relativ zur Gesamtbevölkerung. In absoluten Zahlen nahm sie sogar noch mehr zu, da die steigende Produktivität der englischen Agrikultur ein deutlich schnelleres Bevölkerungswachstum ermöglichte als in den anderen europäischen Staaten. So schuf der ursprüngliche englische Agrarkapitalismus die Voraussetzungen für den städtischen Industriekapitalismus (132f).
In London und anderen britischen Städten entstanden erstmals Massenmärkte für günstige, allgemein benötigte Güter. Die vorkapitalistischen Märkte hatten sich zumeist auf Luxusprodukte und den Austausch von Überschüssen konzentriert, da die meisten Menschen Selbstversorger waren oder durch nichtmarktförmige Beziehungen versorgt wurden (z.B. feudale Grundherren durch Abgaben der ihnen hörigen Bauern). In den Städten war keine Selbstversorgung möglich; die dorthin abgewanderten Massen mussten Lebensmittel und Textilien einkaufen.
Vorkapitalistische Händler hatten oft wenig Konkurrenz gehabt – sie kauften an einem Ort billig und verkauften anderswo teurer, profitierten also von der Fragmentierung der Märkte. Nicht selten waren sie durch Monopolprivilegien vor Konkurrenz geschützt, in anderen Fällen beschränkten die Schwierigkeiten des überregionalen Handels die Konkurrenz. Dagegen zwang die räumliche Konzentration der städtischen Märkte alle, die hier erfolgreich verkaufen wollten, in direkte Konkurrenz zueinander. Nur wer auf Effizienz achtete und die sich bietenden Möglichkeiten zum improvement ausnutzte, konnte langfristig bestehen. So sorgte die Verstädterung dafür, dass die in der Landwirtschaft entstandenen kapitalistischen Bewegungsgesetze – Konkurrenzkampf, Streben nach Produktivitätssteigerungen und Profitmaximierung – auf immer weitere Bereiche der Produktion übergriffen (134).
Im Unterschied zu früheren Gesellschaften sind die Käufer_innen im Kapitalismus auf den Markt angewiesen, um ihr Überleben zu sichern. Sie können nicht nur, sie müssen auch kaufen. Neu war auch, dass die meisten Käufer nur über bescheidene Mittel verfügten und sparsam sein mussten, da der Verkauf der eigenen Arbeitskraft ihre einzige Einnahmequelle war. Um erfolgreich zu sein, mussten die Produzenten diese massenhafte Nachfrage nach günstigen Alltagsprodukten befriedigen. Entsprechend wichtig war es, möglichst effizient und preisgünstig zu produzieren, um die Konkurrenz abzuhängen, und das war in Fabriken eher möglich als in kleinen Betrieben. Zugleich stellten die in die Städte vertriebenen, eigentumslosen Massen erstmals ein großes Potenzial günstig mietbarer Arbeitskräfte dar, das eine auf den Massenmarkt ausgerichtete Produktion in Fabriken überhaupt erst möglich machte. Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts in England beginnende „industrielle Revolution“ war die logische Konsequenz (138ff).
Der Kapitalismus expandiert in alle Welt
Bei der Produktion für die lokalen urbanen Märkte blieb es nicht. Der britische Kapitalismus begann – verstärkt ab dem 18. Jahrhundert – den Weltmarkt einzubeziehen, sowohl als Abnehmer fertiger Waren als auch als Rohstofflieferant. Auch ein neues Bankensystem entstand, das auf die Unterstützung kapitalistischer Firmen und Handelsbeziehungen ausgerichtet war (135f). Gleichzeitig zwang der von Großbritannien ausgehende Druck die Staaten, mit denen es in politischen oder Handelsbeziehungen stand, sich gemäß dem englischen Vorbild umzuorientieren und selbst kapitalistisch(er) zu werden. Für die anderen europäischen Staaten war dies schon deshalb nötig, um gegen England als potenziellen militärischen Konkurrenten nicht den Kürzeren zu ziehen. Und die Kolonien und Übersee-Handelspartner wurden als Käufer und Rohstofflieferanten unmittelbar in den kapitalistischen Prozess eingebunden (142f, 175).
In Irland praktizierte England ab dem 16. Jahrhundert eine Kolonialisierungspolitik, die auch für die Übersee-Kolonien typisch wurde. Der Formen des heimischen Kapitalismus wurden exportiert – zunächst Agrarkapitalismus mit vom Markt abhängigen Pächtern –, wobei insbesondere die höheren Positionen meist mit Engländern besetzt wurden. Die Kolonien sollten dabei nicht zu Konkurrenten auf dem Weltmarkt ausgebaut werden, sondern von England abhängig bleiben. Als Irland im 17. Jahrhundert „zu erfolgreich“ zu werden drohte, erließ die englische Regierung restriktive Gesetze, die seine weitere Entwicklung ausbremsten. Ähnliche Methoden wurden später in den Übersee-Kolonien angewandt – nicht nur von England, sondern auch von den anderen sich kapitalisierenden europäischen Kolonialstaaten. Zum festen Programm gehörte die Enteignung der Einheimischen und die Zerstörung ihrer traditionellen, oft commons- und subsistenzorientierten Eigentums- und Produktionsverhältnisse. Stattdessen wurde die Bevölkerung zur Marktkonkurrenz gezwungen, auch durch Besteuerung und Handelsbeziehungen (153ff).
Was wäre ohne England passiert? Gab es nicht auch im Rest Europas unabhängige Entwicklungen, die ebenfalls zum Kapitalismus geführt hätten? Wood betrachtet die Situation außerhalb Englands und kommt zu dem Schluss, dass es dafür keine Anzeichen gibt. Die kapitalistischen Bewegungsgesetze finden sich weder in den unabhängigen Stadtstaaten Italiens noch in bedeutenden Handelsnationen wie Holland, Zentralstaaten wie Frankreich oder den frühen Kolonialreichen Spanien und Portugal. Überall dominierten weiterhin Formen der außerökonomischen Bereicherung (73ff, 148ff).
