Was muss sich ändern, damit alles anders werden kann?
Die Kritik am Kapitalismus kann an vielen Punkten ansetzen. Einige wesentliche Aspekte habe ich in Der alte Marx und die Probleme des Kapitalismus zusammengetragen. Zudem basiert der Kapitalismus auf der systematischen Herstellung und Ausnutzung von Zwangslagen, was zweifellos kein schöner Zug ist. Und es gibt noch viele weitere gute Gründe, den Kapitalismus überwinden zu wollen.
Alle diese Aspekte sind grundsätzlich berechtigt und relevant. Für die Frage nach der Möglichkeit einer gesellschaftlichen Transformation über den Kapitalismus hinaus sehe ich aber das Problem, dass bei so vielen Einzelpunkten leicht das Wesentliche aus dem Blick geraten kann: Was genau muss sich eigentlich ändern, damit „alles anders werden kann“, sprich damit die spezifische kapitalistische Logik durch eine andere ersetzt wird?
Abgesehen von richtigen, aber etwas tautologischen Antworten wie „Der Kapitalismus dreht sich um Kapitalvermehrung“ ist es nicht leicht zu bestimmen, was eigentlich das Spezifische an der kapitalistischen Logik ist. Geld, Märkte, Tausch, Handel und Konkurrenz gab es in der einen oder anderen Form auch in vielen anderen Gesellschaften, ohne dass dies dort die spezielle Dynamik des permanenten Verwertungswettkampfs ausgelöst hätte, die der Kapitalismus seit seiner Entstehung aufweist. Das macht Behauptungen unplausibel, dass sich diese Dynamik nur durch die Abschaffung des einen oder anderen dieser Faktoren abstellen ließe.
Andererseits scheint mir bei vielen Ansätzen, die den Kapitalismus überwinden, aber manche dieser Faktoren in reformierter Form beibehalten wollen, die Gefahr sehr real, dass sie selbst wieder zu einer gesellschaftlichen Logik führen könnten, die der kapitalistischen in manchen ihrer negativen Aspekte sehr ähnlich wäre – weil sie nicht genau verstehen, was diese Logik ausmacht. Das gibt etwa für markt- bzw. konkurrenzsozialistische Ansätze sowie für Parecon.
Was ist das Spezielle am Kapitalismus?
Was also ist das Spezifische an kapitalistischen Gesellschaften, wenn man nicht das Ziel (Kapitalvermehrung) betrachtet, sondern die Organisationsweise der Gesellschaft? Kurz zusammengefasst würde ich sagen: Der Kapitalismus basiert auf Konkurrenz als permanent fortgesetztem Zwangsverhältnis, dem sich die Individuen unterwerfen müssen.
Das ist wahrscheinlich zu dicht, um intuitiv verständlich zu sein. Daher etwas detaillierter ausgeführt: Individuen, Firmen und Staaten unterliegen im Kapitalismus alle der Konkurrenz. Diese ist ein Zwangsverhältnis: Man konkurriert nicht freiwillig, sondern muss sich Konkurrenzverhältnissen unterwerfen, um die eigene Existenz und Position zu sichern.
Zudem wird die Konkurrenz permanent fortgesetzt: Jedes Individuum und jede Firma wird der Konkurrenz immer wieder aufs Neue unterwerfen – insbesondere dann, wenn sie etwas zu verkaufen versuchen, ob die eigene Arbeitskraft oder irgendein Produkt. Die eigene Position ist nie dauerhaft gesichert, sondern man muss sich ständig aufs Neue gegen andere durchsetzen. Zudem wird dieser Konkurrenzkampf ununterbrochen fortgesetzt: Von meinem Abschneiden in der Vergangenheit hängen meine Chancen in der Zukunft ab. Wer schon Berufserfahrung bei renommierten Unternehmen hat, ist beim nächsten Bewerbungsgespräch in Vorteil; ein junges und mit knappen Mitteln ausgestattetes Unternehmen wird sich schwertun gegen Platzhirsche, die eine etablierte Marke sind und über große Finanzmittel verfügen.
