Tilman Wendelin Alder: Ein Gespräch über Organizing bei DWE auf dem Weg zur Vergesellschaftung
Abstract: Dies ist ein Gespräch unter Kampagnenteilnehmenden von »Deutsche Wohnen & Co enteignen« (DWE) mit der Ausgangsfrage, inwiefern die Organizing-Methoden von DWE bereits das umsetzen, was mit der Vergesellschaftungsidee angestrebt wird. Sind sie der Anfang und die Voraussetzung? Colleen, Leonie, Lukas, Tanja und Tilman sprechen über den Basisaufbau im Kiez sowie in einzelnen Siedlungen und die damit zusammenhängenden Herausforderungen wie die Einbindung von Migrant*innen, Sprachgerechtigkeit, demokratische Teilhabe, Klimagerechtigkeit und Mitbestimmung. Es wird betont, dass diese Themen nicht auf einen ungewissen Tag danach verschoben werden können, sondern dass es Synergien braucht und das Vernetzung und die Organisierung eine Grundlage schaffen, um langfristige politische Veränderungen zu bewirken.
Der Text ist ein Beitrag im Sammelband »Vergesellschaftung und die sozialökologische Frage« von Tino Pfaff (Herausgeber). Die Veröffentlichung als Druck sowie die zusätzliche Freigabe unter einer Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0) ging mit erheblichen Kosten einher. Falls Du die Möglichkeit hast, bitten wir Dich die Crowdfunding-Kampagne zur Finanzierung des Projektes zu unterstützen: https://www.startnext.com/vergesellschaftungs-sammelband
Einführung
Ein Aspekt der gegenwärtigen Krisenphänomene ist die zunehmende Eigentumskonzentration auf einen winzigen Bevölkerungsanteil, was diesen Teil ermächtigt und einem riesigen anderen Teil den Zugang zu gesellschaftlichem Reichtum und dessen Herstellung verwehrt. Dieser Zustand ist nicht statisch, sondern ein fortwährender Prozess: Das Kapital sucht nach immer neuen Anlagemöglichkeiten und entdeckte zum Beispiel um die 2000er-Jahre herum Immobilien. Städte wie Berlin öffneten ihren Immobiliensektor dem Markt. Das heißt, seitdem wird spekulatives Kapital aus der ganzen Welt in den Kauf von teilweise ganzen Wohnblöcken investiert, die Miete wird maximal gesteigert, die Verwaltung auf ein Minimum verschlankt, nur das Nötigste wird in Instandhaltung investiert, und Leistungen um das Wohnen herum (wie Hausmeistertätigkeiten, Modernisierungen und teilweise auch Energieversorgung, Gartenarbeiten etc.) werden an Tochterfirmen vergeben; mit horrenden Kosten, die in den Nebenkostenabrechnungen an die Mieter*innen weitergereicht werden. Außerdem wird vorrangig modernisiert, um dann die Kosten dafür dauerhaft auf die Miete umzulegen. Für all das hat sich der Begriff des Mietenwahnsinns etabliert, weil die Vervielfachung der Mieten sehr viele Menschen in existenzielle Bedrängnis bringt.
In Berlin entstanden daraufhin verschiedene Mieter*inneninitiativen, und 2019 kristallisierte sich die Kampagne »Spekulation bekämpfen – Deutsche Wohnen & Co enteignen« (DWE) heraus, die seitdem das Stadtgespräch prägte und 2021 einen Volksentscheid gewann. Zwar wurden die großen Immobilienkonzerne trotz mehrmaliger Bestätigung der Machbarkeit noch nicht enteignet9 und vergesellschaftet, aber die Option liegt als beste Lösung für Berlin nach wie vor auf dem Tisch. Und für die gesamte Bundesrepublik und den deutschen Bewegungskontext ist Artikel 15 des Grundgesetzes aus der Mottenkiste: ein Mittel, um Privat- in Gemeineigentum (nicht Staatseigentum) zu überführen. Es ist auch eines, dem Faschismus zu begegnen und Demokratie auszubauen. Das Zauberwort lautet Vergesellschaftung.