Entstand der Kapitalismus aus einer Keimform?
Woods Rekonstruktion der Kapitalismusentstehung ist eine Weiterentwicklung und Präzisierung von Marx’ Darstellung der „sogenannten ursprünglichen Akkumulation“ im Kapital (Bd. 1, Kap. 24). Kernelemente ihrer Erklärung – Enteignung der Landbevölkerung von Grund und Boden, Entstehung der kapitalistischen Pächter, Pressung der Enteigneten in die Lohnarbeit durch Mangel an Alternativen sowie Zwangsgesetze, Entwicklung des städtischen Industriekapitalismus als Konsequenz der Umbrüche auf dem Land – finden sich bereits bei Marx. Bei ihm bleibt allerdings offen, was genau diese Kettenreaktion auslöste. Wood liefert die Erklärung nach: die für den späten englischen Feudalismus charakteristische Trennung von ökonomischer Macht (Landbesitz) bei den Grundherren und politischer Macht bei der Monarch_in.
Wood macht auch deutlich und plausibel, dass sich diese Entwicklung zunächst nur in einem Land (Großbritannien) vollzog und der Kapitalismus von dort seinen Siegeszug in alle Welt antrat, während Marx die Entwicklungen anderswo nicht weiter thematisiert. Eine denkbare Alternative wäre, dass in anderen europäischen Ländern unabhängig von der englischen Situation ähnliche Entwicklungen stattfanden, weil die „Zeit reif war“ für den Kapitalismus oder weil der Feudalismus den Keim der Gesellschaft, die ihn ablösen sollte, schon in sich trug und sich zwangsläufig zum Kapitalismus weiterentwickeln musste. Wood weist solche geschichtsphilosophischen Annahmen einer logischen Abfolge von Gesellschaftsformen, der zufolge eine (mutmaßlich „weniger entwickelte“ oder „niedrigere“) Gesellschaftsform zwangsläufig in eine bestimmte andere („entwickeltere“ oder „höhere“) Gesellschaft übergehen muss, vehement zurück. Ihrer Meinung nach ist der Kapitalismus vielmehr kontingent – es gab auch ganz andere Gesellschaftsformen, die sich aus dem Feudalismus heraus entwickeln konnten (wie sie etwa anhand des französischen absolutistischen Staats zeigt) und dass der Kapitalismus überhaupt entstand, hing von den spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen im England des 16. Jahrhunderts ab.
Wie gut passt Woods Rekonstruktion der Kapitalismusentstehung zur Keimformtheorie, die Thema dieses Hefts ist (vgl. den Artikel „Keimform und gesellschaftliche Transformation“)? Ziel der Theorie ist, zu verstehen, wie etwas qualitativ Neues im Rahmen einer existierenden Gesellschaftsform entstehen und weit genug gedeihen kann, um diese schließlich abzulösen.
Versucht man, die beschriebenen fünf Schritte (Keimform-Entstehung, Krise, Funktionswechsel, Dominanzwechsel und Umstrukturierung) der Darstellung bei Wood zuzuordnen, ergeben sich einige Schwierigkeiten. Als Keimform (1) lässt sich gut der von Wood beschriebene „englische Agrarkapitalismus“ des 16. Jahrhunderts erkennen, in dem die Grundherren ihr Land zu Marktpreisen vermieten und die Pächter in ein Konkurrenzverhältnis untereinander zwingen. Wesentliche Elemente des Kapitalismus sind hier bereits vorhanden (Produzenten sind auf den Markt angewiesen, konkurrieren gegeneinander, müssen daher möglichst effizient produzieren), auch wenn andere Elemente (Lohnarbeit, Überleben der Menschen hängt vom Markt ab) noch weitgehend fehlen.
Auch die Krise (2) ist erkennbar, doch hier beginnen die Schwierigkeiten. Bei Wood ist die Krise der englischen Grundherren (der Verlust ihrer politischen Macht) der Auslöser für die Entstehung der Keimform. Bei Meretz kommt die Keimform dagegen unabhängig von der Krise zur Welt, diese erleichtert ihr nur die weitere Verbreitung.
Dementsprechend ist der Funktionswechsel (3), bei der das Neue zum wichtigen Element im alten System wird (aber diesem noch untergeordnet bleibt), bei Wood kaum zu erkennen. Sollte er in der Sorge aller Beteiligten – Grundherren wie Pächter – um improvement, um die möglichst effiziente Verwertung ihres (ggf. nur gepachteten) Eigentums liegen? Wohl kaum, denn hier agieren alle Beteiligten bereits als Kapitalisten (also gemäß der neuen Logik), auch wenn die Grundherren nur aufgrund ihrer privilegierten Position im alten System in diese Lage geraten sind. Eine Unterordnung unter den Feudalismus ist nicht feststellbar, auch wenn Feudalherren zu den Nutznießern dieser Entwicklung gehören.
Als Schritt 4 (Dominanzwechsel) kann die Ausweitung der kapitalistischen Produktion in immer weitere Lebensbereiche und parallel dazu in immer mehr Länder angesehen werden, bei der eine zunehmende Zahl von Menschen in Lohnarbeitsverhältnisse gezwängt wird und traditionelle commons- oder subsistenzorientierte Lebensweisen zerstört werden. Der Umstrukturierung des Gesamtprozesses (5) zuzuordnen ist die Beseitigung anachronistisch gewordener feudaler Strukturen – als frühes Element etwa die „Glorious Revolution“, bei der die Macht der Monarch_in zugunsten eines von Grundherren und wohlhabenden Bürgern besetzten Parlaments eingeschränkt wurde. Allerdings besagt dies nicht allzu viel, da diese beiden Momente logischerweise in jedem Umbruchsprozess auftreten müssen, der sich nicht schlagartig, sondern Schritt für Schritt vollzieht.
