Parecon versus Peer-Produktion Teil 2: „Einkommensgerechtigkeit“ meets „Wertkritik“
[Aus der Mai/Juni-2013-Ausgabe der Contraste; Übersetzung: Brigitte Kratzwald.]
Michael Albert, der Begründer des Konzepts „Participatory Economy“, kurz Parecon, und Christian Siefkes, Vertreter der Peer-Produktion, diskutieren online ihre Ideen. Contraste bringt in vier Folgen eine gekürzte deutsche Übersetzung der Diskussion. Der erste Teil erschien in Contraste Nr. 342.
Michael Albert: Die Peer-Produktion zweifelt an Parecon?
Du bist irritiert, Christian, dass sich in Parecon alles um bezahlte Arbeit dreht, und fragst, warum „alle gezwungen werden, für Geld zu arbeiten, um die Dinge zu kaufen, die sie zum Leben brauchen“. Stimmen wir darüber überein, dass es so etwas wie gerechte und ungerechte Verteilung in dem Sinne gibt, dass eine Person zu viel oder zu wenig des Sozialproduktes im Verhältnis zu ihrer Leistung bekommt, und dass in einer gute Ökonomie Arbeit und Freizeit auf alle gleich verteilt werden sollten?
Um Gerechtigkeit herzustellen und Informationen über die Bedürfnisse der Menschen zu bekommen, schlägt Parecon vor, dass die Dauer, Intensität und Beschwerlichkeit ihrer sozial wertvollen Arbeit den Anteil am Sozialprodukt einer Person bestimmen und zwar durch partizipatorische Planung und selbstorganisierte Entscheidungen von Arbeiter- und Konsumentenräten. Du meinst deshalb, ich würde denken, „alle sind ein wenig zu faul und ein wenig zu gierig für eine Gesellschaft ohne Zwang“. Aber ich habe bereits gesagt, dass dem nicht so ist, sondern dass die Menschen einfach nicht wissen können, was verantwortungsvoll und moralisch ist. Du nennst es Zwang, ich nenne es Herstellung von Gerechtigkeit. Parecon sagt den Konsumenten, wieviel Arbeit für das, was sie haben wollen, notwendig ist. Es „zwingt“ nur Menschen, die mehr haben wollen, als ihnen für ihre Anstrengung zusteht.
Du bezeichnest „Einkommen“ als kapitalistisches Konzept. Im Kapitalismus hängt das Einkommen von der Verhandlungsmacht und/oder von Eigentum ab und nur zu einem geringen Teil von der eigenen Leistung. In Parecon bestimmt keiner dieser Faktoren das Einkommen, sondern nur die gesellschaftlich wertvolle Arbeit. Inwiefern ähnelt Parecon da nur annähernd dem „kapitalistischen Konzept von Einkommen“? Und warum soll es kapitalistisch sein, die Dauer und die Belastung durch gesellschaftlich notwendige Arbeit als Maß für das Einkommen zu nehmen? Denkst du, es ist nicht gerecht? Schafft es Klassenspaltung, zerstört es Solidarität, oder verhindert es Selbstverwaltung?
Eines deiner Bedenken war, dass es wenig bringe, wenn Menschen Dinge tun müssen, die sie nicht gut können. Das sollte in Parecon nicht passieren. Denn Einkommen gibt es nur für sozial wertvolle Arbeit. Ich kann nicht Löcher graben und wieder anfüllen und dafür ein Einkommen verlangen, egal wie lange ich das tue und wie schwierig es ist, weil diese Arbeit niemandem nützt. Nach der gleichen Logik kann ich nicht zehn Stunden mit einer Tätigkeit verbringen, für die ein kompetenter Arbeiter nur fünf braucht und dann verlangen, für zehn Stunden bezahlt zu werden, weil nur fünf Stunden als sozial wertvoll gelten würden. Es gibt also ausreichend Anreize, keine Dinge zu tun, für die ich nicht gut ausgebildet bin.
Wenn Vollbeschäftigung gesichert ist, und das tut Parecon, und wenn die Einkommen gerecht sind, und auch das garantiert Parecon, dann soll ein Unternehmen, dass Dinge nicht zu Preisen herstellen kann, die die Menschen akzeptabel finden, aufhören zu produzieren. Wir sollten nicht wertvolle Ressourcen verschwenden für unerhebliche Ergebnisse. Ich denke, diesbezüglich stimmen wir überein.