Sowohl die Blockadehaltung des Berliner Senats wird von DWE als Demokratiekrise gewertet als auch der Status quo bereits als undemokratisch beurteilt. Denn Menschen können nicht über ihren Wohnraum verfügen; und darüber, wer kommen und bleiben darf oder eben verdrängt wird, entscheidet aktuell die individuelle Zahlungsfähigkeit.
Die Ereignisse (die fortschreitende Mietenkrise und die politische Blockadehaltung des Berliner Senats) haben dazu geführt, dass DWE nun den Vergesellschaftungsprozess selbst in die Hand nimmt. Das heißt zum einen: Wir als Berliner Stadtbevölkerung schreiben selbst ein Gesetz – anders als vor fünf Jahren gibt es inzwischen weit mehr Expertise, und so sind die Chancen, ein wasserdichtes Gesetz zu entwerfen, viel höher. Andererseits gehen wir in die Siedlungen von Enteignungskandidaten und bauen Mieter*innenversammlungen auf. Denn sowohl für das Erreichen beziehungsweise Durchsetzen von Vergesellschaftung als auch für die Übernahme der Häuser in Gemeineigentum müssen vielerorts Strukturen aufgebaut werden, um die rund 250 000 vergesellschafteten Wohnungen gemeinwirtschaftlich zu verwalten. Für diese Demokratisierung des Wohnens betreibt die Kampagne unter anderem Organizing.
In dem folgenden Gespräch unterhalten sich Aktivist*innen aus unterschiedlichen Bereichen der Kampagne darüber, inwiefern in unserem Tun bereits der Charakter unseres Ziels der Vergesellschaftung steckt. Inwiefern wird bereits das umgesetzt, was in der Utopie angestrebt wird? Und wie werden Organizing-Methoden dazu genutzt, den gewünschten gesellschaftlichen Veränderungen näher zu kommen? Ist Organizing präfigurativ, ist es also eine Keimform? Mit Bezug auf Basisaufbau, Vernetzung, Mitbestimmung, Klimagerechtigkeit, Sprachgerechtigkeit sowie Vielfalt spricht Tilman (DWE-Kiezteam-Neukölln) mit Colleen (Right-to-the-City-AG), Leonie (Sammel-AG), Lukas (AG-Starthilfe) und Tanja (Kiezprojekt).
» TILMAN: Schön, dass ihr hier seid. Angesichts multipler Krisen geben mir DWE und Organizing Hoffnung, eine bessere Welt aufzubauen. Wie erlebt ihr das?«
» LUKAS: Viele Dinge passieren, es läuft auch ohne meine Beteiligung, Leute sind aktiv, und Neue kommen dazu. Das macht Mut. Langfristig passieren Dinge, die uns helfen könnten, mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen.«
» COLLEEN: In der Right-to-the-City-AG (R2C) gibt es viel Energie. Viele neue Leute kommen jede Woche. Es gibt vielfältige Perspektiven und Ideen für die Zukunft, besonders im Hinblick auf die Einbindung von Migrant*innen jetzt und nach der Vergesellschaftung. Wir arbeiten an Sprachgerechtigkeit, und ich hoffe, die Energie bleibt erhalten.«
» TANJA: Aus Kiezprojekt-Perspektive motiviert mich, zu sehen, wie unterschiedliche Leute zusammenkommen und sich kollektiv organisieren. Besonders ermutigend ist, wenn anfangs skeptische Personen erkennen, dass es effektiver ist, sich zusammenzuschließen. Organizing kann aktuelle Themen wie Rassismus auf dem Wohnungsmarkt angehen, indem sich Nachbarschaften vernetzen und gemeinsam gegen Diskriminierung vorgehen. Das macht mir Hoffnung.«
