Hannah Arendt, das Recht auf Rechte und die freie Migration
[Voriger Teil: Marx’ Kritik der „sogenannten Menschenrechte“]
Hannah Arendt thematisiert das Dilemma, das totalitäre Regime wie Nazideutschland für die Rechteperspektive erzeugen, indem sie die Freiheit oder das Leben mancher ihrer Bürger:innen bedrohen. Wenn die so Bedrohten flüchten, können sie sich zwar dieser unmittelbaren Gefahr entziehen, verlieren aber dennoch gewisse Rechte – denn oft finden sie sich dann in einem anderen Land wieder, wo sie eigentlich nicht willkommen sind und das ihnen nur ein Minimum an Rechten gewährt (Arendt 1951, 460 f.). Sie stellt fest, dass Menschen Rechte einbüßen, „wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, daß seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind“ – dieser Standort ist für sie „die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, in die man hineingeboren ist“ (ebd., 461 f.).
Geflüchteten wird im Falle einer „noch intakte[n] Zivilisation“ zwar immerhin „das Leben“ gesichert, dennoch sind sie „politisch gesprochen, lebende Leichname“, weil ihnen die politisch-gesellschaftlichen Rechten verlorengegangen sind. Was sie faktisch verloren haben, ist das „Recht, Rechte zu haben“, was „gleichbedeutend ist, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird“ (ebd., 462). Für Arendt sind Rechte nicht „natürlich“, sondern an eine „politische Gemeinschaft“ gebunden sind, ohne deren Kontext sie ihren Sinn verlieren und faktisch aufhören zu existieren. Wer die eigene Gemeinschaft verliert, verliert damit auch die „Fähigkeit zum Politischen“ – sie:er darf vielleicht reden, aber ihre Meinungen interessieren niemanden mehr. Das Recht, zwar beliebige Dinge sagen zu können, auf die aber niemand hört, weil die sprechende Person keine weitergehenden Mitentscheidungs- und gestaltungrechte hat, ist für sie lediglich eine praktisch nutzlose „Narrenfreiheit“ (ebd. 463 f.).
Sie schließt, dass in der heutigen Welt, wo es „keinen ‚unzivilisierten‘ Flecken Erde mehr gibt, […] der Verlust der Heimat und des politischen Status identisch [geworden ist] mit der Ausstoßung aus der Menschheit überhaupt“ (ebd., 462). Früher, so scheint sie zu denken, konnten die heimatlos Gewordenen sich noch einen neuen „Flecken Erde“ suchen und dort kollektiv eine neue Heimatgemeinde gründen – wie etwa die Pilgerväter, die England verließen, weil sie mit den religiösen Prinzipien der Church of England nicht einverstanden waren, und im Nordosten der späteren USA ihre eigene autonome Gemeinschaft gründeten.
Problematisch an dieser Argumentation ist allerdings, dass ja auch die mutmaßlich „unzivilisierten“ Teile der Erde in aller Regel keineswegs unbewohnt waren, weshalb die Vorstellung solcher Siedler:innen, sich mutmaßlich „herrenloses“ Land einfach aneignen zu können, zwangsläufig zu Konflikten mit der von ihnen ignorierten oder vertriebenen Bevölkerung führen musste. Im Fall der Pilgerväter führte das etwa zum Pequot-Krieg von 1637, in dem ein Großteil der vorigen Bewohner:innen der Region ermordet oder versklavt wurden. Die ‚neue Heimat‘ für manche war also auch damals schon mit der massiven Entrechtung anderer verbunden.
Trotz dieses blinden Flecks in Arendts Argumentation verweist sie aber auf ein reales Problem, das gerade im Zuge der durch die Erderhitzung ausgelösten Verwerfungen noch große Bedeutung erhalten wird. Für sie bedeutet das „Recht, Rechte zu haben“, in einem „Beziehungssystem“ oder einer „Gemeinschaft“ zu leben, in dem man aktiver Teil ist statt lediglich ein geduldeter – oder selbst herzlich willkommen geheißener – Gast.