Es ist also nicht so, dass man etwa nur einmal eine bestimmte Prüfung bestehen (auch das kann eine Konkurrenzsituation sein) bzw. in einem bestimmten Wettbewerb hinreicht gut abschneiden muss und es damit dann „geschafft hat“. Das wäre zwar Konkurrenz, aber keine permanente. Und es ist auch nicht so, dass man jeden Morgen erst einmal einen 100-Meter-Lauf absolvieren muss und diejenigen, die diesmal am Schnellsten waren, dann das beste Frühstück kriegen. Das wäre zwar permanente Konkurrenz, die aber nicht fortgesetzt wird, da alle jeden Tag wieder von derselben Ausgangsposition starten.
Individuen und Firmen konkurrieren als Verkäuferinnen auf kompetitiven Märkten. Man muss etwas erfolgreich verkaufen können, um im Konkurrenzkampf zu bestehen. Firmen verkaufen dabei in aller Regel Waren: Dinge (im weitesten Sinne, wozu auch Informationsgüter und Dienstleistungen gehören), die explizit für den Verkauf auf dem Markt hergestellt wurden. Die meisten Individuen haben dagegen nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen, die eine fiktive Ware (Polanyi 1957) ist: Sie wird zwar auf dem Arbeitsmarkt wie eine Ware gehandelt, aber nicht als Ware hergestellt. Stattdessen ist sie untrennbar mit dem Individuum verbunden, das sie zu verkaufen sucht. Während Firmen, die feststellen, dass sie eine bestimmte Art von Waren nicht (mehr) erfolgreich verkaufen können, stattdessen auf andere Waren umsteigen können, haben Individuen diese Möglichkeit nicht. Ihre fiktive Ware Arbeitskraft ist in der Regel alles Verkäufliche, das sie haben.
Die gängigen (neoklassischen) Modelle der Wirtschaftswissenschaften kennen nur echte Waren, deren Verkäufer stattdessen auf eine andere Warenart umsteigen oder sich ganz aus dem Markt zurückziehen können. Deshalb hält die Neoklassik den Markt für ein freiheitliches System, an dem alle freiwillig teilnehmen. Bezogen auf die Arbeitskraftverkäufer geht diese Analyse aber völlig fehl: Sie verfügen über keine andere „Warenart“, die sie statt ihrer Arbeitskraft verkaufen könnten, und sie müssen am Markt teilnehmen, weil ihnen ansonsten der Hungertod oder zumindest großes Elend droht.
Das also ist das Spezielle am Kapitalismus, und damit das Merkmal, das auf jeden Fall verschwinden muss, damit die heutige gesellschaftliche Logik durch eine andere abgelöst werden kann: der Zwang zur permanent fortgesetzten Konkurrenz. Gegenüber dem Individuum äußert sich dieser Zwang als die gesellschaftliche Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft zu Markte zu tragen. Auch diese Notwendigkeit muss somit verschwinden, wenn sich die gesellschaftliche Logik ändert soll.
Was muss anders werden, damit alles besser werden kann?
Ich würde sagen, dass sich eine Gesellschaft, die keinen Zwang zur permanent fortgesetzten Konkurrenz kennt, auf jeden Fall signifikant vom Kapitalismus unterscheiden wird. Allerdings bedeutet das nicht unbedingt, dass sie besser wäre. Denkbar wäre etwa eine Gesellschaft, die statt auf permanent fortgesetzter auf bloß einmaliger oder gelegentlich wiederholter Konkurrenz basiert – vielleicht müssen sich alle jungen Erwachsenen bestimmten Prüfungen unterwerfen und ihr Abschneiden in diesen Prüfungen entscheidet darüber, wo in der gesellschaftlichen Hierarchie man landet und welche gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten man hat. Ebenfalls denkbar sind Gesellschaften, in der die Konkurrenz durch bloße Willkür ersetzt wird. Etwa indem die gesellschaftliche Position der Eltern über die eigenen Lebensmöglichkeiten entscheidet, wie beim indischen Kastensystem. Ebenso willkürlich wäre es, wenn etwa das eigene Geschlecht, Haut-, Augen- oder Haarfarbe, Körpergröße oder Intelligenzquotient für die jeweiligen Möglichkeiten ausschlaggebend wäre. Klar ist, dass derartiges zwar anders, aber nicht wirklich besser wäre als der heutige Zustand.
