Was muss sich ändern, damit alles anders werden kann?

Gemälde von Wenzel Hablik: Große bunte utopische Bauten (gemeinfrei, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Wenzel_Hablik_Gro%C3%9Fe_bunte_utopische_Bauten.jpg )Die Kritik am Kapitalismus kann an vielen Punkten ansetzen. Einige wesentliche Aspekte habe ich in Der alte Marx und die Probleme des Kapitalismus zusammengetragen. Zudem basiert der Kapitalismus auf der systematischen Herstellung und Ausnutzung von Zwangslagen, was zweifellos kein schöner Zug ist. Und es gibt noch viele weitere gute Gründe, den Kapitalismus überwinden zu wollen.

Alle diese Aspekte sind grundsätzlich berechtigt und relevant. Für die Frage nach der Möglichkeit einer gesellschaftlichen Transformation über den Kapitalismus hinaus sehe ich aber das Problem, dass bei so vielen Einzelpunkten leicht das Wesentliche aus dem Blick geraten kann: Was genau muss sich eigentlich ändern, damit „alles anders werden kann“, sprich damit die spezifische kapitalistische Logik durch eine andere ersetzt wird?

Abgesehen von richtigen, aber etwas tautologischen Antworten wie „Der Kapitalismus dreht sich um Kapitalvermehrung“ ist es nicht leicht zu bestimmen, was eigentlich das Spezifische an der kapitalistischen Logik ist. Geld, Märkte, Tausch, Handel und Konkurrenz gab es in der einen oder anderen Form auch in vielen anderen Gesellschaften, ohne dass dies dort die spezielle Dynamik des permanenten Verwertungswettkampfs ausgelöst hätte, die der Kapitalismus seit seiner Entstehung aufweist. Das macht Behauptungen unplausibel, dass sich diese Dynamik nur durch die Abschaffung des einen oder anderen dieser Faktoren abstellen ließe.

Andererseits scheint mir bei vielen Ansätzen, die den Kapitalismus überwinden, aber manche dieser Faktoren in reformierter Form beibehalten wollen, die Gefahr sehr real, dass sie selbst wieder zu einer gesellschaftlichen Logik führen könnten, die der kapitalistischen in manchen ihrer negativen Aspekte sehr ähnlich wäre – weil sie nicht genau verstehen, was diese Logik ausmacht. Das gibt etwa für markt- bzw. konkurrenzsozialistische Ansätze sowie für Parecon.

Was ist das Spezielle am Kapitalismus?

Was also ist das Spezifische an kapitalistischen Gesellschaften, wenn man nicht das Ziel (Kapitalvermehrung) betrachtet, sondern die Organisationsweise der Gesellschaft? Kurz zusammengefasst würde ich sagen: Der Kapitalismus basiert auf Konkurrenz als permanent fortgesetztem Zwangsverhältnis, dem sich die Individuen unterwerfen müssen.

Das ist wahrscheinlich zu dicht, um intuitiv verständlich zu sein. Daher etwas detaillierter ausgeführt: Individuen, Firmen und Staaten unterliegen im Kapitalismus alle der Konkurrenz. Diese ist ein Zwangsverhältnis: Man konkurriert nicht freiwillig, sondern muss sich Konkurrenzverhältnissen unterwerfen, um die eigene Existenz und Position zu sichern.

Zudem wird die Konkurrenz permanent fortgesetzt: Jedes Individuum und jede Firma wird der Konkurrenz immer wieder aufs Neue unterwerfen – insbesondere dann, wenn sie etwas zu verkaufen versuchen, ob die eigene Arbeitskraft oder irgendein Produkt. Die eigene Position ist nie dauerhaft gesichert, sondern man muss sich ständig aufs Neue gegen andere durchsetzen. Zudem wird dieser Konkurrenzkampf ununterbrochen fortgesetzt: Von meinem Abschneiden in der Vergangenheit hängen meine Chancen in der Zukunft ab. Wer schon Berufserfahrung bei renommierten Unternehmen hat, ist beim nächsten Bewerbungsgespräch in Vorteil; ein junges und mit knappen Mitteln ausgestattetes Unternehmen wird sich schwertun gegen Platzhirsche, die eine etablierte Marke sind und über große Finanzmittel verfügen.

Es ist also nicht so, dass man etwa nur einmal eine bestimmte Prüfung bestehen (auch das kann eine Konkurrenzsituation sein) bzw. in einem bestimmten Wettbewerb hinreicht gut abschneiden muss und es damit dann „geschafft hat“. Das wäre zwar Konkurrenz, aber keine permanente. Und es ist auch nicht so, dass man jeden Morgen erst einmal einen 100-Meter-Lauf absolvieren muss und diejenigen, die diesmal am Schnellsten waren, dann das beste Frühstück kriegen. Das wäre zwar permanente Konkurrenz, die aber nicht fortgesetzt wird, da alle jeden Tag wieder von derselben Ausgangsposition starten.