Mit Theorie der Keimformen in weiterem Sinne kann die Einsicht gemeint sein, dass gesellschaftliche Umbrüche nicht über Nacht „vom Himmel fallen“ und sich nicht auf einen einzelnen politischen Akt (sei es eine Revolution oder ein Parlamentsbeschluss) reduzieren lassen, sondern aus bescheiden wirkenden Anfängen – Keimformen – hervorgehen, die erst nach und nach größer und wirkmächtiger werden. In diesem Sinne ist auch der Kapitalismus aus einer Keimform entstanden. Die Angemessenheit von Meretz’ spezifischem Fünfschritt-Modell für den von Wood beschriebenen Prozess scheint hingegen fragwürdig. Zumindest die Reihenfolge der ersten beiden Schritte – muss die Keimform der Krise stets vorausgehen und unabhängig von dieser entstehen? – und die Trennung von Schritt 3 und 4 in zwei separate „qualitative Sprünge“ sind zu überdenken.
Was wir über die Entstehungsvoraussetzungen des „Postkapitalismus“ lernen können
Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, egal wie gut wir sie verstehen, doch kann ein besseres Verständnis der Vergangenheit Perspektiven für die Zukunft eröffnen. Daher lohnt es sich, Woods Buch unter der Fragestellung zu betrachten, welche Lehren sich aus den beschriebenen Prozessen für die Entwicklung der nächsten, postkapitalistischen Gesellschaft ziehen lassen.
Zunächst kann ihre Absage an geschichtsphilosophische Vorstellungen ernüchternd wirken, der zufolge sich der Kapitalismus keineswegs zwingend aus dem Feudalismus heraus entwickeln musste, sondern es auch ganz anders hätte kommen können. Wenn seine Entstehung von ganz spezifischen Voraussetzungen abhing, die nur zufällig im 16. Jahrhundert in einem damals eher unbedeutenden Land auftraten, heißt das dann nicht, dass sein Abtreten aus der Weltgeschichte und seine Ablösung durch ein hoffentlich besseres Modell ebenso zufällig sind? Dass die Menschheit womöglich noch für sehr lange Zeit im kapitalistischen Verwertungskreislauf festsitzen könnte?
Gesagt ist dies freilich nicht, da der Kapitalismus aufgrund seiner Tendenz, alle verfügbaren Ressourcen für den Markt zu erschließen und die Produktivkräfte bis aufs Äußerste weiterzuentwickeln, immense Dynamiken freisetzt. Feudalismus und andere vorkapitalistische Gesellschaften waren dagegen eher statisch. Diese Tendenz führt immer wieder zu Krisen, Not und Umweltzerstörung und lässt jede Hoffnung auf einen „gezähmten“, harmonischen Kapitalismus zur Illusion werden. Doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass ihn dies über seine Grenzen hinaustreiben und zwangsläufig eine andere, nichtkapitalistische Produktionsweise herbeiführen müsste. Zwar hat die Produktivkraftexplosion die theoretische Möglichkeit einer Gesellschaft geschaffen, in der die Re/produktion bedürfnisorientiert zum Wohle aller erfolgt, ohne irgendjemand viel Arbeit abzuverlangen. Ob diese Möglichkeit aber eines Tages Realität wird, hängt vom Handeln der Menschen ab und kann nur aufgrund der kapitalistischen Dynamiken keineswegs postuliert werden – im Gegenteil wird es ja gerade deren Überwindung erfordern.
Woods Buch gibt aber auch Hinweise dazu, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit diese Überwindung grundsätzlich gelingen kann. Sie benennt die spezifischen Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung. Relevant ist hier insbesondere die Trennung der politischen von der wirtschaftlichen Sphäre; die Notwendigkeit, auf dem Markt gegen andere zu konkurrieren, um den eigenen Lebensunterhalt zu sichern; und schließlich die Entstehung einer Klasse von eigentumslosen Proletarier_innen, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben und deshalb gezwungen sind, sich den Befehlen eines Kapitalisten, der ihnen Lohn verspricht, zu unterwerfen. Wo diese Bedingungen herrschen, ist damit zu rechnen, dass sich die kapitalistische Logik – oder etwas ihr sehr Ähnliches – immer wieder reproduzieren wird. Gesellschaftliche Prozesse haben nur dann eine Chance, zur Basis einer besseren, postkapitalistischen Produktions- und Lebensweise zu werden, wenn sie diese Bedingungen überwinden. Das bedeutet:
- Aufhebung der Sphärentrennung von Politik, Wirtschaft (Produktion) und privatem Haushalt (Reproduktion). Die gesellschaftliche Re/produktion wird stattdessen als Gesamtprozess gestaltet.
- Die Menschen konkurrieren nicht miteinander, wenn es ums Überleben oder die allgemein übliche gesellschaftliche Teilhabe geht. Das heißt auch (aber nicht nur), dass niemand auf den Markt angewiesen ist, um die eigene Existenz zu sichern. Denn es gibt keine bedeutenden Märkte ohne Konkurrenz, wohl aber Konkurrenz ohne Markt.
- Niemand muss sich den Vorgaben anderer unterwerfen, sondern die Menschen begegnen sich auf Augenhöhe. Wichtig ist dies nicht nur zur Abgrenzung von kapitalistischen Firmen, in denen die Lohnabhängigen den Vorgaben des Managements folgen müssen, sondern auch um einen Rückfall in persönliche Abhängigkeitsverhältnisse – wie sie für den Feudalismus und viele andere vorkapitalistische Gesellschaften charakteristisch waren – zu vermeiden.