» LEONIE: Kürzlich gab es ein Treffen mit 125 neuen Personen, was vielversprechend ist. Auch wenn ich mich darauf nicht ausruhen kann, ist das schön.«
Lokaler Basisaufbau
» TILMAN: Weil es beim Organizing auch um die langfristige Einbindung von Menschen geht, finde ich die Geschichte von DWE beispielhaft: Als DWE 2018 gegründet wurde, bestand die Initiative noch aus einer überschaubaren Gruppe mit ein paar Arbeitsgruppen (AGs)25. Erst im Jahr 2020 wurden die sogenannten Kiezteams gegründet, womit die Initiative immens wuchs. Viele hatten sich darüber erstmals politisch organisiert. Ein Großteil ist nach wie vor dabei und es kommen fortlaufend neue Menschen dazu. Darüber hinaus sehe ich in den Kiezteams die Vorläufer von Gebietsräten, wie wir sie für die Anstalt öffentlichen Rechts (AÖR) vorsehen. Leonie, wie habt ihr diese Kiezteams aufgebaut, welche Herausforderungen gab es und war dieser Basisaufbau ein Erfolgsfaktor für den DWE-Volksentscheid 2021?«
» LEONIE: Kurz vorweg: Viele der Mieter*innen-Initiativen waren 2018, als es mit DWE losging, tragende Säulen der Enteignungsforderung. Ohne diese Initiativen hätte DWE niemals entstehen können. Den erst viel späteren Aufbau der Kiezteams würde ich vom klassischem Organizing unterscheiden. Organizing, wie wir es derzeit praktizieren, dreht sich um konkrete Probleme in der Nachbarschaft und entzündet sich an einem Konflikt. Wir sprechen Leute zum Teil an ihren Haustüren darauf an, bringen Mietende zusammen. Darüberhinausgehende Anliegen sind anfangs noch weniger präsent. Beim Kiezteamaufbau hingegen sprechen wir bisher von Organisierung, weil es eher auf politischer Einstellung basiert. Menschen kommen in die Kiezteams, weil es eine Mietenkrise gibt, sie links sind und die Gesellschaft von ihrem Kiez aus verändern wollen und so weiter. Beiden Fällen ist gemeinsam, dass sich Menschen aus eigener Betroffenheit heraus organisieren.
Zurück zur Frage: DWE begann mit Kernarbeitsgruppen, darunter die Sammel-AG für die Unterschriftensammlung in der ersten Phase (Beantragung des Volksbegehrens). Eine Mitstreiterin aus der AG entwickelte dann das Modell der Kiezteams; Auftakt dafür war die Mietenwahnsinndemo 2019 mit 40.000 Menschen. Durch unser klares Ziel und die Medienaufmerksamkeit der Demo erkannten wir, dass viele Menschen mitmachen wollten. Hier ergab sich ein großes Potenzial, sodass die nächste große Unterschriftensammlung (die Durchführung des Volksbegehrens) ein Organisierungsprozess wurde. Sowieso ein seltsames Verhältnis, in dem der Staat uns vorschreibt, was zu tun ist, und wir dies nutzen, um unsere Bewegung zu stärken (gemeint ist, dass ein Volksentscheid vorgibt, Unterschriften in bestimmten Zeitfenstern zu sammeln).
Die Frage war dann, wie wir Mitmachmöglichkeiten schaffen. Eine Mitstreiterin schlug lokale Basisgruppen vor. Alternativ gab es die Idee von »DWE der Tausend«: Tausend Aktivist*innen sammeln autonom je 200 Unterschriften. Es gab unterschiedliche Meinungen darüber, wie politisch das ist. Viele sahen es als Dienstleistung, nicht als politische Handlung. Unsere Vorstellung war, dass es auf jeden Fall ein politischer Prozess ist, sich in den Kiezteams zu organisieren.