Lesenswert ist in diesem Zusammenhang das Buch Allein unter Flüchtlingen von Tuvia Tenenbom (2017), in dem dieser die Situation der in Deutschland lebenden Geflüchteten kurz nach der sog. „Flüchtlingskrise“ von 2015 untersucht und beklagt, dass selbst in einer Zeit, wo noch überall von „Willkommenskultur“ die Rede war, den Geflüchteten keinerlei echte Perspektive angeboten wurde. Zwar wurden sie finanziell versorgt und es war klar, dass viele von ihnen mangels anderer Möglichkeiten dauerhaft hier bleiben würden – doch eine permanente und reguläre Integration als deutsche Staatsbürger:innen mit allen damit einhergehenden Rechten und Pflichten war nicht vorgesehen und erwünscht. Auf diese Weise war (und ist) klar, dass sie „Menschen zweiter Klasse“ mit deutlich weniger Rechten als der Rest der Bevölkerung bleiben würden, wie Arendt (die selbst nach ihrer Flucht aus Nazideutschland jahrelang staatenlose Exilantin war) es beklagt.
Nun gibt es klare Hinweise darauf, dass Dürren und Wassernot eine wesentliche Rolle spielten bei der Entstehung des syrischen Bürgerkriegs, der einen Großteil der damals nach Europa Gekommenen zur Flucht getrieben hatte. Im Zuge der zunehmenden Verschärfung der Folgen der Erderhitzung kann kein Zweifel daran besteht, das Klimaeffekte künftig immer mehr Menschen zu Flucht und Migration nötigen werden, weil ihre Heimat graduell unbewohnbar wird oder ihnen jedenfalls keine gesicherte und erträgliche Existenz mehr bieten kann. Die Frage, ob mit dem erzwungenen Verlust der Heimat auch eine weitgehende Entrechtung vieler Menschen droht, wird damit künftig eher noch aktueller werden.
Rechte für alle und Wohnortprinzip statt Staatsbürger:innenrechte
Hannah Arendt beschreibt zwar das Problem, schlägt aber keine Lösung vor. Wie könnte eine solche aussehen? Im Grunde gibt es da wohl nur eine Möglichkeit: Die Kopplung vieler Rechte an die Staatsbürgerschaft, so wie wir sie heute kennen, muss fallen. Bislang sind viele politischen Rechte keine allgemeinen Rechte, die für alle gleichermaßen gelten, sondern Bürgerrechte, die lediglich den Bürger:innen des jeweiligen Staates zukommen. Auf eine bestimmte Staatsbürgerschaft hat aber niemand, die:der sie nicht schon von Geburt an besitzt, Anspruch – sie ist vielmehr ein Privileg, das von dem jeweiligen Staat jeweils nach Gutdünken gewährt werden kann oder auch nicht. Aus Sicht der Rechteperspektive ist aber jedes Privileg eine Ungerechtigkeit – Zufälle, wie etwa die Staatsangehörigkeit der Eltern, dürfen nicht darüber entscheiden, welche Rechte jemand hat.
Es gibt zwei Alternativen zur Staatsbürgerschaft, die beide je nach Kontext Sinn machen: Die eine sind universelle Rechte für alle, die andere ist das Wohnortprinzip – Rechte, die allen Einwohner:innen eines bestimmten Orts (z.B. eines Dorf oder Stadtteils, einer Stadt oder Region) gleichermaßen zukommen, nicht aber Menschen, die nicht an diesem Ort wohnen. Für Dinge, die nur einen bestimmten Ort betreffen, dürfte oft das Wohnortprinzip passender sein. Es ist nicht einzusehen, warum etwa Menschen, die nicht in Hamburg leben und mit der Stadt vielleicht gar nichts zu tun haben, darüber mitentscheiden sollten, wie die Hamburger:innen ihr Leben gestalten.