Individuen und Firmen konkurrieren als Verkäuferinnen auf kompetitiven Märkten. Man muss etwas erfolgreich verkaufen können, um im Konkurrenzkampf zu bestehen. Firmen verkaufen dabei in aller Regel Waren: Dinge (im weitesten Sinne, wozu auch Informationsgüter und Dienstleistungen gehören), die explizit für den Verkauf auf dem Markt hergestellt wurden. Die meisten Individuen haben dagegen nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen, die eine fiktive Ware (Polanyi 1957) ist: Sie wird zwar auf dem Arbeitsmarkt wie eine Ware gehandelt, aber nicht als Ware hergestellt. Stattdessen ist sie untrennbar mit dem Individuum verbunden, das sie zu verkaufen sucht. Während Firmen, die feststellen, dass sie eine bestimmte Art von Waren nicht (mehr) erfolgreich verkaufen können, stattdessen auf andere Waren umsteigen können, haben Individuen diese Möglichkeit nicht. Ihre fiktive Ware Arbeitskraft ist in der Regel alles Verkäufliche, das sie haben.

Die gängigen (neoklassischen) Modelle der Wirtschaftswissenschaften kennen nur echte Waren, deren Verkäufer stattdessen auf eine andere Warenart umsteigen oder sich ganz aus dem Markt zurückziehen können. Deshalb hält die Neoklassik den Markt für ein freiheitliches System, an dem alle freiwillig teilnehmen. Bezogen auf die Arbeitskraftverkäufer geht diese Analyse aber völlig fehl: Sie verfügen über keine andere „Warenart“, die sie statt ihrer Arbeitskraft verkaufen könnten, und sie müssen am Markt teilnehmen, weil ihnen ansonsten der Hungertod oder zumindest großes Elend droht.

Das also ist das Spezielle am Kapitalismus, und damit das Merkmal, das auf jeden Fall verschwinden muss, damit die heutige gesellschaftliche Logik durch eine andere abgelöst werden kann: der Zwang zur permanent fortgesetzten Konkurrenz. Gegenüber dem Individuum äußert sich dieser Zwang als die gesellschaftliche Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft zu Markte zu tragen. Auch diese Notwendigkeit muss somit verschwinden, wenn sich die gesellschaftliche Logik ändert soll.

Was muss anders werden, damit alles besser werden kann?

Ich würde sagen, dass sich eine Gesellschaft, die keinen Zwang zur permanent fortgesetzten Konkurrenz kennt, auf jeden Fall signifikant vom Kapitalismus unterscheiden wird. Allerdings bedeutet das nicht unbedingt, dass sie besser wäre. Denkbar wäre etwa eine Gesellschaft, die statt auf permanent fortgesetzter auf bloß einmaliger oder gelegentlich wiederholter Konkurrenz basiert – vielleicht müssen sich alle jungen Erwachsenen bestimmten Prüfungen unterwerfen und ihr Abschneiden in diesen Prüfungen entscheidet darüber, wo in der gesellschaftlichen Hierarchie man landet und welche gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten man hat. Ebenfalls denkbar sind Gesellschaften, in der die Konkurrenz durch bloße Willkür ersetzt wird. Etwa indem die gesellschaftliche Position der Eltern über die eigenen Lebensmöglichkeiten entscheidet, wie beim indischen Kastensystem. Ebenso willkürlich wäre es, wenn etwa das eigene Geschlecht, Haut-, Augen- oder Haarfarbe, Körpergröße oder Intelligenzquotient für die jeweiligen Möglichkeiten ausschlaggebend wäre. Klar ist, dass derartiges zwar anders, aber nicht wirklich besser wäre als der heutige Zustand.

Ebenso wenig wäre es wünschenswert, wenn der abstrakte Zwang zur Marktteilnahme durch den konkreten Zwang einer Institution ersetzt würde. Das wäre etwa dann der Fall, wenn die Marktkonkurrenz durch eine offizielle Planungsinstanz ersetzt würde (wie im Realsozialismus), deren Anweisungen alle gehorchen müssten. Die unnahbare Institution des Marktes, die keine Gnade kennt und sich um Beschwerden nicht kümmert, würde dann lediglich durch eine andere Institution ersetzt, der die Einzelne ebenfalls aus einer Position des Unterworfenseins heraus begegnet. Und selbst wenn diese Institution sich als „bürgernah“ gäbe und ein offenes Ohr für Klagen aller Art hätte, würde das nichts ändern an der grundsätzlichen Asymmetrie zwischen den Individuen und den Einrichtungen, die ihr Leben bestimmen.

Damit alles besser werden kann, sind auch derartige Institutionen und Effekte zu vermeiden. Die gesellschaftliche Teilhabe jedes Einzelnen darf also weder vom individuellen Abschneiden in Konkurrenzsituationen noch von bloßer Willkür abhängen. Und es darf keine Institutionen geben, denen sich die Einzelne unterwerfen muss, ohne selbst gleichberechtigtes Mitglied dieser Institution zu sein. Dazu kommen noch die Anforderungen, die ich in meiner Ethik-Serie formuliert habe, etwa dass auch die Mehrheit nicht nach Belieben allen Vorschriften machen kann.

Angelehnt an Stefans neueste Streifzüge-Kolumne (Meretz 2015) kann man solche Postulate als Elemente einer kategorialen Utopie verstehen. Sie sagen nicht selbst, wie es anderes gehen könnte, sind aber Messlatten, die man an das – gedachte oder auch schon existierende – andere anlegen kann, um zu prüfen, wie weit es diesen Anforderungen gerechnet wird.

(Fortsetzung: Wie kommt das Neue in die Welt?)

Literatur

  • Meretz, Stefan (2015): Utopie. Streifzüge 63. URL: keimform.de/2015/utopie/
  • Polanyi, Karl (1957): The Great Transformation. Boston: Beacon Press.

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