Ebenso wenig wäre es wünschenswert, wenn der abstrakte Zwang zur Marktteilnahme durch den konkreten Zwang einer Institution ersetzt würde. Das wäre etwa dann der Fall, wenn die Marktkonkurrenz durch eine offizielle Planungsinstanz ersetzt würde (wie im Realsozialismus), deren Anweisungen alle gehorchen müssten. Die unnahbare Institution des Marktes, die keine Gnade kennt und sich um Beschwerden nicht kümmert, würde dann lediglich durch eine andere Institution ersetzt, der die Einzelne ebenfalls aus einer Position des Unterworfenseins heraus begegnet. Und selbst wenn diese Institution sich als „bürgernah“ gäbe und ein offenes Ohr für Klagen aller Art hätte, würde das nichts ändern an der grundsätzlichen Asymmetrie zwischen den Individuen und den Einrichtungen, die ihr Leben bestimmen.
Damit alles besser werden kann, sind auch derartige Institutionen und Effekte zu vermeiden. Die gesellschaftliche Teilhabe jedes Einzelnen darf also weder vom individuellen Abschneiden in Konkurrenzsituationen noch von bloßer Willkür abhängen. Und es darf keine Institutionen geben, denen sich die Einzelne unterwerfen muss, ohne selbst gleichberechtigtes Mitglied dieser Institution zu sein. Dazu kommen noch die Anforderungen, die ich in meiner Ethik-Serie formuliert habe, etwa dass auch die Mehrheit nicht nach Belieben allen Vorschriften machen kann.
Angelehnt an Stefans neueste Streifzüge-Kolumne (Meretz 2015) kann man solche Postulate als Elemente einer kategorialen Utopie verstehen. Sie sagen nicht selbst, wie es anderes gehen könnte, sind aber Messlatten, die man an das – gedachte oder auch schon existierende – andere anlegen kann, um zu prüfen, wie weit es diesen Anforderungen gerechnet wird.
(Fortsetzung: Wie kommt das Neue in die Welt?)
Literatur
- Meretz, Stefan (2015): Utopie. Streifzüge 63. URL: keimform.de/2015/utopie/
- Polanyi, Karl (1957): The Great Transformation. Boston: Beacon Press.
Die Aufhebung der Konkurrenz ist nur möglich, wenn der gesellschaftliche Reichtum so weit entwickelt ist dass der Kampf ums Dasein wegfällt. Eine wesentliche Bedingung wäre also Grundversorgung, wie auch immer diese zustande kommt. Hast Du ja schon mehrfach als „universal flatrate“ angesprochen.
Diese Grundversorgung soll aber einen möglichst wenig verpflichtenden Charakter haben. Sie soll es den Individuen ermöglichen, von sich aus den Weg zu bestimmen, in dem sie ihren gesellschaftlichen Charakter entfalten.
Eine solche Utopie enthält für mich neben einigen universellen Kernpunkten eben auch die Differenzierung in verschiedenste Lebensmodelle und Kulturen, in denen der individuelle Lebensentwurf auf fördernde und strukturierende Resonanzböden trifft. Das wäre eine kategoriale Festlegung die in nicht allzuvielen Utopien getroffen wird.