Nur gesellschaftliche Entwicklungen, die diese drei Merkmale aufweisen, haben eine Chance, den Kapitalismus grundsätzlich zu überwinden, ohne selbst wieder ähnlich problematische Effekte hervorzubringen. Das bedeutet eine klare Absage an den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und andere „marktsozialistische“ Ansätze. Problematisch sind aber auch Vorschläge, die den Markt ablehnen, die Menschen aber weiterhin in Konkurrenzverhältnisse zur Lebenssicherung zwingen, wie möglicherweise bei „Parecon“ der Fall (vgl. meine Diskussion mit Michael Albert in der Contraste vom Mai 2013, online: keimform.de/2013/parecon-versus-peer-produktion-2/).
Die Aufhebung der Sphärentrennung spielt in vielen linken Debatten kaum eine Rolle. Stattdessen wird die Umgestaltung des politischen Systems oder der Wirtschaft oder von beiden, aber als separate Sphären betrachtet; die Reproduktionssphäre kommt dabei außerhalb feministischer Ansätze selten in den Blick. Wie wir gesehen haben, war aber gerade die Sphärentrennung die entscheidende Voraussetzung, die den Kapitalismus überhaupt erst möglich gemacht hat – ohne ihre Aufhebung ist ein radikaler Bruch daher nicht möglich.
Andererseits bedeuten diese Merkmale, dass eine absolute Demonetarisierung (Schwerpunkt der Streifzüge 54), ein völliger Verzicht auf die Verwendung von Geld und Verrechnung, zwar einen möglichen Weg darstellt, aber nicht unbedingt den einzigen. Die Herausforderung ist, die gesellschaftliche Re/produktion als Gesamtprozess zu gestalten, in dem sich die Menschen auf Augenhöhe begegnen und nicht gegeneinander konkurrieren müssen. Gelingt dies, ist es weniger wichtig und wohl auch von der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig, ob ein utopisches „alles für alle, und zwar umsonst!“ gilt oder ob noch Verrechnungseinheiten („Geld“) den Zugang zu einzelnen Gütern bestimmen. Voraussetzung ist dabei allerdings, dass niemand aufgrund von Geldmangel um den eigenen Lebensunterhalt oder die üblichen gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten bangen muss und dass Preise nicht über den Markt (also über Konkurrenz) ermittelt werden. Die Hürden sind also hoch, ähnlich wie sie auch für die geldfreie Perspektive hoch sind, doch ist es gut zu wissen, dass unterschiedliche Ansätze zum Ziel führen mögen. Und für die Evaluation, welche Ansätze grundsätzlich aufgehen können und welche nicht, sollten diese aus Woods Erkenntnissen extrahierten Anforderungen jedenfalls hilfreich sein.
Sehr spannend!
Ist die Rede von drei Sphären (Politik/Ökonomie/Reproduktion) eine von Wood oder eine von Dir? Sagt Wood denn auch etwas zur Sphärenspaltung in Produktion / Reproduktion? Ist die auch Voraussetzung oder Folge des Kapitalismus? Wenn sie nix sagt, was sagst Du?
Wie ist das zeitlich im Vergleich zum Datum 1620, dass in „Im Takt des Geldes“ genannt wird? Da übrigens auch schon für Holland und Deutschland. In welchem Stadium des Wood-Modells befindet man sich da?
Bin gespannt auf die Antwort der Hegelfreund_innen 😉
Moin, die entscheidenden Punkte werden in der Darstellung von Modellen unterschlagen, denn sie liegen in der Praxis. Die ist unverzichtbarer Bestandteil einer gemeinsamen Entwicklung nichtkapitalistischer Strukturen und beeinflusst sie im Wechselprozess.
Anders: Ich möchte heute zB. damit anfangen, die Sphärentrennung von Politik, Wirtschaft und privatem Haushalt aufzuheben und die gesellschaftliche Re/produktion stattdessen als Gesamtprozess gestalten. Wo geht’s jetzt weiter?
Viele Grüße
P.S.: Ich bin Maurer.
@Benni:
Wood beschäftigt sich mit der Sphärentrennung von Politik und Ökonomie, die sie als entscheidend für die Entstehung des Kapitalismus ansieht. Zur Trennung von Produktion und Reproduktion sagt sie, soweit ich mich entsinne, nichts; das ist meine eigene Ergänzung. Ich würde denken, dass diese weitere Spaltung eher eine Konsequenz des sich verbreitenden Kapitalismus ist, siehe z.B. Roswitha Scholz und ihre Theorie der Wert-Abspaltung.
Den Bockelmann habe ich leider immer noch nicht gelesen, deshalb kann ich dazu nicht allzu viel sagen.
Wood zufolge entstand der Kapitalismus im 16. Jahrhundert (also vielleicht so um 1550) in England. Dort könnte er um 1620 schon einigermaßen weit verbreitet gewesen sein, allerdings v.a. auf dem Land („Agrarkapitalismus“). Der städtische/industrielle Kapitalismus dürfte da noch ganz in den Kinderschuhen gesteckt haben, und in andere Länder schwappte diese Entwicklung Wood zufolge erst später über.
Wenn Bockelmann in Holland und Deutschland also tatsächlich schon um 1620 kapitalistische Denkformen findet, klingt das nach einem Widerspruch zu Wood. Allerdings ist diese Jahreszahl bei ihm ja auch ein Stück weit symbolisch gemeint, soweit ich das mitbekommen habe — man müsste die Chronologien beider Bücher genauer gegenüberstellen, um zu sehen, wie weit es konkrete Widersprüche gibt und ob/wie diese aufgelöst werden können.
Zudem unterscheidet Wood zwischen „bürgerlich“ und „kapitalistisch“, was ja in der marxistischen Tradition meist in einen Topf geworden wird. So ist die Französische Revolution von 1789 für sie eine „bürgerliche“, aber keine „kapitalistische“. Das Bürgertum in Form von Beamten, Lehrern, Ärzten, Anwälten und anderen gehobenen städtischen Berufen war ihrer Analyse zufolge damals in Frankreich schon sehr einflussreich, kapitalistisch produzierende Firmen mit ihrer Logik der Profitmaximierung gab es hingegen kaum. Insofern wäre auch denkbar, dass die von Bockelmann gefundenen neuen Denkformen mit der Verbreitung des Bürgertums einhergingen und noch gar nicht spezifisch kapitalistisch waren.
