Jonna Klick, Noa Klee, Indigo Drau: Die Welt vergesellschaften

Warum Vergesellschaftung noch mehr infrage stellen muss als nur die Eigentumsverhältnisse in einzelnen Sektoren

Abstract: Die Vergesellschaftung einzelner Bereiche reicht nicht aus, um die sozialen und ökologischen Probleme unserer Zeit zu lösen – wie an den Bei-spielen Wohnraum und Energie exemplarisch gezeigt wird. Vergesellschaftung kann ihr Potenzial nicht entfalten, solange die kapitalistische Totalität, die die gesellschaftlichen Beziehungen über Geld organisiert, fortbesteht. Stattdessen braucht es eine Vergesellschaftung der ganzen Welt, also aller Bereiche gesellschaftlicher Reproduktion, mit der die gesamtgesellschaftliche Vermittlung geändert wird – weg vom Geld hin zu bedürfnisorientierter gesellschaftlicher Selbstorganisation bzw. Commoning. Eine solche Vergesellschaftung ist mit dem Staat nicht zu machen, da er abhängig von einer funktionierenden Kapitalakkumulation ist und deshalb ein Interesse an ihrer Aufrechterhaltung hat. Dies stellt Bewegungen für Vergesellschaftung vor die Herausforderung, einerseits reale Handlungsspielräume (auch über den Staat) zu nutzen, andererseits aber die Perspektive eines Bruchs mit Staat und Kapitalismus zu entwickeln.

Der Text ist ein Beitrag im Sammelband »Vergesellschaftung und die sozialökologische Frage« von Tino Pfaff (Herausgeber). Die Veröffentlichung als Druck sowie die zusätzliche Freigabe unter einer Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0) ging mit erheblichen Kosten einher. Falls Du die Möglichkeit hast, bitten wir Dich die Crowdfunding-Kampagne zur Finanzierung des Projektes zu unterstützen: https://www.startnext.com/vergesellschaftungs-sammelband

Kämpfe für Vergesellschaftung: Erste Schritte und ihre Grenzen

Die Bewegungen für Vergesellschaftung machen uns Hoffnung. Sie zeigen auf, dass die herrschenden Vorstellungen von Privateigentum nicht alternativlos sind, dass sie sogar von einem breiten Spektrum der Bevölkerung infrage gestellt werden. Doch die schrittweise Vergesellschaftung einzelner Bereiche über den legalen Weg – nach dem Vorbild der Kampagne »Deutsche Wohnen und Co enteignen« (DWE) – reicht nicht aus. Wenn wir die ökologischen und sozialen Probleme unserer Zeit lösen wollen, dann muss Vergesellschaftung darüber hinausgehen, dann kann sie nicht auf einzelne Bereiche beschränkt werden, sondern muss die kapitalistische Totalität als Ganzes angehen – die ganze Welt vergesellschaften. Wir argumentieren in diesem Beitrag also für ein Verständnis von Vergesellschaftung, das viel mehr infrage stellt als die Eigentumsverhältnisse in einzelnen Sektoren und statt-dessen auch eine Änderung der gesamtgesellschaftlichen Vermittlung anstrebt. Davon ausgehend, argumentieren wir, dass eine solche Veränderung mit Staaten nicht zu machen ist, und überlegen, was dies für die Praxis einer Vergesellschaftungsbewegung bedeuten könnte.