Über die Konkurrenz als permanent fortgesetztem Zwangsverhältnis als sozialem Kernmoment des Kapitalismus habe ich auch nachgedacht, mich dann aber für den Begriff der Exklusionslogik entschieden. Der Grund liegt in der durch Konkurrenz betonten Unmittelbarkeit des sozialen Verhältnisses wie du auch beispielhaft schreibst:
Das finde ich auch alles zutreffend. Was aber hier aus dem Blick gerät, sind die mittelbaren Herrschaftsverhältnisse, die mit Konkurrenz nur unzureichend zu fassen sind, sondern aus meiner Sicht wesentlich besser mit dem Begriff der Exklusion als Verhältnis des Durchsetzens auf Kosten von anderen. Ich setze mich nämlich mittelbar durchaus auf Kosten von anderen Menschen auf der anderen Seite der Erde durch, wenn ich etwa durch Konsum hier solche Produktionsbedingungen dort herstelle, unter denen Menschen zu leiden haben (Beispiel: Ich kaufe bei Kik billig ein und in Bangladesh fällt die billig gebaute Fabrik ein und tötet die Arbeiterinnen).
Also kurz: Konkurrenz ist aus meiner Sicht nur ein Aspekt der Exklusionslogik. IMHO.
Mehr: http://keimform.de/2014/keimform-und-gesellschaftliche-transformation/
Ansonsten: Weiter so, ich bin gespannt 🙂
@stefan: Exklusionslogik ist aber nicht spezifisch kapitalistisch, die gibts schon sehr lange.
Die Suche nach einer gesellschaftlichen Perspektive, die Kapitalismus Geschichte werden lässt, gestaltet sich m.E. immer dann als besonders hoffnungslos, wenn man die Überwindung bestimmter Grundkategorien und deren Logiken (Geist) als das sieht, was wesentlich geschafft werden muss. Aber es sind ja nicht einfach DIE Arbeitsteilung, DIE Konkurrenz, DIE Exklusion usw. zu überwinden.
Die (öko-) kommunistische Art der Zukunftsbewältigung wäre in meinen Augen, gemeinsam – am Ende weltgemeinschaftlich – Herr über deren jeweilige Art, Gestalt, Zweck, Mittel, Nebenwirkung, Einsatz usw. zu werden sprich den von Marx/Engels konstatierten Widerspruch aufzuheben, zwischen dem (welt-) gesellschaftlichen Charakter der kapitalistischen Produktion (das – zunehmend – füreinander produziert und voneinander gelebt wird bzw. werden muss) und der privateigentümlichen, (d.h. in der Regel von der Konkurrenz privateigentümlicher Kaufkraftvermehrungsagenturen bestimmten) Art der Aneignung / Motivation, Rechtefertigungsbedingungen usw. mitsamt der damit verbundenen (privateigentümlichen) Akkumulation von Macht bzw. Ohnmacht.
Allein wegen der Notwendigkeit, eine gesamgesellschaftlich bzw. ökologisch vernünftige Berücksichtigung ökologischer und sozialer Kehrseiten des menschlichen Wohlstands hinzubekommen, verbietet sich ein Schlaraffenlandutopismus (jeder nach seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten).
Unter den vielen Dingen, die Bewegung in eine solche Richtung ermöglichen, ist die Verringerung des Arbeitszwangs sicher ein wesentliches Element. (Hier zeigt sich wieder einmal, dass die kapitalistisch vorangepeitschte Produktivkraftentwicklung auch notwendig zu sein scheint, damit die dadurch eben auch geschaffenen Probleme im Prinziep gelöst werden können.) Aber ohne weltweite Verallgemeinerung (!) der Zwangsarbeitszeitsverkürzung und deren Kombination mit Versuchen der gesamtgersellschaftlich bzw. ökologiosch vernünftigen Organisation von Fortschritten in der gesellschaftlichen Setzung von Produktionszwecken, sprich, ohne die Perspektive einer Globalsteuerung auf Basis eines – am Ende weltgemeinschaftlichen – Nachhaltigkeitsmanagements wird das alles nichts – zumindest nichts Gutes.
Keine Kritik, nur lautes Nachdenken.