Allerdings gibt es Ausnahmen. Zum einen Dinge, die über den entsprechenden Ort hinaus Konsequenzen haben könnten. Wollen etwa die Hamburger:innen zur Stromversorgung ein Atomkraftwerk bauen, das im Unglücksfalle eine sehr große Region verstrahlen könnte, müssen auch alle Einwohner:innen der möglicherweise betroffenen Region in die Entscheidung einbezogen werden. Zum anderen gibt es Dinge, die sinnvollerweise in einem größeren Rahmen geregelt werden – z.B. wäre es unpraktisch, wenn die Hamburger:innen ganz andere Maße und Gewichte oder eine andere Zeitzone verwenden würden als die Bewohner von Nachbarregionen. Solche Dinge werden sinnvollerweise in einem größeren Kontext einheitlich entschieden. In all diesen Fällen greift freilich weiterhin das Wohnortprinzip, jedoch auf einer höheren Ebene. Auch hier bleibt es essenziell, dass alle Bewohner:innen des entsprechenden Landstrichs oder Kontinents mitentscheiden können, nicht nur die mit dem Privileg einer bestimmten Staatsbürgerschaft ausgestatteten.
Das Wohnortprinzip kann allerdings nur dann als allgemeines Recht statt als bloßes Privileg gelten, wenn es mit einem Recht auf allgemeine Freizügigkeit verbunden ist – dem Recht, nach freier Entscheidung den eigenen Wohnort zu wechseln und dorthin zu ziehen, wo mensch leben möchte. Dieses Recht wird etwa in der von dem Bürgermeister Palermos initiierten Charta von Palermo (PDF) „als unveräußerliche[s] Menschenrecht“ gefordert: „Kein Mensch hat den Ort, an dem er geboren wird, ausgesucht oder sucht diesen aus; jeder Mensch hat den Anspruch darauf, den Ort, an dem er leben, besser leben und nicht sterben möchte, frei zu wählen.“
Ohne das Recht auf allgemeine Freizügigkeit – manchmal auch freie Migration genannt – ergibt sich automatisch eine Unterscheidung zwischen den „legalen“ Bewohner:innen eines Orts und den „illegalen“, die eigentlich nicht dort sein dürften. Damit wären dann entweder gesetzlich oder zumindest faktisch vollständige Rechte nur den „legalen“ Einwohner:innen gewährt – die anderen könnten sie nicht oder jedenfalls nicht in vollständigem Umfang ausüben, und sei es nur aus Furcht vor Entdeckung und der damit verbundenen Abschiebung oder Vertreibung. Damit wären diese Rechte keine allgemeinen, für alle geltenden Rechte, sondern lediglich manchen gewährte Privilegien.
[Fortsetzung: Heißzeit oder System Change]
Literatur
Arendt, Hannah (1951). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München: Piper, 1986.
Tenenbom, Tuvia (2017). Allein unter Flüchtlingen. Berlin: Suhrkamp.
Das Wohnortprinzip gibt es jetzt schon: Alle mit einer gültigen Wohnortmeldung dürfen einen kostenlosen Corona-Schnelltest machen – unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Doch wenn du die nicht hast, „darfst“ du den Test bezahlen, was sich viele, die meist aus eben ökonomischen Gründen keine Meldung haben, nicht leisten können.
Kurz: Das Wohnortprinzip funktioniert nur in der Rechtsform, die den Staat braucht, der entscheidet, wer dazu gehört und wer nicht. Auch dann, wenn das Recht mal nicht an der Staatsangehörigkeit hängt.
@Stefan: Du hast gerade mit einem Beispiel „bewiesen“, dass es überhaupt nicht anders sein kann. Das ist nicht logisch. Also Deine Skepsis in Ehren, die teile ich durchaus zumindest teilweise, aber das Argument hilft so nicht wirklich weiter.
Zum Wohnortprinzip: Nicht zuletzt war auch für wohl alle noch in Stammesform lebenden Menschengruppen „ihr“ Territorium ein gemeinsamer Bezugspunkt, zumindest wenn sie in Beziehung zu anderen Menschengruppen standen. Nach Godelier ist das Territorium der Teil des Raums, auf den die Gruppe „dauerhafte Zugangs-, Kontroll- und Nutzungsrechte“ einfordert. Das sind natürlich i.a. nicht die uns bekannten privatisierenden Eigentumsformen, aber es gibt durchaus ziemlich durchregulierte Abspachen zwischen unterschiedlichen Gruppen bzw. für unterschiedliche Teile des Territoriums, wer unter welchen Umständen was nutzen kann.
Hannah Arendts Darstellung kann ich völlig verstehen.
Schon in manchen anderen Regionen Deutschlands fühle ich mich fremd, nicht dazugehörig.