Als nächstes wendest du dich den „ausgewogenen Arbeitspaketen“ zu und fragst, warum die Arbeitsteilung innerhalb des Unternehmens zu Einkommensungleichheit führt. Das habe ich vielleicht zu wenig ausgeführt. Wenn wir die übliche Arbeitsteilung eines Unternehmens beibehalten, dann tun 20% all die ermächtigende Arbeit und 80% all die eintönige und ermüdende. Dann fühlen sich die 20% zunehmend klüger und wichtiger. Sie bestimmen, was zu tun ist, weil die Umstände ihnen das Wissen, die Werkzeuge, die Beziehungen und die Positionen dazu geben, während diese den anderen vorenthalten werden. Die 80% werden es zunehmend müde, an Treffen teilzunehmen, nur um zuzuschauen, wie andere über ihr Leben bestimmen. Sie sind erschöpft. Sie hören auf, die Meetings zu besuchen. Schließlich beschließen die 20%, die nun fast unter sich sind, ihr Einkommen zu erhöhen. Das ist keine bloße Annahme, sondern geschieht immer wieder. Nicht aus bösem Willen, sondern als natürliche Folge der unternehmensinternen Arbeitsteilung auf das Verhalten und Denken der Menschen. Deshalb sind wir für ausgewogene Arbeitspakete.
Du fragst, warum Menschen zu Tätigkeiten gezwungen werden sollen, die sie nicht tun wollen, auch wenn andere sie gerne tun würden. Wenn eine Wirtschaft so organisiert ist, dass jeder Job ein angemessenes Maß an Empowerment bietet, warum sollten wir Menschen zwingen müssen, Arbeiten zu tun, die sie nicht wollen? Denkst du, es gibt so viele Arbeiten, die Menschen nicht gern tun, dass jedes Arbeitspaket voll mit solchen Aufgaben ist – dass du keines finden kannst, das dir gefällt? Und denkst du, dass es notwendig sein wird, Menschen zur Arbeit zu zwingen, wenn diese unbeliebten Arbeiten, wie viele es auch sein mögen, fair verteilt sind, die Bezahlung dafür fair ist und sie Einfluss auf die Entscheidungen haben?
Wenn du das denkst, wie kannst du dann gleichzeitig denken, dass diese Arbeiten, die niemand tun will, erledigt werden würden, wenn jeder tun könnte, was er will, niemand tun müsste, was er nicht will, es keine Anforderungen und nur wenig Information gäbe? Denkst du, dass die Menschen so unterschiedlich sind, dass vier von fünf – wenn alle die gleiche Ausbildung haben, das gleiche Selbstvertrauen – freudig all die langweiligen und entmächtigenden Arbeiten tun würden, während nur einer davon die ermächtigenden tun möchte und alle gleichermaßen zufrieden damit sind und mit gleicher Macht ausgestattet?
Christian Siefkes: Warum ich immer noch Zweifel habe
Wie der Kapitalismus basiert Parecon auf Lohnarbeit, offensichtlich aufgrund der Annahme, dass die Menschen sonst nicht genug arbeiten würden. Michael, du scheinst Geld als bloße Information zu betrachten und dabei von einem sehr reduzierten Modell sozialer Interaktion auszugehen, wo keinerlei andere Informationen zur Verfügung stehen. Es müsste eine sehr traurige Gesellschaft sein, wenn Geld das einzige ist, das Menschen „verantwortungsvoll und moralisch“ handeln lässt. Das ist nicht die Gesellschaft, die ich mir wünsche.
Du fragst, ob wir übereinstimmen, dass es gerecht ist, wenn eine Person nur entsprechend ihrer Leistung am Sozialprodukt teilhaben kann und dass eine gute Wirtschaft ein faires Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit für alle ermöglichen soll. Nein, da stimmen wir nicht überein. Offensichtlich siehst du die Beiträge, die jemand leistet, als grundsätzlich negativ, als eine Art Opfer, das den anderen nützt, einem selber aber schadet. Daher müssen alle für ihre Beiträge belohnt, und wenn sie nicht genug beitragen, bestraft werden.
