Karl Marx über Freie Software

Karl Marx 1939 (Bild: public domain)Was Karl Marx vor mehr als 160 Jahren gedacht hat, wird zum Teil erst heute Realität. So auch die folgende Passage von 1844 über »Freie Software« und »Selbstentfaltung«, die Marx »individuelle Lebensäußerung« nennt (Bild rechts: Karl Marx mit 21 Jahren):

Gesetzt wir hätten als Menschen Freie Software hergestellt: Jeder von uns hätte in seiner Softwareentwicklung sich selbst und den anderen doppelt bejaht.

Ich hätte

  1. in meiner Softwareentwicklung meine Individualität, ihre Eigentümlichkeit vergegenständlicht und daher sowohl während der Entwicklung eine individuelle Lebenstätigkeit genossen, als im Anschauen des Quellcodes die individuelle Freude, meine Persönlichkeit als als gegenständliche, sinnlich anschaubare und darum über allen Zweifel erhabene Macht zu wissen.
  2. In deinem Genuß oder Deinem Gebrauch meiner Software hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit (ein) menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines anderen menschlichen Wesens seine entsprechende Software verschafft,
  3. für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergänzung deines eigenen Wesens, als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt zu und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken als in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen,
  4. in meiner individuellen Lebensäußerung unmittelbar Deine Lebensäußerung geschaffen zu haben, also in meiner individuellen Tätigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, meine Gemeinwesen bestätigt und verwirklicht zu haben.

Unsere Softwareentwicklungen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegen leuchtete. Dies Verhältnis wäre dabei wechselseitig, von deiner Seite geschähe, was von meiner geschieht.

Ok, ok, Marx kannte noch keine Software, daher habe ich die allgemeiner gehaltenen Worte von Marx etwas spezifischer zugeschnitten: Produktion(en) = Softwareentwicklung(en), Tätigkeit = Entwicklung, Gegenstand = Quellcode, Produkt = Software, produziert = Freie Software hergestellt. Wer will, kann den Originaltext rekonstruieren 😉

Wie bewertet Marx nun die Form der privateigentümlichen, also der proprietären Softwareentwicklung? Zitat:

Betrachten wir die verschiedenen Momente, wie sie in der Unterstellung erscheinen:

Meine Arbeit wäre freie Lebensäußerung, daher Genuß des Lebens.
Unter der Voraussetzung des Privateigentümers ist sie Lebensentäußerung, denn ich arbeite um zu leben, um mir ein Mittel des Lebens zu verschaffen. Mein Arbeiten ist nicht Leben.

Zweitens: In der Arbeit wäre daher die Eigentümlichkeit meiner Individualität, mein individuelles Leben bejaht. Die Arbeit wäre also wahres, tätiges Eigentum.
Unter der Voraussetzung des Privateigentums ist meine Individualität bis zu dem Punkte entäußert, daß diese Tätigkeit mir verhaßt, eine Qual und vielmehr nur der Schein einer Tätigkeit, darum auch eine nur erzwungene Tätigkeit und nur durch eine äußerliche zufällige Not, nicht durch eine innere notwendige Not mir auferlegt ist.

Nur als das, was meine Arbeit ist, kann sie in meinem Gegenstand erscheinen. Sie kann nicht als das erscheinen, was sie dem Wesen nach nicht ist. Daher erscheint sie nur noch als der gegenständliche, sinnliche angeschaute und darum über allen Zweifel erhabene Ausdruck meines Selbstverlustes und meiner Ohnmacht.

Marx spricht hier also von Selbstentfaltung (Lebensäußerung) und Entfremdung (Lebens_ent_äußerung) — diesmal völlig ohne Ersetzungen meinerseits. Wie sind diese Passagen von Marx einzuordnen?

Karl Marx hat den Text im Alter von 26 Jahren geschrieben. In Stil und Inhalt spürt man noch deutlich den Einfluss von G.W.F. Hegel bzw. der Junghegelianer. Marx geht hier von einem »menschlichen Wesen« aus, das unter den Bedingungen der Privatproduktion nicht zur Geltung kommen kann und dadurch sich selbst fremd werde. In der Entfremdung sieht Marx den Antrieb für die Aufhebung des (frühen) Kapitalismus.

Später hat Marx seine eigene Auffassung kritisiert. Inhaltlich geht die Kritik in etwa so: Das »menschliche Wesen« ist eine Setzung, eine gedankliche Konstruktion, an der die Wirklichkeit gemessen und für »falsch« befunden werde. Es gäbe aber kein »menschliches Wesen« als solches, sondern immer nur konkrete Menschen unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen. Der Mensch sei als »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« anzusehen, sei also selbst ein historisches Produkt.

Mit dieser (Selbst-)Kritik brach Marx jedoch den in jungen Jahren eingeschlagenen Nachdenkpfad fast völlig ab, der später nur noch ab und zu in seinen politisch-ökonomisch Schriften durchschimmerte (am deutlichsten in den »Grundrissen«). Dabei geht es nämlich um die Frage, warum denn individuelle Menschen überhaupt den Kapitalismus so Scheisse finden sollten, dass sie ihn überwinden wollten. Denn mit seinen ökonomischen Studien schien Marx langsam klar geworden zu sein, dass die Krisenhaftigkeit und das globale Elend, das der Kapitalismus systematisch produziert, noch lange keinen subjektiven Grund bietet, ihn zu auch überwinden zu wollen. Und wenn überwinden — was käme dann?

Marx hatte seinerzeit auf die Arbeiterklasse gesetzt. Nun ja, das war ein Fehlgriff. Die Individuen der Arbeiterklasse haben zuallererst das Interesse, Arbeiter sein zu dürfen (statt arbeitslos), anstatt Menschen im von Marx oben beschriebenen Sinne. Die Arbeiterklasse an der Macht kann also nur das befestigen, was sie vorgibt, abschaffen zu wollen. Heute gibt sie selbst das nicht mal mehr vor. Ist auch ehrlicher so.

Nein, die Quelle der Veränderung kann nur die entfaltete Individualität des Menschen sein. Damit sind wir aber flugs wieder beim (von der Linken meist ungeliebten) frühen Marx. Der ahnte das nämlich schon. In den »Grundrissen« knüpfte er daran an. Dann aber nicht mehr.

[Quelle: „Historisch-ökonomische Studien (Pariser Hefte)“, Sommer/Herbst 1844, MEGA IV.2, S. 462-465 u. 465/466 — danke, Walter, für diesen Hinweis!]

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