@Franz #1:
Nein, damit naturalisierst du die spezifisch kapitalistische Situation eines Zwangs zur permanent fortgesetzten Konkurrenz zur biologischen Universalität, zum „Kampf ums Dasein“, der bislang immer bestanden haben soll und erst in fernerer oder näherer Zukunft aufgehoben werden könne. Das stimmt aber nicht, tatsächlich ist die heutige Form der Konkurrenz, die dem Kapitalismus seine unheimliche Dynamik verdient, erst mit diesem entstanden und keineswegs überhistorisch. In vor- und nichtkapitalistischen Gesellschaften existierte sie nicht, obwohl diese natürlich nicht mal annähernd über den gesellschaftliche Reichtum verfügten, der uns heute zugänglich ist.
Das ist also nicht der Punkt. Die Herausforderung ist nicht, die Produktivkräfte noch weiter zu entwickeln und damit noch mehr Reichtum zu produzieren, sondern vielmehr die gesellschaftlichen Verhältnisse so umzuorganisieren, dass allen genug zur Verfügung steht, ohne dass irgendjemand andere niederkonkurrieren müsste.
Ja, so weit, so gut, aber das ist eben nicht in erster Linie eine Frage der Produktivkraftentwicklung.
Hans-Hermann Hirschelmann:
„verbietet sich ein Schlaraffenlandutopismus (jeder nach seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten).“
„ohne die Perspektive einer Globalsteuerung auf Basis eines – am Ende
weltgemeinschaftlichen – Nachhaltigkeitsmanagements wird das alles
nichts“
Ein sehr wichtiger Hinweis! Und: Wer wäre besser geeignet, Bedürfnisse global zu steuern, Fähigkeiten korrekt einzusetzen, kurz globales Nachhaltigkeitsmanagement zu betreiben als Hans-Hermann Hirschelmann! Mit seinen vielen Kommentaren hier hat er sich für eine herausragende Position in den zu schaffenden Gremien bereits mehr als hinreichend qualifiziert!
@Stefan #2:
Wie Benni ja schon betonte, ist Exklusion nichts Kapitalismusspezifisches — im Übrigen genauso wenig wie Konkurrenz. Will man das Spezifische fassen, muss man schon konkreter werden, deshalb rede ich so ja so umständlich von „Konkurrenz als permanent fortgesetztem Zwangsverhältnis“.
Zudem würde ich den von dir beschriebenen Fall als Effekt des fortgesetzten Konkurrenzzwangs sehen und nicht als etwas davon Unabhängiges. Die Fabrik stürzt ja nicht deshalb ein, weil ich billig einkaufe, sondern Kik lässt möglichst billig produzieren, weil ihnen das im Konkurrenzkampf mit anderen Textilherstellern einen Vorteil verschafft. Und der Staat Bangladesch drückt beim Erlassen und Durchsetzen von Sicherheitsstandards beide Augen zu, weil er weiß, dass höhere Sicherheitsstandards höhere Kosten bedeuten würden. Was schnell dazu führen könnte, dass das globale Kapital auf der Sache nach billigen Produktionsstandorten weiterzieht und die bangladeschische Bevölkerung damit noch ärmer zurücklässt also sie sowieso schon ist. Gelegentliche Industriekatastrophen sind dann eben bedauerliche „Kollateralschäden“ dieser Standort- und Produzentenkonkurrenz.
@Benni @Christian: Ja, Exklusion ist wie Konkurrenz nichts kapitalistismusspezifisches. Deswegen nenne ich das auch Exklusionslogik, weil das auf die strukturelle Dimension verweist, denn im Unterschied zur vorkapitalistischen Verhältnissen ist das ein sachlicher Zwangszusammenhang (Fetischismus) und kein personaler — auch wenn die Sachzwänge am Ende von Menschen ausgeführt werden.