Dafür sprachen wir mit Bernie-Sanders-Aktivist*innen und organizi, sammelten Ideen und führten eine Potenzialanalyse für Berlin durch. Um relevante Aspekte für den Strukturaufbau zu identifizieren, berücksichtigten wir das Wahlverhalten und bestehende Initiativen. In der Sammel-AG erstellten wir Konzepte zum Aufbau von Kiezteams, schulten Menschen und befähigten sie, diese Teams zu gründen sowie selbst Workshops zu geben. In einigen Kiezen – wie in Kreuzberg – organisierten wir ein Treffen, und dann gab es da ein Kiezteam. Da wir in Marzahn-Hellersdorf viel weniger Kontakte hatten, es keine ähnlichen Initiativen oder Orte des Zusammenkommens gab, war es dort ein herausfordernder Prozess, und wir fragten die AG Starthilfe, dort ein Kiezteam aufzubauen.
Der Aus- und Selbstbildungsprozess der Kiezteams war die Basis für alles Weitere. So ist zum Beispiel erkennbar, dass die Abstimmungsergebnisse dort, wo wir Haustürgespräche (HTG) geführt haben, signifikant zu unseren Gunsten ausgefallen sind.«
Mieter*innen-Organizing
» TANJA: Beim Kiezprojekt sind wir in fünf Berliner Bezirken aktiv: in Tempelhof-Schöneberg, Neukölln, Pankow-Prenzelberg, Lichtenberg und Steglitz-Zehlendorf. Als Kiezprojekt nutzen wir unsere drei bezahlten Stellen, um Aktivist*innen und Mietende zu unterstützen, indem wir das übernehmen, was sie in ihrem Alltag nicht schaffen.
In Mariendorf hat das Kiezteam Tempelhof-Schöneberg vor dem Dazukommen des Kiezprojekts einen Organisierungsprozess begonnen. Durch HTG in einem Teil der Vonovia-Siedlung (ehemals Deutsche Wohnen) erkannten sie, dass es viele Probleme mit dem Vermieter gibt – vor allem in Bezug auf die Betriebskostenabrechnung. Im Laufe des Jahres haben sie die erste Mieter*innenversammlung einberufen, zu der 70 bis 80 Leute erschienen. Obwohl viele HTG geführt wurden, deckten sie noch lange nicht die gesamte Siedlung ab. Es bildete sich eine Kerngruppe, und die dritte Versammlung wurde dann sogar von Mieter*innen selbst moderiert, inklusive einer von ihnen vorbereiteten Präsentation, die über Rechte und Pflichten bezüglich der Betriebskosten informierte. Der Großteil dieser Initiative wird mittlerweile von den Mieter*innen vor Ort selbst gestaltet. Das ist erfolgreich, da unser Ziel darin besteht, uns überflüssig zu machen. Wir unterstützen noch als Schnittstelle zu bestimmten Partner*innen. Das ist Organizing: langsam, aber nachhaltig und lohnenswert.
Eine ganz andere Geschichte haben wir in Pankow, da stehen die auslaufenden Sozialbindungen bevor. Tausende Menschen werden davon in den nächsten Jahren betroffen sein. Obwohl rechtlich nichts dagegen zu machen ist, hat das Projekt dort starken Anklang gefunden aufgrund vorhandener Gruppen wie auch des Kiezteams, das sich unter dem Namen »Pankow gegen Verdrängung« zusammengeschlossen hat. Sie erzeugen politischen Druck durch viele Eins-zu-eins-Gespräche mit Betroffenen, die sich weiter vernetzen (zum Beispiel in regelmäßigen Plenen und Aktionen, wie Kundgebungen vor der Bezirksverordnetenversammlung). Hier zeigt sich, dass trotz fehlender rechtlicher Lösungen Organizing Sinn ergibt, um langfristige politische Veränderungen zu bewirken.