Beginnen wir da, wo die Kämpfe um Vergesellschaftung im deutschspra-chigen Raum in den letzten Jahren am erfolgreichsten waren, wo sie Mehrheiten gewinnen konnten: beim Wohnraum. Mit einem rechtlich bindenden Volksentscheid und einer Menge Druck von der Straße ist es vorstellbar, dass die Kampagne DEW * in den nächsten Jahren ihr Ziel auch gegen den Berliner Senat durchsetzen kann und einen vergesellschafteten Wohnungssektor schafft. Da Vergesellschaftung nicht Verstaatlichung sein soll, sondern eine demokratische Verfügung durch die Betroffenen, hat die Kampagne dafür Kon-zepte entwickelt, die einen großen Spielraum von Selbstorganisation (Commoning) ermöglichen. Miete zahlen müssten die Bewohner*innen jedoch weiterhin, wenn auch das rasante Ansteigen der Mieten gestoppt wäre. Denn zum einen müssen die Entschädigungskosten für die Enteignung abbezahlt werden, zum anderen aber muss auch Geld in Instandhaltung, Aus- und Neubau fließen. Ebenso müssen Nebenkosten, vor allem für Energie, weiterhin finanziert werden. Bei ihrer Rede zur Eröffnung der Vergesellschaftungskonferenz 2022 sagte die Philosophin Bini Adamczak, es sei darum klar, was der nächste Schritt sei: die Vergesellschaftung des Energiesektors. Doch wie können wir uns die Vergesellschaftung des Energiesektors vorstellen? Wenn wir damit nicht nur günstigere Strompreise erreichen, sondern auch die Energieproduktion ökologisch umstellen wollen, dann würde dies vor allem bedeuten, deutlich weniger Strom zu produzieren. Denn auch für erneuerbare Energien werden Rohstoffe gebraucht, die nicht selten aus Raubbau in Regionen und Ländern des Globalen Südens stammen. Eine reine Umstellung auf erneuerbare Energien könnte zwar die Treibhausgasemissionen reduzieren, würde aber die Zerstörung von Ökosystemen, Übernutzung endlicher Ressourcen und neokoloniale Verhältnisse fortschreiben. Eine Drosselung des Stromverbrauchs wäre an sich kein Problem. Die durch eine Vergesellschaftung demokratisierte Entscheidungsmacht darüber, wie der Strom verwendet wird, geht unweigerlich mit Aushandlungsprozessen einher: Nach welchen Prinzipien soll der Strom produziert und verteilt werden? Wenn die Konsumentinnen, die einen vergesellschafteten Energiesektor demokratisch verwalten, dies nach ökologischen Kriterien tun möchten, aber trotzdem den Menschen ein gutes Leben ermöglichen wollen, könnten sie sich entscheiden, die Energie, die sie der Industrie zur Verfügung stellen, zu drosseln. Das gilt insbesondere für Bereiche, die nur begrenzt nötige und schädliche Waren wie Autos oder Waffen produzieren, sodass noch genug Strom für die Haushalte übrig wäre. Das Problem ist jedoch, dass die Stromkonsument*innen nicht nur konsumieren, sondern in der großen Mehrzahl auch Lohnabhängige sind, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um überleben zu können – eben unter anderem an die Waffen- oder Autoindustrie. Wenn diese Industrien abgeschaltet würden, dann könnten sie ihre Arbeitskräfte nicht mehr bezahlen. Die Stromkonsument*innen, die zugleich Lohnabhängige sind, würden damit also ihre eigene Existenzgrundlage untergraben, solange diese noch vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängt. Mit Wohnraum und Energieversorgung haben wir nur zwei Beispiele durchgespielt, die verdeutlichen, dass Vergesellschaftung, wenn sie auf einzelne Sektoren begrenzt bleibt, ihr ökologisches und soziales Potenzial nicht voll entfalten kann, da sie auf Beschränkungen durch die kapitalistische Totalität und die Vermittlung der gesellschaftlichen Beziehungen durch Geld stößt. Bei anderen Bereichen sähe dies ähnlich aus. Wenn wir sowohl das Potenzial von Vergesellschaftung als auch die Akutheit ökologischer und sozialer Krisen ernst nehmen, muss die Zielrichtung von Kämpfen um Vergesellschaftung über einzelne Sektoren hinausreichen: in Richtung eines revolutionären Bruchs mit der kapitalistischen Totalität und der Vergesellschaftung der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion – der ganzen Welt also.