Mit „die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, in die man hineingeboren ist“ ist sicher nicht ausschließlich die juristische Staatszugehörigkeit gemeint, insofern nützt es nichts, diese abzuschaffen.
Stattdessen ist es ein Menschenrecht, nicht auswandern zu müssen, sondern unter den Seinen bleiben zu dürfen, das ist Hannah Arendts Aussage,
Dass das als Argument zur jetzt in Mode gekommenen Bilderstürmerei benutzt wird, verwundert hier nicht.
@Tobias:
Ja, zweifellos ergibt sich aus Arendts Argumentation, wenn mam sie aus dem Kontext der Rechteperspektive betrachtet, auch das Recht, seine Heimat nicht verlassen zu müssen. Aber es ist auch klar, dass Rechte verletzt werden können und permanent verletzt werden, und Arendts anschließende Frage ist ja gerade, was passiert, wenn dieses Recht verletzt wurde. Sie stellt fest, dass das Dilemma der Staatenlosen (zu denen sie ja selbst gehörte) gerade darin besteht, zwischen den Staaten hin- und hergeschoben zu werden. Ein Staat hat sie ausgestoßen oder zur Flucht genötigt – zweifellos widerrechtlich, aber davon können sie sich nichts kaufen – die anderen Staaten wollen sie nicht aufnehmen. Nur aus diesem doppelten Staatsversagen (oder Staatsverhalten) ergibt sich der Verlust nicht nur dieses einen Rechts, sondern auch aller anderen, des „Rechts auf Rechte“.
Da sich konkretes Handeln immer auf einen konkreten Ort bezieht, ist es entscheidend, hier an beiden Seiten anzusetzen. Wer alleine auf die Verantwortung des ausstoßenden Staates verweist, spielt dieses fatale Spiel der Entrechtung gerade mit. Stattdessen ist es entscheidend, überall dafür zu sorgen, dass sowohl das „Recht auf Heimat“ als auch das „Recht auf Ankommen“ gewährt ist. Niemand darf gezwungen oder genötigt werden, seine Heimat zu verlassen, aber ebenso darf auch niemand daran gehindert werden, „anzukommen“, sich niederzulassen und ein gleichberechtigter Teil seiner neuen Wohnortgemeinde zu werden.
Zudem ist es ja nicht nur Politik, die Menschen vertreibt und zum Verlust ihrer Heimat führen kann, sondern auch Umweltveränderungen, etwa durch die Erderhitzung ausgelöste, können diese Rolle spielen. Oder beides zusammen, siehe den Verweis auf den syrischen Bürgerkrieg im Text. Und das wird in Zukunft noch sehr viel schlimmer werden. Sehr wahrscheinlich ist der Kipppunkt für ein vollständiges Schmelzen des Grönländischen Eisschilds schon überschritten oder wird jedenfalls überschritten werden, bevor es gelingt, die Erderhitzung noch zu stoppen. Dasselbe gilt für das Schmelzen des Westantarktischen Eisschilds. Das heißt, auf einen Anstieg des Meeresspiegels um ZEHN METER in den kommenden Jahrhunderten hat sich die Menschheit schon verpflichtet – der wird sehr wahrscheinlich nicht mehr zu verhindern sein. Ebenso werden selbst im „Best Case“ einer Erderhitzung um nur 1,5 Grad gegenüber vorindustriellen Zeiten manche tropischen Regionen unbewohnbar werden.
Das heißt, schon dadurch, dass sie in den letzten 200 Jahren massenhaft fossile Brennstoffe verbrannt haben, haben die Industrieländer das Recht unzähliger Menschen, in der Nähe ihres Geburtsorts bleiben zu können, unwiderruflich zerstört. Das kann man beklagen, aber nicht mehr ungeschehen machen. Da das Recht, nicht auswandern zu müssen, in vielen Fällen also schlicht nicht gegeben ist, ist das Recht, anzukommen zu können, um so essenzieller. Nur wenn dieses Recht weithin anerkannt wird, wird die Menschheit die Verwerfungen der kommenden Jahrhunderte hoffentlich meistern können – wenn nicht, wird sie in einem Weltbürgerkrieg versinken.