@Christian: Bockelmann erklärt die „Denkformen“, wie Du das nennst aus der Notwendigkeit im Alltag auf Geld angewiesen zu sein. Das meint er, sei in Nordeuropa Anfang des 17. Jhdts erstmals für breite Schichten nötig geworden. Das hat wohl schon eher mit dem Kapitalismus als mit dem Bürgertum zu tun.
Die historisch jeweils vorherrschenden Vergesellschaftungsformen wurden wohl zu jeder Zeit als die natürlichsten der Welt betrachtet.
Einzusehen, dass Kapitalismus unter bestimmten historischen Voraussetzungen zur Naturgewalt wird, d.h. sich als eine solche Bahn bricht, und nur unter bestimmten materiellen Voraussetzungen gezähmt oder schließlich durch die ökokommunistische Kulturgewalt einer vereinigten Menschheit bezwungen werden kann, kommt aber keineswegs einer Rechtfertigungsfigur gleich, nach der alles für alle Zeiten stets und immer gut was natürlich ist.
(Öko-) kommunistische Perspektive ergeben sich im Gegenteil dadurch, dass die kapitalistische Natur unserer gegenwärtig vorherrschenden Vergesellschaftungsformen aufgehoben wird und wir endlich kultürlich (nach Maßgaben eines ökohumanistischen Kommunismus oder ökokommunistischen Humanismus) über die verschiedenen Begehrlichkeiten und die für die Herstellung und den Verbrauch der Mittel ihrer Befriedigung in Kauf zu nehmenden Kosten entscheiden können.
Die menschliche Natur ist unsere Kultur. Kultur ist die zielgerichtete Gestaltung und die zielgerichtet gestaltende Weiterentwicklung von Spielräumen. Der menschlichen Natur entsprechende Arbeit wäre tatsächlich eine Sache der Kultur. Die kann sich aber nicht unter allen historischen Umständen willkürlich herstellen und verändern.
Das Vertrakte: Die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte, die zur weltgemeinschaftlichen Bestimmung sozioökologisch vernünftiger Produktionsziele, -umstände, -wirkungen oder -voraussetzungen befähigen, wird mittels kapitalistischer Konkurrenzverhältnisse vorangepeitscht.
Und es sieht so aus, als ob die Phase der kapitalistischen Natur menschlichen Handelns zugleich notwendig als auch notwendig zu bezwingen ist, weil die kapitalistische Fortschrittsmaschinerie mehr Freiheit zur sozioökologischen Vernunft vernichtet als schafft.
Das ist allerdings eine arge Verballhornung der Marx/Engelsschen Auffassungen. Und der Stalinismus hat ja gezeigt, dass es auch rückwärts in Richtung „schlecht“ gehen kann.
Höherentwicklung kann es sinnvollerweise nur auf bestimmte Dinge wie den Vergesellschaftungsgrad oder die Art der Vergemeinschaftung geben hinsichtlich der Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit oder ökologischer Vernunft, also in Bezug auf Mindeststandards, Menschenrechte usw.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen stets die historischen Möglichkeiten Siehe etwa die folgenden Ausführungen in Marx/Engels Kritik der Deutschen Ideologie
Wäre ja ein Wunder, wenn es nach über eineinhalb Jahrhunderten und mit den heutigen Mitteln der Geschichtsforschung keine neuen Erkenntnisse zu vermitteln gäbe. Allerdings stimmt es nicht so ganz, dass Marx „die für den späten englischen Feudalismus charakteristische Trennung von ökonomischer Macht (Landbesitz) bei den Grundherren und politischer Macht bei der Monarch_in“ übersehen hätte.
Kann in dem Abschnitt im Kapital über „die sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ nachgelesen werden. Nach wie vor sehr lesenswert.
Nicht philosophischen Begriffsfetischismen folgend nach der ein göttliches Wesen namens „die Zeit“ auch dort „gereift“ wäre und die Menschheit deshalb auch in der Ggend mit Lohnarbeit straft sondern weil in anderen Gegenden zu anderen Zeiten möglicherweise andere Umstände die Trennung von Produzierenden und Produktionsmitteleigentum bewirkt und damit zur Lohnarbeit, kapitalistische Konkurrenz usw. genötigt hätten.
Da gab es ja einiges wie u.a. die Notwendigkeit, Heere mit Geld zu bezahlen, damit sie nicht mehr aufs altmodische bzw. kontraproduktive (kontradestruktive?) Morden und Plündern angewiesen sind, die Pest, der 30jährige Krieg …
Was wie erwähnt einer Verballhornung der Marx/Engelsschen Auffassung gleichkommt und sich Maßstäben für gesellschaftliche Errungenschaften offenbar ganz verweigert.
Das sind doch temporäre Erscheinungen die ebenso als Zwischenstufen zur Entwicklung kapitalistischer Gesellschaftsformationen gesehen werden können. Interessant wäre die ganz andere Entwicklung in China. Letztrlich aber auch zum Kapitalalismus.
Mir kommt das alles sehr ideologisch vor in dem Sinne, dass Ergebnisse der Geschichtsforschung auf deren Brauchbarkeit für die fixe Idee gefiltert werden, dass Kapitalismus lediglich ein Unfall der Geschichte aufgrund subjektiver Zufälligkeiten sei, damit die Idee plausibel erscheint, man könneKapitalismus ebenso subjektiv (bzw. keimförmig) abschaffen.