Beitragen als Opfer zu sehen mag heute angemessen sein, aber eine Gesellschaft, die den Kapitalismus überwinden will, sollte es besser machen. Dein „Gleichgewicht“ erinnert mich an das moderne Konzept der „work-life-balance“, wo Arbeit als grundsätzlich vom Leben getrennt wahrgenommen wird. Wenn du dein Leben versäumst, während du arbeitest, ist es klar, dass du dafür entschädigt werden musst!
Aber muss es so sein? Können wir nicht unsere Arbeit, unsere Beiträge, zu einem Teil des Lebens machen, so dass sie aus sich selbst befriedigend sind und keine zusätzliche Belohnung brauchen? Ich glaube wir können und sollten das tun.
In deinem ganzen Text verwehrst du dich dagegen, dass ich das Wort „Zwang“ benutze, weil du Geld als bloße Information verstehst. Das trifft aber nicht zu. Informationen ermöglichen Menschen Entscheidungen, aber Geldmangel (und die daraus folgende Notwendigkeit, es zu verdienen) zwingt sie dazu. Und das Geld zwingt die Menschen nicht nur, es setzt sie auch in Konfliktbeziehungen zueinander. Etwa Verkäufer und Käufer – je mehr Geld der Verkäufer bekommt, umso weniger bleibt dem Käufer, um andere Dinge zu kaufen; oder die Verkäufer ähnlicher Güter: wenn ein Käufer sich für einen Verkäufer entscheidet, verdienen die anderen kein Geld. Diese antagonistischen Beziehungen werden den Menschen durch Geld aufgezwungen, nicht nur im Kapitalismus, sondern wohl auch in Parecon.
Du scheinst die selbe Auffassung von Wert zu haben, die dem Kapitalismus zugrunde liegt: Der Wert eines Gutes entspricht dem durchschnittlichen Arbeitsaufwand für seine Produktion, wobei gut geschulte Arbeitskräfte und die bestmögliche Technik vorausgesetzt werden. Offensichtlich willst du nicht nur, dass Arbeiter zueinander in Konkurrenz stehen, so dass die weniger geschickten auf der Strecke bleiben, sondern auch dass Unternehmen miteinander konkurrieren, da du meinst, Unternehmen, die nicht zu akzeptablen Kosten produzieren können, sollten schließen. Auch in Parecon gewinnt der Anbieter mit dem günstigsten Preis.
In diesem Szenario wird auch das Versprechen der „Vollbeschäftigung“ zweifelhaft. Was geschieht mit Firmen, die nicht wettbewerbsfähig sind? Theoretisch müssen die dort arbeitenden Menschen „nur“ eine andere Arbeit finden (wobei sie anderswo den Wettbewerb verschärfen). In der Praxis ist das alles andere als einfach. Dass jeder irgendwo einen Job finden könnte, klingt genau so unglaubwürdig wie im Kapitalismus.
Je genauer man Parecon anschaut, desto mehr ähnelt es dem Kapitalismus. Zwar finden die Verhandlungen zwischen potenziellen Zahlern und potenziellen Produzenten schon vor der Produktion statt. Doch das dürfte kaum ein signifikanter Unterschied sein und Märkte, auf denen im Voraus verhandelt wird, gibt es auch im Kapitalismus.
Du sagst, alle „sozial wertvolle Arbeit“ soll belohnt werden. Die Bezahlung folgt der Effizienzlogik: wie jeder guter Manager willst du nicht Person A für zehn Stunden bezahlen, wenn Person B die gleiche Arbeit in fünf Stunden machen kann. Für andere Aktivitäten würde diese Argumentation allerdings kaum jemand akzeptieren. „Du hast drei Wochen gebraucht, um den Roman zu lesen, während jemand anderes das in einer Woche geschafft hätte!“ – „Warum hast du mit X anstatt mit Y geschlafen? Du hättest nur halb so lang zum Orgasmus gebraucht!“ Wenn jemand etwas gerne tut, gibt es keinen Grund die Zeit, die er damit verbringt zu minimieren. Aber du scheinst nicht zu begreifen, dass „gesellschaftlich wertvolle Arbeit“ etwas anderes sein kann als ein Opfer.