Geld und mehr Geld: die kapitalistische Totalität

Wenn wir füreinander tätig werden, Dinge für andere herstellen oder Dienstleistungen ausüben, dann ist das im Kapitalismus meist über Geld vermittelt. Das bedeutet, dass wir auch die Dinge, die wir zum Leben brauchen, nur über den monetären Erwerb bekommen können. Wir müssen unsere Arbeitskraft verkaufen, einer Erwerbsarbeit nachgehen, um Geld zu verdienen und um Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum und einem würdevollen Leben, einschließlich immaterieller Aspekten wie Partizipation, Teilhabe und Anerkennung zu bekommen. Dementsprechend muss uns im Zweifelsfall egal sein, was wir da in unserer Arbeit tun und dass wir im Zweifelsfall auch nur begrenzt nötige und schädliche Dinge wie Waffen oder Autos in immensem Umfang herstellen müssen. Geld ist dabei nicht nur ein Tauschmittel, sondern, da der Tausch unter Ungleichen stattfindet, auch immer ein Herrschaftsinstrument, mit dem Arbeit erzwungen werden kann. Geld ist also ein Mittel, um die Arbeit anderer zu kontrollieren. Und das Geld, mit dem unsere Arbeitskraft gekauft wird, ist meist zugleich auch Kapital, das sich vermehren muss. Denn Unternehmen stehen auf dem Markt in Konkurrenz zueinander. Sie sind deshalb stets bemüht, kosteneffizienter zu produzieren als die anderen Marktteilnehmer, müssen also Gewinn erwirtschaften, den sie reinvestieren können in effizientere Produktionsmittel. Angetrieben von der Konkurrenz, werden so die Vermehrung von Geld und die maßlose Bewegung des Kapitals zum absurden Selbstzweck dieser Gesellschaft, die wir deshalb auch Kapital ismus nennen. Und da wir alle Geld brauchen, um überleben zu können, hängen wir auch alle am Tropf dieser Kapitalverwertung.

Das hat zerstörerische Folgen: Der Zwang des Kapitals zu wachsen geht mit einem Wachstum an Ressourcenverbrauch einher und zerstört damit unsere ökologischen, sozialen und kulturellen Lebensgrundlagen. Wir müssen einen Großteil unserer Lebenszeit mit sinnlosen Arbeiten verbringen, die uns stressen, zermürben und krank machen. Wer nicht arbeiten kann oder sich dem Lohnarbeitszwang widersetzt, kann meist kaum seinen Lebensunterhalt bestreiten. Da für die Bedürfnisbefriedigung im Kapitalismus Zahlungskraft eine zentrale Voraussetzung ist, hat dies weitreichende Einschränkungen der Befriedigung von materiellen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen zur Folge. Die Menschen in den Regionen und Ländern des Globalen Südens, die aufgrund von Kolonialismus und fortdauernden post- und neokolonialen Abhängigkeits-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen schlechtere Ausgangsbedingungen auf dem Weltmarkt haben, werden systematisch in Armut gehalten. Care-Arbeit, die sich nicht ohne Weiteres in die Logik der Kapitalverwertung integrieren lässt, die aber trotzdem notwendig ist für den Erhalt menschlichen Lebens, wird abgespalten und – da der Kapitalismus sich auf der Grundlage des schon deutlich länger bestehenden Patriarchats entwickelte – Frauen überlassen, die diese meist unbezahlt erledigen.

Die Vergesellschaftung einzelner Sektoren kann diese Missstände, die aus der gesellschaftlichen Vermittlung über Geld und Märkte resultieren, zwar vermindern, aber nicht beseitigen und ist damit eine unzureichende Antwort auf die heutigen ökologischen und sozialen Probleme. Vergesellschaftung könnte zwar einige Bereiche den direkten Marktkräften entziehen und die Abhängigkeit vom Geld sowie die Machtkonzentration über Eigentum verringern. In einem vergesellschafteten Wohnungssektor etwa wäre der Zugang zu gutem Wohnraum auch Menschen möglich, die sich die horrend steigenden Mieten in den Großstädten nicht leisten können. Mit einem vergesellschafteten Energiesektor könnte entschieden werden, Menschen ein Grundkontingent an Strom auch ohne oder mit nur geringer Bezahlung zur Verfügung zu stellen. Vollkommen außerhalb der gesellschaftlichen Vermittlung über das Geld und den damit einhergehenden Zwängen steht jedoch kein vergesellschafteter Bereich. Denn zum einen haben alle Bereiche monetäre Außenbeziehungen, sie müssen Vorprodukte kaufen und Löhne zahlen, weshalb das Geld dafür auch wieder eingenommen werden muss. Und zum anderen werden die Vermittlung über das Geld und der Zwang zur Kapitalverwertung außerhalb der vergesellschafteten Bereiche weiterhin die oben geschilderten Zerstörungen anrichten.

