Diskursfigur 10: Keimform

Das ist Teil 10 einer Serie wöchentlich erscheinender Artikel, deren englische Fassung im Journal of Peer Production erscheinen soll. In den Artikeln versuche ich zehn Diskursfiguren zu beschreiben, wie sie im Oekonux-Projekt in über zehn Jahren der Analyse Freier Software und commons-basierter Peer-Produktion entwickelt wurden. Mehr zum Hintergrund im einleitenden Teil. Bisher erschienene Teile: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9.

Diskursfigur 10: Keimform

[English]

Zum Abschluss zur wichtigsten Diskursfigur, dem Keimform- oder Fünfschritt-Modell (Holzkamp, 1983). Ziel des Modells ist, die gleichzeitige Existenz von Phänomen unterschiedlicher Qualität zu verstehen. Die Diskussion um die Peer-Produktion wird häufig von zwei Gruppen dominiert: Jenen, die die Peer-Produktion befürworten und zu beweisen versuchen, dass die Peer-Produktion antikapitalistisch ist, und jenen, die die Peer-Produktion nur als Modernisierung des Kapitalismus ansehen. Die Herausforderung besteht darin, beides zusammen zu denken. Das Keimform-Modell erreicht dies, indem es das Aufkommen und die Entwicklung der commons-basierten Peer-Produktion als einen über die Zeit sich widersprüchlich entfaltenden Prozess auffasst.

Normalerweise ist die Anwendung des Fünfschritt-Modells ein retrospektiver Vorgang, bei dem das Ergebnis der analysierten Entwicklung bekannt ist. Durch gedankliche Vorwegnahme des Ergebnisses eines Übergangs zu einer freien Gesellschaft basierend auf der commons-basierten Peer-Produktion kann die Herausbildung der freien Gesellschaft durch Nutzung des Modells rekonstruiert werden. Hier ist eine sehr grobe Skizze der fünf Schritte angewendet auf den Fall der Peer-Produktion.

  1. Keimform: Eine neue Funktion tritt auf. In dieser Phase darf die neue Funktion nicht als vollständiger Keim oder Samen verstanden werden, der bereits alle Eigenschaften der endgültigen Form enthält und nur noch wachsen muss. Die Keimform zeigt nur Prinzipien des Neuen, ist aber nicht schon das Neue selbst. Daher ist auch die commons-basierte Peer-Produktion nicht schon selbst das Neue, sondern das qualitativ Neue an ihr ist die bedürfnisbasierte Vermittlung zwischen den Peer-Produzent_innen (basierend auf Selbstentfaltung, vgl. Diskursfigur 5). Während dieser Phase ist dies zudem nur auf lokaler Ebene sichtbar.
  2. Krise: Nur wenn das umgreifende alte System in eine Krise kommt, kann die Keimform ihre Nische verlassen. Die kapitalistische Weise der gesellschaftlichen Produktion und Vermittlung über Waren, Märkte, Kapital und den Staat hat die Menschheit in eine tiefe Krise gebracht. Sie ist in die Phase des sukzessiven Verfalls und der Erschöpfung der historisch akkumulierten Systemressourcen eingetreten. Die wiederkehrenden Finanzkrisen machen das für alle sichtbar.
  3. Funktionswechsel: Die neue Funktion verlässt ihren Keimform-Status in der Nische und bekommt Bedeutung für die Reproduktion des alten Systems. Die frühere Keimform hat nun ein doppeltes Gesicht: Einerseits kann sie zum Zweck des Erhalt des alten Systems genutzt werden, andererseits ist und bleibt ihre eigene Logik inkompatibel mit der Logik des dominanten alten Systems. Peer-Produktion ist nutzbar für Kosteneinsparungen und die Schaffung neuer Umgebungen für kommerzielle Aktivitäten, aber ihre eigenen Aktivitäten beruhen weiterhin auf nichtwarenförmiger Entwicklung (vgl. Diskursfigur 3). Kooptation und Absorption in die normale Warenproduktion sind möglich (De Angelis, 2007). Nur wenn die Peer-Produktion in der Lage ist, ihre commons-basierten Prinzipien zu verteidigen, kann der nächste Schritt erreicht werden. Freie Software als ein Beispiel der Peer-Produktion befindet sich sehr deutlich in diesem Stadium.
  4. Dominanzwechsel: Die neue wird zur vorherrschenden Funktion. Die alte Funktion verschwindet nicht sofort, sondern tritt als vormals dominante Funktion in Randbereiche zurück. Die commons-basierte Peer-Produktion hat ihre Vernetzungsdichte auf globaler Ebene erhöht, so dass sich Input-Output-Verbindungen schließen und geschlossene Kreisläufe entstehen. Getrennte Privatproduktion mit nachfolgender Marktvermittlung unter Benutzung von Geld ist nicht mehr erforderlich. Die bedürfnisorientierte soziale Vermittlung organisiert Produktion und Verteilung. Das gesamte System hat nun qualitativ seinen Charakter geändert.
  5. Umstrukturierung: Die Richtung der Entwicklung, die Grundstrukturen und die basale Funktionslogik haben sich geändert. Dieser Prozess umfasst mehr und mehr gesellschaftliche Felder, die sich nun auf die neue bedürfnisbasierte gesellschaftliche Vermittlung ausrichten. Der Staat ist abgewickelt, neue gesellschaftliche Institutionen entstehen, die keinen einheitlichen Staatscharakter mehr besitzen, sondern Mittel der kollektiver Selbstentfaltung sind (vgl. Diskursfigur 5). Neue Widersprüche können auftreten, ein neuer Zyklus der Entwicklung könnte beginnen.

Dies ist nur ein erkenntnistheoretisches Modell, kein Schema für die unmittelbare Aktion. Der Hauptvorteil liegt in der Möglichkeit, den fruchtlosen Entweder-Oder-Debatten zu entkommen. Es ermöglicht das Denken parallel auftretender Phänomene: das Aufkommen einer neuen Produktionsweise, die für das alte System nützlich ist und gleichzeitig ihre überschreitende Potenz in Richtung auf eine freie Gesellschaft beibehält.

Das Keimform-Modell, das im Oekonux-Kontext angepasst wurde, ermöglicht die dialektische Konzeptualisierung historischer Übergänge.

Letzter Teil: Zusammenfassung

Literatur

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