Wenn du den von mir beschriebenen Fall als Konkurrenzform einschließt, dann liegen wir nicht auseinander. Dann sind es nur unterschiedliche Worte, und ich habe jetzt eine (weitere) Übersetzung 🙂
Trotzdem würde ich zugespitzt sagen: Die Fabrik stürzt ein, weil ich billig einkaufe. Das dies kein unmittelbar ursächlicher Zusammenhang ist, liegt auf der Hand. Aber eben ein vermittelter, systemischer Zusammenhang, dem ich nicht entgehen kann (was die Konsumkritik übersieht, die meint, man müsse nur anders konsumieren). Das so zugespitzt zu formulieren, zieht die meiner Meinung nach notwendige Frage nach sich, welche strukturellen Vermittlungsverhältnisse wir brauchen, in denen mein Verhalten nicht auf Kosten anderer geht.
Die Exklusionslogik liegt schon mal dem Kapitalismus zugrunde. Und doch ist auch sie noch nicht die „Wurzel des Übels“, denn sie ist selbst Folge der Illusion, dass wir voneinander getrennte Wesen, Individuen seien. Insofern greift es zu kurz, nur den Kapitalismus überwinden zu wollen. Dann kommt halt die nächste Form der Trennung & Exklusion, wie auch immer diese aussehen mag. Die überzeugendste Deutung unserer Misere samt konkreten Ideen, wie wir da rauskommen, liefert m.E. Charles Eisenstein.
Im übrigen ist Commoning für mich mehr als nur eine Überwindung des Kapitalismus. Es geht dabei ja um das Gemeinsame, das Verbindende, die Beziehungen. Das ist doch genau diese Welt der Fülle, die uns verloren gegangen ist & dabei hinter jedem Ast & jedem Haarschopf hervorlugt.
@Timo:
Absolut, darauf gehe ich in dem Abschnitt Was muss anders werden, damit alles besser werden kann? ja auch schon ein.
Der Link führt ins Leere… Was Eisenstein betrifft, habe ich noch nichts Größeres von ihm gelesen, bin aber eher misstrauisch, denn das klingt doch alles recht esoterisch.
Ich finde es auch gewagt (zurückhaltend ausgedrückt), die Existenz von Individuen als bloße „Illusion“ abzutun. Und ich bin kein Freund des Konzepts „Geschenkökonomie“, weil Geschenk zu sehr nach Selbstlosigkeit klingt. Es braucht aber keine Welt voller selbstloser Menschen, sondern eine, in der die eigenen Interessen und die der anderen möglichst zusammenfallen statt im (systematischen) Gegensatz zueinander zu stehen. Sprich wo man egoistisch sein kann, ohne anderen zu schaden.
@Christian: Das mit dem Link ist seltsam, ich probier’s noch mal: Charles Eisenstein (ist ein Blogartikel von mir).
Und was meinst du mit „esoterisch“, bist du etwa Materialist? Dann kommen wir wohl nicht zusammen…
Schenken klingt nur deshalb für uns im Tauschparadigma sozialisierte Menschen nach Selbstlosigkeit, weil uns das Vertrauen fehlt, dass auch ohne direkten Gegenwert wir genug bekommen werden, um selber gut zu leben. Das ist doch auch genau eure Kritik daran!?!
Mir scheint, wir streiten uns hier nur um Worte, meinen im Endeffekt aber das Gleiche. Lies halt mal den verlinkten Beitrag, vielleicht wird’s dann klarer.
Ja, ich bin Materialist, deshalb kann ich mit deinem Artikel auch nichts anfangen. Was „ein empathieförderliches Geldsystem“ betrifft, klingt das für mich ähnlich wie eine „gesunde Krankheit“. Das Geldsystem ist es doch gerade, das die Trennungen herstellt und uns alle nötigt, die anderen als „Tauschgegner_innen“ zu betrachten! Ein „Geld“, das nicht mehr aufs Tauschen / Kaufen und Verkaufen abzielt, wäre hingegen gar kein Geld mehr, egal wie man es dreht und wendet.
Kali, die „liebe Sensenfrau“, hat im Übrigen eine sehr dunkle Seite.