Es muss also ums Ganze gehen. Die Zerstörung ökologischer Lebensgrundlagen und die sozialen Verwerfungen, die mit der Vermittlung über das Geld und den Zwang zu seiner steten Verwertung einhergehen, können wir nur beenden, wenn wir die gesamtgesellschaftliche Form der Vermittlung verändern. Wenn wir also nicht nur einzelne Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion der Logik des Marktes entziehen und vergesellschaften, sondern alle. Vergesellschaftung bedeutet, die Trennung zwischen uns und den Mitteln, die wir für unser Leben brauchen, aufzuheben und demokratisch in gesellschaftlicher, solidarischer Selbstorganisation gemäß unseren Bedürfnissen darüber zu entscheiden, wie und was wir produzieren und welche Ziele wir uns als Gesellschaft setzen wollen. Welche Form solche gesellschaftlichen Entscheidungsfindungsstrukturen konkret annehmen, kann sehr unterschiedlich sein. Sie müssten aber in jedem Fall alle Betroffenen einbeziehen und Verfügung und Versorgung nicht an Geld oder sonstige Gegenleistung koppeln, sondern sich an den Bedürfnissen orientieren. Eine solche Vergesellschaftung kann sich erst in einem gesamtgesellschaftlichen Bruch mit der kapitalistischen Totalität voll entfalten. Denn erst dann müssten wir nicht mehr dem absurden Selbstzweck der auf Anhäufung abzielenden Verwertung von Geld folgen und uns den Zwängen beugen, die dieser auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausübt.

Not our buddy: Der Staat

Eine Vergesellschaftung, die alle Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion erfasst und mit der kapitalistischen Totalität bricht, ist mit Staaten nicht zu machen. Das hat zwei Gründe: Zum einen ist Vergesellschaftung etwas grundlegend anderes als Verstaatlichung, und zum anderen ist der Staat ein integraler Bestandteil des Kapitalismus, und seine Handlungsfähigkeit ist beschränkt.

Beginnen wir beim zweiten Punkt: Der Staat scheint zwar, im Gegensatz zum Markt, bewusst Entscheidungen zu treffen und auch gegen den Markt durchsetzen zu können.

Doch der Schein trügt. Staat und Markt sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten einer Medaille. Der Staat stellt die Voraussetzungen für den Markt her, vor allem indem er mit seinem Gewaltmonopol ganz grundlegend das Eigentum und damit die Bedingung kapitalistischer Produktion schützt, aber auch indem er durch Sozialversicherungen und öffentliche Güter die Härte des Marktes wenigstens so weit abfedert, dass Menschen überhaupt als Lohnarbeiter*innen existieren können. Andersherum stellt aber auch der Markt die Voraussetzungen für den Staat her, indem über Steuereinnahmen der Staatshaushalt überhaupt erst finanziert wird.

Der Staat ist also darauf angewiesen, dass die Wirtschaft gut läuft, und zwar eigentlich nicht nur gut, sondern besser als in anderen Staaten. Denn auch Staaten stehen in Konkurrenz zueinander. Als Standortkonkurrenten versuchen sie die besten Bedingungen für Konzerne, das heißt sichere Investmentmöglichkeiten, gute Infrastruktur, nicht zu hohe Umweltstandards und nicht zu hohe Mindestlöhne, zu schaffen, damit die Konzerne in dem jeweiligen Nationalstaat bleiben bzw. aus anderen Staaten abgeworben werden.

Das bedeutet leider auch, dass wir in Sachen Vergesellschaftung nicht so viel vom Staat erwarten können. Denn er kann vergesellschaftete Bereiche nicht einfach endlos finanzieren, um den monetären Druck abzufedern. Finanzieren kann er überhaupt nur, wenn gleichzeitig die Kapitalverwertung ordentlich weiterläuft.

Ein Interesse daran, einen Bereich der Wirtschaft der Marktlogik zu entziehen, hat ein Staat kaum. Das würde bedeuten, dass durch dieses auch keine Steuereinnahmen mehr zu erwarten sind. Ausnahmen sind vielleicht Bereiche, die sich wirtschaftlich nicht mehr halten können, aber für die nationale Wirtschaft oder die gesamtgesellschaftliche Reproduktion essenziell sind. In allen anderen Bereichen muss Vergesellschaftung aber gegen die Interessen des Staates erkämpft werden.

Hinzu kommt – hier kommen wir zum oben genannten weiteren Grund für unsere Staatsskepsis –, dass der Staat, wenn er Konzerne enteignet, eher dazu tendieren wird, sie lediglich zu verstaatlichen, nicht aber zu vergesellschaften. Das bedeutet, dass der Staat die Verfügungsmacht über die enteigneten Mittel behält, anstatt sie in wirklich demokratische Verfügungsmacht der Gesellschaft zu geben. Denn damit würden staatliche Akteure ihre Macht abgeben und riskieren, dass über die vergesellschafteten Mittel entgegen den staatlichen Interessen verfügt wird. Selbst wenn der Staat dazu gebracht werden könnte, Konzerne zu enteignen, bliebe der Kampf darum bestehen, dass die Gesellschaft in Selbstorganisation über Dinge verfügen kann.