In Neukölln in der »Weißen Siedlung« läuft bereits ein fortgeschrittener Organisierungsprozess. Hier stehen nicht nur die Wohnungsnot, sondern auch der Rassismus auf dem Wohnungsmarkt im Fokus. Wohl aufgrund der prekären Wohnsituation beschuldigen sich Nachbar*innen gegenseitig für den Zustand des Hauses, wobei auch Rassismus eine Rolle spielt, die noch offensichtlicher scheint, wenn der Vermieter Menschen mit nicht typisch deutschen Namen benachteiligt, indem er sich nicht zurückmeldet, Anfragen ignoriert, höhere Betriebskosten verlangt etc. Das ist noch mal eine ganz andere Schnittstelle und Art, da zu organisieren. Denn die Frage ist, wie ich hier anfange zu organisieren, wenn wir oder das Kiezteam kaum bis gar nicht zum Beispiel Türkisch, Arabisch oder eine andere vor Ort vertretene Sprache sprechen. Daher ist es wichtig zu prüfen, welche Initiativen dort bereits existieren, was es für Zusammenschlüsse gibt und mit wem wir reden können, um Multiplikator*innen für den Organisierungsprozess zu gewinnen. Du, Tilman, kannst wahrscheinlich noch besser davon berichten.«
» TILMAN: Für Neukölln kann ich ergänzen, dass wir uns nach ersten Gesprächen vor Ort und nachdem sich daraufhin eine Kerngruppe von engagierten Mieter*innen gefunden haben, zusammen dafür entschieden, alle Mängel in einem Brandbrief an den Vermieter (Adler Group) kollektiv aufzuschreiben. Da geht es um kaputte Aufzüge in 13-stöckigen Häusern, Müll, undichte Fenster oder Schimmel – die Liste ist erschreckend lang. Ziel ist einerseits, den Brief öffentlichkeitswirksam mit vielen Unterschriften zu überreichen, um Druck zu erhöhen. Andererseits dienen uns der Brief und die damit verbundene Unterschriftensammlung an den Haustüren vor allem dazu, die Mieter*innenversammlung zu stärken.
Je vernetzter, desto besser kann Mitbestimmung funktionieren
» COLLEEN: Ich habe dazu eine Frage. Wenn wir diese AöR gründen, können die Leute dann wirklich mehr demokratische Teilhabe erwarten, beziehungsweise wollen sie dies überhaupt?«
» TANJA: Ich weiß nicht, ob man das klar mit Ja oder Nein beantworten kann, aber was wir sehen, ist, dass Organizing helfen kann, Strukturen aufzubauen und Personen zu identifizieren, die aktiv sind. In einem 13-stöckigen Haus wird wohl kaum jede*r gleich aktiv sein, aber je besser ein Haus vernetzt ist, desto besser kann die demokratische Struktur funktionieren. Das ist, wo Organizing vielleicht nicht etwas vorwegnimmt, aber die Basis schafft, um dann diesen Weg von Mitbestimmung und demokratischer Teilhabe zu beschreiten, indem sich Menschen vernetzen, aktiv werden, Hausverantwortliche haben, Gemeinschaften und Initiativen bilden. Das ist der Kern.
Es gibt Initiativen – wie in Lichtenberg –, wo es für viele auch um persönliche Vernetzung geht. Das wiegt fast genau gleich mit den Problemen. Die soziale Komponente sollte also nicht vergessen werden. Das ist vielen wichtig. Es hilft auch, denn je besser sich die Leute kennen, desto mehr Verankerungs- und Verantwortungsgefühl entsteht, und Menschen kümmern sich umeinander. In Mariendorf gibt es eine WhatsApp-Gruppe, und jemand schrieb einmal: »Hey, hier ist bei dem alten Ehepaar XY ein Fenster schon seit fünf Tagen offen. Weiß da jemand Bescheid?« Alle waren direkt so: »Oh, ich gehe heute da vorbei und schaue nach.« Klar, das ist keine demokratische Struktur, aber es hilft, wenn man sich vernetzt und kennt.«
» TILMAN: Meine Nachbarschaft kennenzulernen, war auch für mich ein Grund, bei DWE im Kiezteam einzusteigen. Aus dieser sozialen Komponente können viel Kraft und Struktur erwachsen, aber klar ging es mir auch um die Sache. Vergesellschaftung mit Gemeineigentum (wie im Artikel 15 Grundgesetz) ist meines Erachtens die Antwort auf die sich zuspitzende Ungleichverteilung von Eigentum, die Privatisierung und den damit einhergehenden Ausschluss der Allgemeinheit von Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen, der der Demokratie ja zuwiderläuft. Vernetzung ist da ein erster Schritt.