@Christian: Hmm, wie ich schon schrieb – unter den Umständen kommen wir wohl nicht zusammen. Wenn du mir eine materialistische Erklärung für den Placebo-Effekt lieferst, denke ich vielleicht noch mal drüber nach. 😉
Und klar, Kali hat nicht nur eine dunkle Seite, das ist ihr Wesen.
@Timo #13:
Siehe Auslöser von Placeboeffekten in der Wikipedia.
@Christian, und was ist daran jetzt materialistisch? Erwartungshaltungen sind doch gerade nicht materiell. Aber das müssen wir hier auch nicht weiter ausdiskutieren, weil’s vom Thema weg führt.
@Timo: Du stellst dir unter „Materialismus“ offensichtlich was anderes vor als ich. Nur ganz kurz: Materialistische Ansätze bezweifeln ja nicht, dass geistige Prozesse existieren und auch ganz konkret wirksam werden können.
Sie gehen aber davon aus, dass es keinen Materie-Geist-Dualismus gibt, dass also Materie und Geist nicht unabhängig voneinander existieren, sondern geistige Prozesse immer ein materielles Substrat brauchen und selbst Ergebnis dieses materiellen Substrats sind. Es kann also (gemäß dieser Arbeitshypothese, die ich für plausibel halte) keine „unsterbliche Seele“ geben, die unabhängig vom menschlichen Körper weiterexistieren könnte. Und es gibt keine „höheren“, rein geistigen Wesen wie z.B. Götter.
Kali existiert also nur in den Köpfen von Menschen und tödlich ist sie nur, weil Menschen in ihrem Namen töten, nicht aus eigener Kraft. Denn sie hat überhaupt keine eigene Kraft und keine eigene Existenz.
@Christian: Ah OK, dann verwenden wir den Begriff tatsächlich unterschiedlich. Was du beschreibst, nenne ich „Monismus“. Wobei das in meinem Verständnis nicht ausschliesst, dass es in einem wie auch immer gearteten Informationsfeld, das mit der materiellen Welt interagiert, Entitäten jenseits des menschlichen Körpers geben kann. Konkret Reinkarnation habe ich in der Form bis vor kurzem für Phantasiegeschichten gehalten – bis ich den Film „Zwei halbe Leben sind kein Ganzes“ gesehen habe. Der hat mir echt zu denken gegeben, ich bin seither noch zu keinem definitiven Ergebnis gekommen.
Um noch mal auf das eigentliche Thema zu kommen: Ich bin sehr wohl ein Freund einer Geschenkökonomie, & zwar ist das für mich auch überhaupt nicht selbstlos. Es erfordert einen geistigen Sprung dahin, dass ich mich bereits in einer solchen Geschenkökonomie befinde. Das heisst dann, dass Schenken der übliche Modus ist. Also alle oder doch zumindest die große Mehrheit machen das so. Ich werde also vielfältig beschenkt.
Vor diesem Hintergrund ist es dann gar nicht mehr unbedingt selbstlos, wenn ich auch schenke.
Stigmergie ist für mich z.B. eine Form der Geschenkökonomie, denn Leute melden da ihre Bedürfnisse an & andere geben ihnen dann das, was sie brauchen. Was ist das anderes als Schenken? Schenken auf Bestellung sozusagen. 🙂
Und was das egoistisch sein angeht, das Paradox von Egoismus & Altruismus löst sich in dem Maße auf, indem sich das (Ego-) Bewusstsein erweitert. Wenn ich erkenne, dass dein Bedürfnis auch mein Bedürfnis ist, dann tue ich ganz natürlich, was ich kann, um dein Bedürfnis zu befriedigen. Und da sind wir wieder bei Eisenstein & der Illusion der Trennung.
Hallo!
Tut mir leid Timo, wenn ich jetzt nicht weiter auf dein Punkt eingehe, aber ich fand die Diskussion vorher spannend.
@Christian: Stefan meinte ja, dass er deshalb von Exklusionslogik, als struktueller Zusammenhang des Ausschlusses spricht. Und betont damit die Mittelbarkeit des Ausschlusses. … was meinst du dazu?