Der Staat ist also nicht unser Freund, auf den wir setzen, kein Werkzeug, das wir einfach verwenden können, um mit ihm nach und nach alle Konzerne zu enteignen. Da er selbst über seine Steuereinnahmen von einer funktionierenden Kapitalvermehr-wertung abhängig ist, wird er dieser und damit sich selbst nicht die Grundlage untergraben, indem er immer mehr Bereiche dem Markt entzieht. Und selbst wenn der Staat Konzerne enteignet, wird er sie eher verstaatlichen als vergesellschaften. Das ist relativ unabhängig davon, wer regiert, und ergibt sich schlichtweg aus der Funktion und Rolle des Staates im Kapitalismus, der alle folgen müssen, die in ihm »Regierungsverantwortung« übernehmen wollen. Eine Vergesellschaftungsbewegung muss deshalb nicht nur kapitalismus-, sondern auch staatskritisch sein.

Über Reformen hinaus: Überlegungen für eine Vergesellschaftungsbewegung

Vergesellschaftung, so haben wir argumentiert, muss auf alle Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion zielen. Es reicht nicht, einzelne Bereiche zu vergesellschaften, sondern es geht uns um die Vergesellschaftung der ganzen Welt – um einen Bruch mit der kapitalistischen Totalität. Der Staat ist als Teil dieser Totalität selbst abhängig von einem funktionierenden Kapitalismus und deshalb kein Werkzeug, um die Vergesellschaftung herbeizuführen, die es braucht, um die ökologischen und sozialen Probleme unserer Zeit zu lösen.

Was bedeutet diese Analyse für die Praxis?

Sie bedeutet nicht etwa, dass es keinen Sinn hat, für die Vergesellschaftung einzelner Bereiche zu kämpfen und diese auch über den Staat abzusichern. Diese Kämpfe können unsere Lebensbedingungen hier und heute real verbessern und so einen gesamtgesellschaftlichen Bruch vorbereiten, in dem die Menschen durch sie wichtige Lernerfahrungen machen. Es sind Spielräume, die wir nutzen sollten, ohne dabei ihre Beschränkungen zu ignorieren.

Die Rolle des Staates ist dabei eine widersprüchliche: Einerseits neigen wir, wenn es um die Lösung von Problemen geht, dazu, ihm mehr Macht zuzusprechen, als er hat. Letztendlich stellt nicht der Staat die gesellschaftlichen Verhältnisse her, sondern wir – allerdings in den Formen des Kapitals. Indem wir arbeiten gehen, konsumieren und Care-Arbeit leisten, schaffen wir die Grundlage dafür, dass das Kapital sich vermehren kann. Andererseits wäre es naiv, den Staat zu ignorieren. Da es demokratische Einflussmöglichkeiten auf ihn gibt, die wir auf die Bewegung des Kapitals nicht haben, und der Staat, wenn auch beschränkt, in die Wirtschaft eingreifen kann, müssen wir dafür kämpfen, dass er dies so sozial und ökologisch wie möglich tut. Auch weil sich Menschen nur dann organisieren, wenn sie glauben, dass sie in absehbarer Zeit etwas gewinnen können, und auch weil im Alltagsverstand der meisten Menschen verankert ist, dass der Staat der Adressat für politische Anliegen ist.

Das bedeutet, dass wir vor einer schwierigen, widersprüchlichen Aufgabe stehen: Einerseits gilt es, um Veränderungen im Staat zu kämpfen, andererseits in diesen Kämpfen den Staat zu entfetischisieren und zu zeigen, dass die Macht eigentlich nicht bei ihm, sondern bei uns liegt.

Dafür gälte es, die Erfahrung des Scheiterns zu politisieren. Früher oder später werden wir mit unseren Bestrebungen nach Vergesellschaftung an Grenzen stoßen. Aus der Reflexion dieser Erlebnisse müssen wir kollektiv eine Markt- und Staatskritik begründen. Die Verknüpfung von Erlebnis und Analyse kann auch ein Ausgangspunkt dafür sein, in der Bewegung einen Diskurs über Utopien jenseits von Markt und Staat zu stärken. Und über die Bewegung hinaus müssten wir die Diskursmacht – die wir gewinnen, selbst wenn wir verlieren – nutzen, um die kapitalistische Totalität als solche zu kritisieren.