Aber wie garantieren, dass Leute – vor allem Marginalisierte – mitmachen wollen und können, bleibt eine zentrale Frage. Ja, Organizing legt die Basis. Und es ist bereits motivierend, wenn wir erleben, etwas gestalten zu können – bestenfalls so, dass es Spaß macht oder sich zumindest fair anfühlt. Und dazu gehört auch, dass wir uns gemeinsam bilden, wie bei den Kiezteams mit Skillsharing, was Leonie beschrieb. Aber es bleibt eine offen Frage.«
» LEONIE: Ich frage mich das auch oft. Gerade wenn man überlegt, dass alles teurer wird, Leute immer mehr arbeiten müssen. Wo soll man noch Kraft und Energie finden, um eine AöR mitzugestalten, die davon ausgeht, dass Tausende Menschen sich ehrenamtlich engagieren? Wir wissen es noch nicht, weil es so etwas noch nicht gibt. Eine Sache ist aber, dass es nicht von allein passiert, sondern mit bezahlten Organizer*innen, die im AöR-Konzept vorgesehen sind, um diese Prozesse zu begleiten. Nicht top-down, sondern Leute dabei zu unterstützen und die Bedingungen zu schaffen, wie sie sich engagieren wollen. Es ist eine schöne Vorstellung, wenn das politisch gewollt wäre, dass wir als Mieter*innen aktiv werden. In den Landeseigenen Wohnungsunternehmen (LWUs) haben manche Mieter:innen das Gefühl, dass die Mitbestimmung nicht wirklich gewollt ist. Es gibt zwar auch Mitbestimmungsstrukturen, aber diese scheinen mir nur alibimäßig angedockt, vielleicht damit die LWUs ihre Vorgaben erfüllen. Wenn es jedoch gewünscht ist, wenn es Geld dafür gibt, diese Leute zu unterstützen, entstehen viele neue Möglichkeiten.«
Bringt Vergesellschaftung mehr Klimagerechtigkeit?
» TILMAN: Solche Vorstellungen sind wichtig, sie spenden Hoffnung und sollten kritisch geprüft werden. Du bist auch bei Mieter*innen for Future. Siehst du Potenzial, dass durch diese Vergesellschaftung die Gesellschaft klimagerechter wird?«
» LEONIE: Da sind wir noch am Anfang, und das ist noch mal eine andere Sache, weil Mieter*innenkämpfe sich eigentlich um Abwehr von Klimaschutz organisieren. Es geht ja meistens darum, die Modernisierung zu verhindern. Das ist erstens extrem angstbesetzt durch die Mieterhöhungen und zweitens auch einfach eine riesige Unannehmlichkeit. Also wenn ich ein kleines Kind habe, und nun soll da eine Baustelle in meine Wohnung, dann ist das einfach Mist. Mal sehen, ob es zukünftig funktioniert, sich mit Mieter*innen für Klimaschutz einzusetzen. Dafür braucht es Mitbestimmungsmöglichkeiten, um zu sagen, »es passt mir jetzt wirklich gerade nicht, mein Kind ist ein Jahr alt, ich möchte das erst in zwei Jahren« oder »ich möchte irgendwie dann in diese oder jene Wohnung ziehen, weil mein Partner da auch wohnt«. Die AöR bietet viele Optionen, Unannehmlichkeiten aufzufangen, die mit diesen Modernisierungsmaßnahmen einfach technisch einhergehen. Ein Problem beim Klimaschutz ist, dass die Leute Kontrollverlust fühlen: Dinge werden verordnet, und sie können nicht mehr mitbestimmen.