In vormodernen Gesellschaften ist das ja noch keine Logik:
Hier musst das europäisch-mittealterliche Dorf oder die Horde ja eher versuchen Mitglieder/Menschen einzubeziehen und es gemeinsam hinzukriegen, dass alle überleben weil direkte Abhängigkeiten bestanden, also Inklusivität nach innen. Dies war gekoppelt an partielle Exklusion nach aussen, weil das eine mittelalterliche Dorf profitierte ja nicht unbedingt davon wenn das daneben zerstört ist (eher im Gegenteil), weil sie nicht bspw. am Markt konkurrieren, aber wenn das andere Dorf von einer*m anderen Feudalherr*in beherrscht wird und nun Krieg aufkommt bricht die Beziehung zusammen, wobei das ganze ja eher von den Feudalherr*innen ausging, da die Dörfer eh kaum etwas von den Gewinnen abbekamen und eher ihre Felder verlassen mussten. Sie gewinnen also nicht unbedingt, wenn sie andere zerstören, darum partielle Exklusion.
The point: Vormoderne: partielle Inklusivität; partielle Exklusion. Kapitalismus: partielle Inklusivität (Familie, etc.). Exklusionslogik.
@Simon:
Wie gesagt, mir ist das zu unbestimmt. Im Mittelalter gab es partielle Inklusivität und partielle Exklusion und im Kapitalismus genauso. Jede Firma versucht ja zu wachsen und braucht dafür neue Kund_innen und von Zeit zu Zeit auch neue Mitarbeiter_innen — alles Akte der Inklusion, ohne die kapitalistisches Wirtschaften nicht möglich wäre. Klar kann man sagen, Exklusion ist strukturell wichtiger, weil Privateigentum, gegenseitige Konkurrenz etc. Man kann das dann auf den Begriff „Exklusionslogik“ bringen, aber letztlich ist das eine etwas willkürliche Begriffswahl. Genauso gut könnte man etwa von „Konkurrenzlogik“ sprechen — in der Tat scheint mir dieser Begriff, wenn man denn einen einzigen Begriff haben will, treffender, weil eben die permanent fortgesetzte Konkurrenz ein derartig konstitutives Element für den Kapitalismus ist. Und zwar eins, das in anderen, vorkapitalistischen Gesellschaften nicht in dieser Form anzutreffen war.
Während Exklusion nichts Kapitalismusspezifisches ist, wie du ja selber schreibst.
Abgesehen von richtigen, aber etwas tautologischen Antworten wie „Der Kapitalismus dreht sich um Kapitalvermehrung“ ist es nicht leicht zu bestimmen, was eigentlich das Spezifische an der kapitalistischen Logik ist. Geld, Märkte, Tausch, Handel und Konkurrenz gab es in der einen oder anderen Form auch in vielen anderen Gesellschaften, ohne dass dies dort die spezielle Dynamik des permanenten Verwertungswettkampfs ausgelöst hätte, die der Kapitalismus seit seiner Entstehung aufweist
Dieser Satz passt zur einleitenden Formulierung „Der alte Marx …“ . Kapitalismus ist beim alten Marx ganz genau durch Lohnarbeit und sonst gar nicht definiert.
Geld, Mar akt usw, gibt es auch jenseits von Kapitalismus. Und jeder real existierende Kapitalismus beruht auf einem immer noch rezenten Feudalismus, von welchem Renten (Grundbesitz und Zins) übernommen und aufgehoben wurden.
Wenn ich von Menschen spreche, dann unterstelle ich etwas, was den Menschen auszeichnet, also nicht den Körper, den er weitgehend mit den Affen teilt, und ohne den ich kein Mensch wäre.
Kapitalismus hat in diesem Sinne einen komplizierten „Körper“, aber Kapitalismus ist er (bei Marx im ersten Band des Kapitals) nur durch die Lohnarbeit.
Kapitalismus bedeutet nicht, dass ein Vermögen vergrössert wird, sondern dass es in einer ganz bestimmten Weise vergrössert wird.