Andererseits müssen wir das, was neben Diskursmacht und politischem Druck in unseren Bewegungen entsteht, ernst nehmen: Solidarität. Diese Solidarität kann sich zum Beispiel in vergesellschaftetem Wohnraum verstetigen. Aber auch in unserer Organisationsweise gedeiht Solidarität, gedeiht bedürfnisorientierte Selbstorganisation. Diese Solidarität ist mehr als ein Mittel. Sie ist auch die grundlegende Beziehungsweise der Gesellschaft, die wir aufbauen wollen und müssen, um innerhalb der planetaren Grenzen ein gutes Leben für alle zu ermöglichen.

Historisch gab es immer wieder Möglichkeitsfenster, die durch Kämpfe geschaffen oder ausgeweitet wurden, in denen nicht mehr darauf gewartet werden musste, Produktionsmittel, Häuser und Boden zu kaufen oder vom Staat zu bekommen, sondern in denen massenhafte Aneignungen dieser Produktionsmittel möglich wurden, weil Staat und Markt in eine Krise gerieten. In solchen Momenten wäre es denkbar, mehrere Bereiche gleichzeitig zu vergesellschaften – in denen die Verteilung von Gütern anstatt nach Zahlungskraft nach Bedürfnissen organisiert wird und die gesellschaftliche Vermittlung anstatt der Form des Geldes die Form des Commoning, der bedürfnisorientierten Selbstorganisation, annimmt.

Ob aber diese Momente genutzt werden, um die ganze Welt zu vergesellschaften oder nur um neue, noch autoritärere Formen der gesellschaftlichen Vermittlung zu schaffen, hängt letztlich davon ab, wie gut wir auf solche Momente vorbereitet sind. Damit ist nicht nur gemeint, wie stark wir im Kämpfen sind, sondern auch, wie sehr unsere Solidarität trägt, wie sehr Menschen darauf vertrauen, durch Commoning versorgt zu werden.

Kämpfe um Vergesellschaftung schaffen bereits im Hier und Jetzt einen Nährboden für das Wachsen solidarischer Beziehungs- und Organisationsweisen. Trotz aller Beschränkungen gilt es also, durchaus Kämpfe um die Vergesellschaftung von verschiedenen Bereichen wie Wohnraum, Energie etc. zu führen, aber diese Kämpfe jeweils zusammenzuführen und zu verbinden mit der Perspektive einer Vergesellschaftung aller Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion – einer Vergesellschaftung der ganzen Welt, die letztendlich nur gegen Staaten durchzusetzen ist.

Dieser Text ist ein Beitrag im Sammelband »Vergesellschaftung und die sozialökologische Frage« von Tino Pfaff (Herausgeber). Der Sammelband steht zur freien Verfügung und enthält sämtliche Fußnoten und Querverweise, die in der WordPress-Veröffentlichung nicht übertragen wurden. Weiterhin bitten wir darum – insofern es finanziell möglich ist – das Crowdfunding zur Abzahlung der durch die Veröffentlichung entstandenen Kosten zu unterstützen: https://www.startnext.com/vergesellschaftungs-sammelband

Jonna Klick studiert Arbeitssoziologie in Göttingen und ist in linksradikalen Zusammenhängen sowie dem Commons-Institut aktiv. Gemeinsam mit Indigo Drau veröffentlichte sie 2024 das Buch Alles für alle. Revolution als Commonisierung. Noa Klee baut einen Commons-Verbund in Nordhessen auf – als eine Antwort auf die Notwendigkeit einer Vergesellschaftung im ländlichen Raum. Sie ist Teil des Commons-Instituts und gestaltet bei dem Verein Bewegungsakademie Bildungsräume zu ökonomischer Transformation. Indigo Drau ist Klimaaktivistin. Im Kampf gegen RWE im Hambacher Forst und in Lützerath wurde ihr klar, dass wir die Klimakrise nur aufhalten kön nen, wenn wir den Kapitalismus überwinden. Seitdem sucht Indigo praktisch und theoretisch neue Wege in eine solidarische Gesellschaft. Im Zuge dessen veröffentlichte sie 2024 zusammen mit Jonna Klick das Buch Alles für alle. Revolution als Commonisierung.

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