Eine zentrale (subjektive) Bedingung der Überwindung kapitalistischer Formen der Existenzsicherung und Bereicherung scheint hier allerdings zu fehlen, nämlich der Anstoß zu einer fruchtbaren Debatte über das, was die angestrebten Umstände sein sollen, die ein Leben (Arbeiten, Genießen, Entwickeln usw.) ermöglichen, das alle (ich denke mal alle Menschen weltweit) im Prinzip als ein besseres Leben erkennen können.
E.M. Woods will ja offenbar keine Maßstäbe für gut, schlecht oder besser. Aber wie soll das ohne dem gehen?
Ehrlich gesagt: ohne Debatte über zivilisatorische Errungenschaften, die mit dieser Trennung womöglich verbundenen sind oder waren und dann auch noch ohne für mich nachvollziehbare Maßstäbe für – unter allen Umständen zu verteidigende – Errungenschaften wäre mir so ein Projekt ein wenig zu riskant.
Ich müsste mich dem gegebenenfalls wohl widersetzen.
So wie in Russland derzeit die Spären von Politik, Wirtschaft und Privateben entgrenzt werden, möchten wir es wohl alle hier nicht.
Aber natürlich müssten bei einem Füreinander auf Basis eines – am Ende weltgemeinschaftlichen – Nachhaltigkeitsmanagements Kriterien für Anzustrebendes her, die gleichermaßen gelten für
a) die Herstellung, Garantie und Weiterentwicklung gesellschaftlicher Regeln (Politik),
b)für das Arbeiten, Streben und Leben im häuslichen Bereich (Kinder, Küche Karaoke)
c) und die Herstellung, Garantie und Weiterentwicklung materiellen bzw. geistigen Reichtums im außerhäußlichen Bereich (Wirtschaft) bzw. alle dem übergreifen. Frigga Haugs „Vier-in-Einem“ Perspektive scheint mir dahin gehend ein interessanter Ansatz.
Im Rahmen eines Füreinanders auf Basis eines (welt-) gemeinschaftlichen Nachhaltigkeitsmanagements könnten um sozioökologisch vernünftige Produktionsstandorte, Produktlinien, Emissionsminderungen konkurriert werden ohne dass dies Marktchancen erhöhen helfen muss. Da sich das kapitalistische Für- und Voneinander aber nicht von Heute auf Morgen überwinden lässt, müssen Übergangsformen gefunden werden, mit dem Ziel, einen sozioökologisch ruinösen Wettbewerb um Verkaufserlöse zu überwinden etwa durch Ökosteuern und -zölle. Dies ist m.E. eine unabdingbare Voraussetzung für die nötige Entwicklung / Verallgemeinerung des Willens zur Etablierung gesellschaftlicher Regeln, die ein sozioökologisch vernünftiges Füreinander erlauben. Vor allem auch außerhalb von Keimformen eines bargeldlosen Umgangs!
Gut, dass die gute Absicht formuliert ist: Kapitalismus soll nicht auf eine Weise überwunden werden dass dabei neue Ausbeutungsverhältnisse (und ich sage mal ökologisch ruinöse Arten der Bedürfnisbefriedigung) entstehen, die auf persönliche Abhängigkeitsverhältnisse aufbauen. Das ist ein tatsächlich sehr anspruchsvolles Projekt.
Es erfordert m.E. auch eine sehr ehrliche Auseinandersetzung mit den freiheitlichen Seiten eines mit Geld vermittelten Füreinanders.
Was die Vorgaben anderer angeht. Warum sollen andere nicht das Recht haben, auf die Einhaltung von Mindeststandards zu bestehen so dass es ohne dies zu erfüllen keine Einigung auf gemeinsame Nachhaltigkeitsziele gäbe?
Gruß hhh
Ach noch etwas:
Abgesehen davon, dass ich den Begriff „Reprodktionsarbeit“irreführend finde und lieber von „häuslicher Produktion“ bzw. „Arbeit“ sprechen würde, ist das schlicht und ergreifend nicht wahr, wie selbst die akuten Regierungsprogramme verraten (Recht auf Kita-Platz, Vaterschaftsurlaub, Mütterrente usw.)
Ein letztes Mal noch:
Naja, nach der Logik müssten Menschen in der gleichen Art und Weise sterben, wie sie entstehen.
Ich halte es auch für keinen Fortschritt, die Trennung von Arbeit und Arbeitsmittel (bzw. Eigentum an Arbeitsmittel) nun „Sphärentrennung“ zu nennen. Damit vermeidet man natürlich geschickt eine rationale Diskussion um Marx Emanzipationsperspektive einer (welt-) kommunistischen Selbstbefreiung aus der Lohnabhängigkeit durch die Lohnabhängigen selber.
Aber ob das ein Vorteil ist?
@Eddy #2:
So einfach ist das leider nicht, das sind ja alles gesellschaftliche Prozesse, aus denen man nicht individuell aussteigen kann. Das Beste, was im Moment möglich ist, dürfte sein, sich an einem der selbstorganisierten bedürfnisorientierten Projekten zu beteiligen, z.B. Solidarische Landwirtschaft, Solidarische Energieversorgung (weiß nicht ob/wie weit das schon funktioniert), eines der Hausprojekte aus dem Mietshäuser Syndikat o.ä. Oder du versuchst, selbst ein passendes Projekt ins Leben zu rufen, wenn es in deiner Gegend noch nicht Passendes gibt.
Ansonsten freuen wir uns natürlich auch über deine Vorschläge 🙂
@HHH:
Marx hat das so auch nicht gesagt, oder höchstens in seinen früheren Werken (z.B. dem Kommunistischen Manifest) und auch da nur in schwächerer Form. Wieweit solche Vorstellungen auf Engels zurückzuführen sind, kann ich schlecht beurteilen, dafür kenne ich sein Werk nicht gut genug, aber in größeren Teilen der marxistischen (und insbesondere „marxistisch-leninistischen“ Traditionen) haben sie jedenfalls große Verbreitung gefunden, siehe Historischer Materialismus. Das kritisiert Wood.
