Marx’ Kritik der „sogenannten Menschenrechte“

Jeff Bezos, der derzeit erfolgreichste Privateigentümer der Welt (Lizenz: CC-BY)

[Voriger Teil: Utopisches Denken und der Rechteansatz]

Wer mit der marxistischen Tradition vertraut ist, erinnert sich beim Rechteansatz vielleicht an Marx’ Kritik an den „sogenannten Menschenrechte[n]“, die dieser insbesondere in seinem frühen (1844 veröffentlichten) Text „Zur Judenfrage“ formuliert hat (MEW 1, 347–377, hier 362). Diese Kritik ist allerdings relativ speziell. Marx betrachtet zunächst die „politische[n] Rechte, Rechte, die nur in der Gemeinschaft mit andern ausgeübt werden“ und die „Teilnahme am Gemeinwesen, und zwar am politischen Gemeinwesen, am Staatswesen“ zum Inhalt haben (ebd. – Hervorhebungen entfernt). Mit diesen scheint er kein Problem zu haben, doch er grenzt sie ab von den „Menschenrechte[n]“ im engeren Sinne, sofern sie sich von diesen „Staatsbürgerrechte[n]“ unterscheiden.

Die Menschenrechte im engeren Sinne, so kritisiert er insbesondere unter Bezugnahme auf die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1793, seien „nichts anderes […] als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen“ (ebd., 364). So sagt diese Erklärung in Artikel 6: „Die Freiheit ist die Macht, die dem Menschen erlaubt, das zu tun, was den Rechten eines anderen nicht schadet“. Marx kommentiert: „ Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade“ und fügt hinzu: „Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechtes der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigentums“ (MEW 1, 364 f.).

Diese Kritik ist allerdings nicht ganz fair, denn das Verbot, die Rechte anderer zu verletzten, bedeutet ja kein Verbot des gemeinsamen Handeln. Vielmehr wird alles für erlaubt erklärt, was im gemeinsamen Konsens, mit dem Einverständnis aller Handelnden stattfindet und dabei auch die Rechte anderer respektiert. Das macht die Menschen nicht zwingend zu isolierten „Monade[n]“.

Marx kritisiert, dass der Mensch in den „sogenannten Menschenrechte[n]“ nicht als „Gattungswesen aufgefaßt“ wird, sondern lediglich als „egoistische[r] Mensch[]“, als „auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum“ (ebd., 366). Nun gibt es zweifellos Rechte, die so aufgefasst werden können, insbesondere das „Recht auf Eigentum“ (Art. 16–19 der genannten Erklärung). Beim „Recht auf Eigentum“ ergibt sich das Paradox, dass es ein ausgesprochen ungleich verteiltes Recht ist, solange (wie in den bürgerlichen Gesellschaften üblich) die einen sehr viel Eigentum haben und die anderen sehr wenig. Unter solchen Umständen entpuppt sich das „Recht auf Eigentum“ also eher als Vorrecht, als Privileg, das es wie andere Privilegien in Frage zu stellen und ggf. abzuschaffen gilt.

Daraus aber eine allgemeine Kritik der (Menschen)Rechte als reine Egoistenrechte abzuleiten, wie Marx es versucht, ist ungerecht. Er selbst hat ja schon die „politischen Rechte“ von seiner Kritik ausgenommen – doch tatsächlich haben die meisten Rechte zumindest eine politisch-gesellschaftliche Dimension, insofern dass sie für ein rein „vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum“ gar keine Rolle spielen würden.

So garantiert die französische Erklärung von 1793 auch die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit (Art. 7), was nur relevant ist, wenn mensch sich mit anderen versammeln oder anderen seine Meinungen mitteilen will. Sie schützt die Menschen vor willkürlicher Verhaftung und Verurteilung (Art. 10–15), was zwar zweifellos auch rein isolierten Egoist:innen nützen kann, aber eben auch allen, die sich so zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenfinden können ohne Angst vor willkürlicher Verfolgung. Und sie enthält sogar schon eine frühe Form einer sozialstaatlichen Garantie (Art. 21: „Die Gesellschaft schuldet ihren unglücklichen Mitbürgern den Unterhalt, indem sie ihnen entweder Arbeit verschafft oder denen, die außerstande sind, zu arbeiten, die Mittel für ihr Dasein sichert“) – ein Punkt, der von Marx völlig ignoriert wird, vermutlich weil er nicht in seine Argumentation passt.

Treffender an Marx’ Argumentation ist der Hinweis, dass die Konzeption von Gesellschaft, wie sie der Französischen und der US-Amerikanischen Revolution zugrunde liegt, das Politische den bürgerlichen (Eigentums-)Rechten unterordnet. Das „politische Gemeinwesen“, so klagt er, wird „zum bloßen Mittel für die Erhaltung dieser sogenannten Menschenrechte“ – also insbesondere des Rechts auf Privateigentum – „herabgesetzt“, so dass „der Mensch als bourgeois“ – als Mitglied des Bürgertums, als Privateigentümer:in – „für den eigentlichen und wahren Menschen genommen wird“ (MEW 1, 366 – Hervorhebungen entfernt).

Dieser Einwand gegenüber der bürgerlich-kapitalistischen Form von Staatlichkeit ist sicherlich berechtigt, doch kann er nicht als Einwand gegen die Rechteperspektive im Allgemeinen genommen werden. Zumal das „Recht auf (Privat-)Eigentum“ wie gesagt ein schwieriges Recht ist, da es verschiedenen Menschen in extrem unterschiedlichem Maße zugute kommt, was bei anderen Rechten nicht so ist – das macht es eher zum Privileg. Andererseits ist es kein reines Privileg, denn es kann kaum geleugnet werden, dass ein gewisses Maß an privat besessenen Dingen, über die die Einzelne nach eigenem Gutdünken verfügen kann, ohne sich permanent die Zustimmung anderer Menschen einholen zu müssen, sehr befreiend sein kann. Permanente Absprachen kosten viel Zeit und sind auch nicht immer praktikabel.

Gewisse Eigentumsrechte machen also durchaus Sinn und es wird sie sicherlich auch nach dem Kapitalismus weiterhin geben, doch im Kapitalismus wird das Eigentum deswegen in erster Linie zum Privileg, weil es Menschen erlaubt, sich die Ergebnisse der Arbeit anderer, die gesellschaftlich schlechter gestellt sind, anzueignen. Damit steht die Realität des Eigentumsrechts in einem gewissen Konflikt zu seiner theoretischen Begründung: „Das Recht auf Eigentum ist das, das jedem Bürger erlaubt, seine Güter, seine Einkünfte, den Ertrag seiner Arbeit und seines Fleißes zu genießen“, sagt die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1793 (Art. 16) – durchaus widersprüchlich, denn wenn die „Güter“ und „Einkünfte“ besonders umfangreich sind, sind sie nahezu immer die Produkte der „Arbeit und [der] Fleißes“ anderer.

Die reichsten Menschen der Welt sind ausnahmslos Firmeneigentümer oder (erheblich seltener) -eigentümerinnen. Nicht ihr eigener Fleiß, sondern der Fleiß ihrer Angestellten hat sie reich gemacht. Es gibt aber kein „Recht auf Ausbeutung“ und diese Form von Eigentum ist kein Recht, sondern ein Privileg, dass es zu bekämpfen und abzuschaffen gilt. Der Kampf gegen Privilegien steht aber nicht im Widerspruch zur Rechteperspektive, sondern ist vielmehr ein inhärenter Teil von ihr.

[Fortsetzung: Hannah Arendt, das Recht auf Rechte und die freie Migration]

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