Und es ist wichtig, dass Maßnahmen gut kommuniziert werden: wie lange sie dauern, was passiert und wann es vorbei ist. Die AöR bietet außerdem die Möglichkeit, eigene Ideen einzubringen. Und es ist wichtig zu betonen, dass das erwünscht ist: Wir als Mieter*innen könnten dann schauen, wie wir zum Beispiel unseren Hof begrünen oder wo das größte Hitzeproblem besteht und wie wir das sinnvoll gemeinsam lösen können. Es gibt viele Möglichkeiten.«
» LUKAS: Es ist entscheidend, Umwelt- und soziale Belange nicht mehr gegeneinander auszuspielen (wie bei der gesetzlichen Modernisierungsumlage), sondern Synergien erkennen zu lassen. So können sich klimagerechte Positionen durchsetzen.«
Alle mitnehmen: Mitsprache ermöglichen
» TILMAN: In der R2C wird versucht, Migrant*innen in die Kampagne einzubeziehen. Colleen, wie kam es zur Gründung von R2C, und wie läuft die Zusammenarbeit mit der Gesamtkampagne?«
» COLLEEN: Das hat auch mit dem Organizing zu tun. Die Sammel-AG und die AG-Starthilfe waren in einer Siedlung im Anton-Saefkow-Kiez in Lichtenberg, wo es viele südeuropäische Menschen gab.«
» LUKAS: Ja, ich erinnere mich.«
» COLLEEN: Es gab ein Problem: Die Menschen aus der Siedlung verstanden sich nicht und beschuldigten jeweils die andere Gruppe, für die hohe Miete verantwortlich zu sein. So dachten die einen: »Okay, das liegt an all den Spaniern, die hierhergekommen sind, deshalb steigt meine Miete«, und die aus Spanien sagten: »Das ist verrückt, wir können die Miete nicht bezahlen.« Und niemand kam zu den anderen durch.«
» LUKAS: Das war ein Anstoß, um in der AG Starthilfe darüber zu sprechen, wie wir eigentlich mit diesen Rassismen umgehen, wenn wir in die konkrete Arbeit vor Ort gehen. Gleichzeitig war es auch ein Anstoß, darüber nachzudenken, warum denn eigentlich die ganze Kampagne so deutsch und so weiß ist. Die Gründung der R2C war dann ein erster Schritt, um wenigstens die Leute, für die es komfortabler wäre, auf Englisch mitzumachen, einzubinden.«
» COLLEEN: Und auch im DWE-Gesamtplenum gab es damals ähnliche Probleme: Es ist sehr schwierig, in ein deutsches Plenum zu gehen, wenn man nicht perfekt Deutsch spricht oder versteht.
Es gibt so viele motivierte Menschen mit sehr guten Ideen in der R2C, und es gibt wirklich keinen Weg, dass unsere Ideen in die Kampagne kommen. Wir haben versucht, zum Beispiel Flüsterübersetzung38 im Gesamtplenum zu machen. Aber es ist schwer, in einem großen deutschen Onlineplenum etwas auf Englisch zu sagen. Man muss viel Mühe und Mut haben, das zu machen. Wir wollen, dass diese Kampagne mehrsprachig ist, nicht nur für uns, sondern weil wir das als Kampagne brauchen, um wirklich legitim zu sein. Ich wünsche mir, dass DWE uns fragt, was wir wollen, und finde, dass auch andere Gruppen gefragt werden sollten. Wir wissen, dass wir involviert sein wollen.«
» LUKAS: Das ist super zentral, wie wir das schaffen können, mit weiteren Sprachen dahin zu kommen, dass Leute auf einem Plenum das Gefühl haben, sie treffen informierte Entscheidungen und sind Teil dieses Prozesses.«