Lohnarbeit gab es schon lange vor dem Kapitalismus (wenn auch nicht in dem Sinne, dass fast alle Menschen Lohnarbeiter_innen gewesen wären), wenn sie allein schon zum Kapitalismus geführt hätte, wäre der schon im Römischen Reich oder in China vor über 1000 Jahren entstanden. Und Trennung von Produzierenden und Produktionsmitteleigentum kann ja z.B. auch die Form von Sklaverei oder Leibeigenschaft annehmen, die haben auch nicht zum Kapitalismus geführt.
Die Notwendigkeit, Heere mit Geld zu bezahlen, hat die Fürsten dazu gebracht, sich Geld zu leihen (vermutlich in der Hoffnung, es dann mit dem Ertrag aus Plünderungen bzw. Eroberungen zurückzuzahlen — aber wenn sie den Krieg verloren statt gewannen, hatte sich die Rückzahlung in der Regel auch erledigt). Das war auch nichts Neues, Geldverleih („Wucher“) und bezahlte Söldnerheere gab es schon vor Jahrtausenden, ohne dass sie zum Kapitalismus geführt hätten. Das sind so interessante Details, auf die Wood hinweist, sie guckt halt sehr genau hin.
Aber nicht von sich aus, sondern unter englischem Zwang. Die chinesische Zivilisation war schon viele Jahrhunderte von dem Ausbruch des Kapitalismus in England äußerst hoch entwickelt, würde eine „Höherentwicklung“ von sich aus zum Kapitalismus führen, hätte er dort schon sehr viel früher entstanden sein müssen.
Das ist doch absurd, denk doch mal nach bevor du was schreibst! Wood hat mit Keimform-Theorien überhaupt nichts am Hut, und im Übrigen ist ja die gängigste Auffassung von Keimformen eher das Gegenteil, nämlich Keimformen als logische Notwendigkeit in einem bestimmten Stadium der Geschichte und nicht etwa als bloßer „dummer Zufall“.
Dass es einzelne Phänomene, wie mit Geld bezahlte Heere, Wucher oder Lohnarbeit vereinzelt schon vor dem Kapitalismus gab bedeutet nicht, dass immer und überall alle Bedingungen der Entstehung einer Gesellschaft erfüllt waren, deren wesentliche Grundlage die privateigentümliche Ausbeutung (dreifach) freier Lohnarbeit ist. Dreifach frei, weil 1.) frei davon, Eigentum anderer zu sein, 2.) von eigenen Mitteln der Existenzsicherung und Bereicherung befreit und nicht zuletzt 3.) auch befreit von der Notwendigkeit familiäre, clan- oder dorfgemeinschaftlicher Subsistenzarbeit zu leisten bzw. der Möglichkeit, darauf aufbauend – liebend gern – zu leben.
War das aber irgendwann irgendwo in Gang gesetzt, wurde es zur Naturgewalt, die nur nach und nach und sehr begrenzt gezähmt und erst am Ende langwieriger Zähmungsprozesse durch eine – dann notwendigerweise weltgesellschaftliche – Alternative zur Kulturgewalt (auf Grundlage weltgemeinschaftlicher Sebstkontrolle) transformiert werden werden kann.
@HHH:
Genau, das gab es in anderen Gesellschaften nicht, sondern nur im Kapitalismus, da sind wir uns einig. Wobei deine 3. Bestimmung der Marx’schen „doppeltfreien Lohnarbeit“ wenig hinzuzufügen scheint, da die Lohnarbeit ja selbst zur Alternative zur Subsistenzarbeit wird (also deren Notwendigkeit aufhebt) und da gleichzeitig die Unmöglichkeit, von Subsistenz noch (gut) leben zu können schon im 2. Punkt anklingt.
Der Artikel steht ja auch auf der Streifzüge-Website online und auch dort haben sich inzwischen einige interessante Kommentare angesammelt.
„Die Angemessenheit von Meretz’ spezifischem Fünfschritt-Modell für den
von Wood beschriebenen Prozess scheint hingegen fragwürdig. Zumindest
die Reihenfolge der ersten beiden Schritte – muss die Keimform der Krise
stets vorausgehen und unabhängig von dieser entstehen? – und die
Trennung von Schritt 3 und 4 in zwei separate „qualitative Sprünge“ sind
zu überdenken.“
Also es gab in diesem Übergangsprozeß ja mehrere Krisen. Die allgemein europäische Krise des Feudalismus aus der unterschiedliche Gesellschaften hervorgegangen sind und dann aber auch noch Ende des 17. Jhdts eine Krise des europäischen Handels. Letztere könnte schon eher als 5-Schritt-Krise fungieren. Die hat nämlich laut Woods dazu geführt, dass in England der Zwang zur Produktivitätssteigerung zunahm, bis hin zu den Anfängen der Industrialisierung. Wärend die selbe Krise in den Niederlanden gerade dazu geführt hat, dass die Verknüpfung zwischen lokaler Produktion und internationalem Handel wieder verschwand, weil die Niederländer ihr Heil in einer Intensivierung ihrer Monopolrechte durch außerökonomische Einflußnahme suchten.
Vielleicht kann man das 5-Schritt-Modell auch mit Woods „retten“, wenn man nicht nur von einem Fünfschritt, sondern von zweien ausgeht. Also einem vom Feudalismus zum Agrarkapitalismus und dann noch einem zum Industriekapitalismus.
Das 5-Schritt-Modell von K. Holzkamp ist evolutionstheoretisch motiviert. Das heisst erstens, dass es nur zurückschauend Sinn macht. Und zweitens – was hier wichtig ist – dass geklärt sein muss, von welchem Evolutionsresultat die Rede ist.
Die Unterscheidung Agrarkapitalismus und Industriekapitalismus deutet stark darauf hin, dass Kapitalismus für zwei verschiedene Evolutionen stehen soll, während Marx auch so gelesen werden kann, dass es den Kapitalismus nur einmal gibt: Lohnarbeit.