Nicht einmal der Kapitalismus könnte existieren, wenn alle „gesellschaftlich wertvolle Arbeit“ der Effizienzlogik unterworfen würde. Viele nützliche Arbeiten sind mit dieser Logik unvereinbar. Menschen, die die geringstmögliche Zeit mit ihren Kindern verbringen, sind wohl kaum die besten Eltern. Kranken und alten Menschen geht es nicht besser, wenn Pfleger und Ärzte sich so kurz wie möglich mit ihnen beschäftigen.
Solche „Care“-Tätigkeiten sind die unsichtbare Kehrseite des Kapitalismus. Er braucht sie, doch sie sind meist unbezahlt und ein Großteil wird von Frauen erledigt. Werden sie in die Marktsphäre hineingeholt, ist das für die Betreuten oft von Nachteil. In diesem Bereich ist die kapitalistische Logik, „den Job möglichst schnell erledigen“, noch absurder als anderswo.
Was bedeutet es, wenn Parecon alle „gesellschaftlich nützliche Arbeit“ nach der Effizienzlogik organisieren will? Entweder gelten viele Pflegetätigkeiten nicht als „gesellschaftlich nützliche Arbeit“ und bleiben außerhalb des Bereiches, der durch partizipatorische Planung neu organisiert werden soll. Sie blieben weiterhin unbezahlt und würden wahrscheinlich großteils an Frauen hängen bleiben. Die geschlechtliche Arbeitsteilung des Kapitalismus würde ihn so überdauern. Oder Parecon fasst tatsächlich alle Pflegearbeit unter die Effizienzlogik. Das Ergebnis wäre wenig erfreulich.
Zuletzt zur Frage, wie die soziale Produktion so organisiert werden kann, dass jedes Unternehmen etwas produziert, das für jemanden nützlich ist und alle Bedürfnisse erfüllt werden können. Der Markt erreicht das, allerdings nur für zahlungsfähige Teilnehmer. Mir war unklar, wie Parecon das erreichen will. Nun scheint es, dass auch die Planungsprozesse in Parecon auf Wettbewerb aufbauen und daher möglicherweise Ähnliches erreichen können. Allerdings zum gleichen Preis: sie zwingen in Konkurrenz zueinander und schließen die aus, die nicht zahlen können. Das beantwortet meine Frage, aber nicht auf eine Weise, die mir gefällt.
Die Diskussion in voller Länge auf Englisch ist hier nachzulesen: www.zcommunications.org/znet/zdebatealbsiefkes.htm
[Teil 3]
Das Dilema vom Parecon kommt m.E. schon im 2. Absatz deutlich zutage: …. dass die Menschen einfach nicht wissen können, was verantwortungsvoll und moralisch ist. Du nennst es Zwang, ich nenne es Herstellung von Gerechtigkeit. Parecon sagt den Konsumenten, wieviel Arbeit für das, was sie haben wollen, notwendig ist. Es „zwingt“ nur Menschen, die mehr
haben wollen, als ihnen für ihre Anstrengung zusteht.
Die Menschen sind einfach nur blöde – Parecon weiß alles! Parecon als ein über allen schwebendes – ja was denn eigentlich? Nein Parecon wird auch von (einzelnen) Menschen gemacht, definiert. Nun gut, es gibt zwar die Erkenntnis, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile (der Einzelnen), aber wenn die Einelnen einfach nicht wissen können was verantwortungvoll und moralisch ist, also diesbezüglich vollkommen unbeleckt sind, wie soll dann das Ganze (Parecon) zu halbwegs brauchbaren Erkenntnissen und Werten kommen?
Parecon ist kein „ES“ , sondern dahinter oder darüber stecken immer (einzelne) Menschen mit guten und schlechten Seiten, Fehlern und Macken, Fertigkeiten und Wissen. Zusammengesetzt kommt dann die Summe plus etwas mehr von den guten und Schlechten Seiten, Macken … heraus. Und wenn wir dann Glück haben entsteht vielleicht was Vernünftiges (Verantwortungsvolles und Moralisches) – was dann ach wieder von den Einzelnen (auch in der Summe + mehr) als solches erkannt und bewertet wird.
Der einzelne Mensch weiß ntürlich nicht aus sich heraus was verantwortungsvoll und moralisch ist, sonder er lernt es im Laufe seiner gesellschaftlichen Sozialisation – oder eben auch nicht. Es gibt dann halt solche und solche.