» COLLEEN: Darüber reden wir viel in R2C, wie wir noch andere Sprachen integriert bekommen. Und wie wir sie in die Kampagne bringen. Wenn man sich die Zukunft der AöR vorstellt, und dann ist sie genau wie jede andere deutsche Institution, an die wir nicht herankommen, weil die Sprache nicht da ist, dann wäre das ein großer Misserfolg für uns. Wenn man sich diese Zukunft vorstellt, was hat es dann für einen Sinn, wenn wir immer noch keine gute Möglichkeit haben, daran teilzuhaben? So fühlt es sich an, in diesem Land zu leben, denn es ist wegen der Sprache sehr schwer, irgendwo teilzuhaben. Für uns ist das ein wirklich wichtiger Punkt, an der Sprachgerechtigkeit zu arbeiten, denn wenn man sich vorstellt, was dabei herauskommen könnte: Es könnte ein sehr guter, gleichberechtigter Ort sein, an dem die Menschen tatsächlich alle teilhaben können.«
Schlussworte
» LEONIE: Die nächste DWE-Phase wird sich stark von der vorherigen unterscheiden, da wir bereits eine umfangreiche Kampagnenstruktur haben und nicht mehr unter dem enormen zeitlichen Druck stehen. Daher bietet dies viele Chancen, um über neue, tiefere und langfristigere Organisationsmöglichkeiten nachzudenken, auch innerhalb von DWE.«
Für mich, Tilman, zeigt das Gespräch noch mal, dass wir mit gewissen Herausforderungen nicht warten können. Es ist zwar ein Spannungsverhältnis, wann sich eine Gruppe mit was beschäftigen kann, aber sie kommt nicht drum herum, alsbald das im Keim bereits zu verwirklichen, was sie letztlich verwirklicht sehen will. Wir haben das am Beispiel der Einbindung der Migrant*innen mittels Sprachgerechtigkeit unter anderem beleuchtet. Es sind Dinge, die kollektiv eingeübt werden müssen. Und auch die Mieter*innenversammlungen sind voraussetzungsvoll – wir müssen lernen, wie wir angenehme und gelingende Treffen abhalten, wie wir inklusiv sind und möglichst alle Menschen einbinden können. Vergesellschaftung, bei der es um maximale Demokratisierung geht, kann nicht nur von oben via Gesetz beschlossen werden, sondern muss auch an der Basis jetzt aufgebaut und erlernt werden. Organizing ist oftmals ein Knochenjob: sehr anstrengend und langwierig. Aber langfristig sehr transformativ und mit der Perspektive auf Wiederaneignung von »Grund und Boden, Naturschätze[n] und Produktionsmittel[n]«, wie es in Artikel 15 des Grundgesetzes heißt, ein wahrer Hoffnungsschimmer. Die Privatisierungsweisen sind Kernelement des Kapitalismus, und dass Privateigentümer über den Markt getauscht werden, entfacht den Wachstumszwang. Dieser kann nur durchbrochen werden, wenn wir das Kernelement auswechseln. Und genau das verspricht Vergesellschaftung: Privat- in Gemeineigentum zu überführen. Und weil Eigentum immer die Beziehung zwischen Menschen beschreibt, verlangt Gemeineigentum neue Beziehungsweisen, die wir mit Organizing jetzt vorzubereiten und aufzubauen versuchen.
Tilman Wendelin Alder lebt in Berlin und engagiert sich in der Vergesell- schaftungsbewegung bei »Deutsche Wohnen & Co enteignen«. Er arbeitet im Movement-Hub und ist im Commons-Institut vernetzt. Dieser Text ist ein Beitrag im Sammelband »Vergesellschaftung und die sozialökologische Frage« von Tino Pfaff (Herausgeber). Der Sammelband steht zur freien Verfügung und enthält sämtliche Fußnoten und Querverweise, die in der WordPress-Veröffentlichung nicht übertragen wurden. Weiterhin bitten wir darum – insofern es finanziell möglich ist – das Crowdfunding zur Abzahlung der durch die Veröffentlichung entstandenen Kosten zu unterstützen: https://www.startnext.com/vergesellschaftungs-sammelband