Der 5-Schritt müsste dann die Keimform, die Krise und den Dominanzwechsel der Lohnarbeit zeigen. Ich sehe nicht, wozu man dabei verschiedene Kapitalismen unterscheiden müsste.
@ralf: Tatsächlich ist im Agrarkapitalismus am Anfang die Lohnarbeit noch nicht dominant. Aber durch ihn wird sie es.
Marx spricht ja durchaus von einer kleinteiligeren Unterscheidung (formelle und reele subsumtion unter das Kapital) und es spricht einiges dafür die bei Woods unterschiedenen Phasen auch so zu deuten. Sie macht das aber glaube ich nur mal in nem Nebensatz (bin noch nich ganz durch mit dem Buch).
@Benni: ok, ich bin sehr dafür, viele Varianten zu denken und zu unterscheiden. Und Du hast ja geschrieben, dass Deine Version nicht so recht zum 5-Schritt passt (der mir am Herzen liegt).
Wenn ich in einem konventionellen Sinn historisch interessiert wäre, würde ich Geschichte nicht anhand von theoretischen Modellen erzählen. Das 5-Schritt-Modell verstehe ich aber als Anweisung, WIE die Geschichte zu erzählen ist (ich habs gerade nicht im Kopf, aber etwa 1970 gab es dazu einen ziemlichen Streit unter den Historikern, darüber ob Daten oder Modelle den Vorrang haben sollten).
Ich dachte, dass HIER (weils „Keimform“ heisst), die Theorie Vorrang hätte, aber mittlerweile sehe ich gut, dss es hier viel mehr um Commons als um die Theorie von Holzkamp geht.Vielleicht macht die Unterscheidung von verschiedenen Kapitalismen einfach Sinn, wenn man die Commons im Auge hat. Ich neige zu einer abstrakteren Sichtweise (so entsteht immerhin Vielfalt 😉
@Benni #21:
Hm, das überzeugt mich nicht so ganz. Meine Wood-Lektüre ist zugegebenermaßen schon eine Weile her, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie eine allgemeine „Krise des europäischen Handels“ beschriebt. Und der „Zwang zur Produktivitätssteigerung“ muss doch beim Kapitalismus gerade nicht aus externen Faktoren (Krise) erklärt werden, sondern ist logische und unvermeidliche Konsequenz der kapitalistischen Produktionsweise.
@Rolf #24:
Du meinst: Wenn die Fakten nicht zur Theorie passen, um so schlimmer für die Fakten? Nun, das ist in der Tat ganz und gar nicht meine Auffassung von Wissenschaftlichkeit 🙂
ähhh … ich meine viel mehr, dass es jenseits von (sehr oft unbewussten) Theorien keine Fakten gibt. Es sei denn, die Fakten würden als Objekte vom Himmel fallen. In diesem Sinne neige ich dazu, mir meine Theorie bewusst zu machen, bevor ich Fakten konstruiere.
Aber gut, auch bezüglich Wissenschaftlichkeit soll Vielfalt gelten. Mir gefällt der Ansatz von K. Holzkamp und HIER eben das 5-Schrittmodell, das ja nicht vorgeben muss, dass Kapitalismus nicht in einem vielfältigen Prozess entstanden ist.
Das 5-Schritt-Modell verlangt (in meiner Leseweise) aber, dass ich genau bezeichne, was ich als Dominanzwechsel, resp. als neue Qualität begreife. In Bezug auf den einzigen Kapitalismus, den ich meine, ist es das Dominantwerden der Lohnarbeit, wobei Agrarwirtschaft, Manufaktur oder Industrie nur eine zufällige Rolle spielt, auch wenn nach dem Dominanzwechsel sich hauptsächlich die Industrie (nicht im Sinne von Fabriken, sondern im Sinne investiertem Kapital) entwickelt.
@ralf: nach wood ist die lohnarbeit eher folge als ursache des kapitalismus. für die ersten formen des kapitalismus in süd-ost-england auf dem land war lohnarbeit noch nicht zentral und kam fast nur als saisonarbeit vor. trotzdem gab es aber schon die abhängigkeit vom markt und den zwang zur konkurrenz, der dann die beispiellose entwicklung der produktivkräfte erst in gang gesetzt und die leute vom land vertrieben hat, so dass ihnen schließlich nur lohnarbeit blieb.
@Benni – das ist ganz genau, was ich meine. Man kann die Sache quasi theorielos und begriffslos erzählen – eben Geschichten
oder
durch eine reflektierte Theorie beobachten.Die 5-Schritt-Logik – in welcher die HIER von mir gemeinte KEIMFORM eine Rolle spielt – macht aus Lohnarbeit keine Ursache und schon gar keine Folge von Kapitalismus, sondern beschreibt sie als spezifisches Verhältnis, das unter feudalen Bedingungen als Keimform entstanden ist und dadurch, dass es dominat geworden ist, den Feudalismus im Kapitalismus aufgehoben hat.Im Kapitalismus ist – innerhalb einer bestimmten Theorie – Lohnarbeit das konstituierende Produktionsverhältnis, aber die Keimform der Lohnarbeit ist – eben innerhalb der 5-Schritt-Logik – lange davor entstanden. Darin sehe ich den Witz dieser Evolutionstheorie von K. Holzkamp. Es macht dann aber natürlich (theorietautologisch) gerade keinen Sinn von einem Kapitalismus zu sprechen, wenn die Lohnform noch nicht dominant ist.PS: ich habe schon mehrfach angemerkt (und eben auch gemerkt), dass in diesem Forum die „Keimform“ (im Sinne des 5-Schrittes) offenbar keine Rolle spielt. Aber vielleicht kann ich sie in Euren Argumenten einfach nicht erkennen, wenn sie nicht explizit gemacht wird. Mir würde es sehr helfen, wenn die gemeinten Keimformen zu Sprache kämen.