Dystopie als Chance
Wir beschäftigen uns in diesem Blog ja traditionell recht viel mit Utopien. Mir fällt das immer schwerer. Ich gucke mich um in der Welt und sehe, dass Klimapolitik nicht existiert und Biodiversitätspolitik noch weniger. Ich sehe, dass nicht mehr absehbar ist, dass es mal eine letzte Coronawelle geben könnte. Ich sehe globale Lieferkettenprobleme, die immer mehr nach den letzten Jahren des Staatssozialismus riechen. Ich sehe ein immer offensichtlicher dysfunktionales politisches System in weiten Teilen der Welt, dass nicht mal mehr in der Lage ist, seine Rolle als universeller Gesamtkapitalist wahr zu nehmen. Ich sehe, dass wir so viel Wissen produzieren, wie nie zuvor, aber offensichtlich niemand willens ist, es anzuwenden, und wenn dann nur für absurde Marketingaktionen. Und nicht zuletzt sehe ich, dass die allgemeine gesellschaftliche Reaktion darauf vor allem aus immer neuen Wellen des Wahns besteht, jede höher als die vorherige.
Gleichzeitig bin ich mit diesem (für mich in dieser Stärke durchaus neuen) Lebensgefühl auch alles andere als alleine. Wenn wir uns angucken welche Zukunftsszenarien in der zeitgenössischen Kulturindustrie irgendwie vorkommen, dann sind das alles Dystopien (ja, auch StarTrek). Bis auf ganz wenige kleine Nischen findet sich vor allem eine Ansammlung von Horrorzukünften. Es scheint als sei unsere globale Gesellschaft als Ganzes nicht mehr in der Lage sich eine schönere Zukunft auch nur noch vorzustellen. Dystopien sind anschlussfähig, Utopia erntet nur verwunderte Blicke (und vermutlich verborgenes Tuscheln, man habe es wohl mit einem Irren zu tun).
Was also damit machen? Einfach einfallen in den allgemeinen Chor des Untergangs? Sich so wie die meisten anderen eher ein Ende der Welt als eines des Kapitalismus vorstellen können? Weiter beharren auf der Kraft der Vernunft, die sich am Ende doch irgendwie durchsetzen wird? Immer wildere Spekulationen anstellen, dass sich doch alles irgendwie zum besseren wenden lässt, wenn die Chance auch noch so klein ist?
Ihr kennt bestimmt diese in der Ratgeberliteraturszene sehr beliebten Phasen der Trauer. Während die Mehrheit der Menschen noch immer in Phase eins verharrt, denke ich es ist Zeit in die letzte Phase, die Phase der Akzeptanz einzutreten. Ja, diese „Zivilisation“ ist dem Untergang geweiht. Ja, das wird unermessliches Leid mit sich bringen und wir werden wenig tun können, es zu lindern. Ja, es wird in den nächsten hundert Jahren keinen weltweiten Kommunismus geben. Kein Gutes Leben für Alle. Es wird nicht für alle Bedürfnisse gesorgt. Nicht alle Fähigkeiten können eingesetzt werden.
An meiner Utopie ändert das wenig. Ich denke noch immer, dass so eine Welt möglich ist und dass wir sie anstreben sollten. Ich denke nur nicht mehr, dass wir so bald eine Chance haben ihr Nahe zu kommen. Auch das ist glaube ich ein verbreitetes Gefühl (zumindest unter Linken). Meistens endet dass traditionell dann damit sich halt irgendwie einzurichten, irgendwo Nischen zu finden im System, sich mit kleinen Verbesserungen zufrieden zu geben. Das war schon immer die starke reformistische Verlockung des Systems. „Hier, lass mal Deine radikalen Ideen bisschen beiseite (und Verrate ein paar Genoss*innen), dann haben wir auch ein Pöstchen für Dich“. Dass hat seit Generationen einen ständigen Braindrain aus der radikalen Linken erzeugt. Und jetzt kommen wir zur ersten guten Nachricht des Artikels: Wenn es stimmt, dass wir in einem bröckelnden Imperium leben, dann wird das nicht mehr lange funktionieren. Westrom ging unter als es nicht mehr gelungen ist den aufmüpfigen Nachbarn vielversprechende Karrieren im Militär und andere Bestechungen anzubieten sondern es lukrativer wurde in den Trümmern des Imperiums etwas eigenes aufzubauen.
Dass das Imperium bröckelt, bleibt ja auch ansonsten nicht unbemerkt. Der Anteil an Leuten, die irgendwie prokapitalistisch eingestellt sind, sinkt seit Jahren. Natürlich sind das immer noch viel zu viele. Ein Herrschaftssystem bricht nicht dann zusammen, wenn eine Mehrheit dagegen ist, sondern wenn die Minderheit, die dafür ist, zu klein wird. Aber anders als noch vor wenigen Jahren muss man die meisten Menschen nicht mehr davon überzeugen, dass der Kapitalismus an sich eine Quatschidee ist. Natürlich können die meisten das nicht mit einer elaborierten Wertkritik begründen, aber als gesellschaftliches Gefühl wird es immer stärker.
Noch vor wenigen Jahren hätte ich gesagt der Haupthinderungsgrund um meine Vorstellungen einer freien Gesellschaft umzusetzen, ist die zähe ideologische Soße, die den Laden am laufen hält, kombiniert mit der schier unbesiegbar erscheinenden Macht des Militärs und des Gewaltmonopols. Heute denke ich, dass ist nicht mehr unser größtes Problem. Diese Macht des Empire bröckelt von Tag zu Tag. Der Westen hat seine weltpolizeilichen Ambitionen längst begraben und es ist niemand in Sicht, diese Rolle zu übernehmen (Nein, auch nicht China). Und auch intern bröckeln immer mehr Länder und Bündnisse auseinander. Der Brexit war da nur der Anfang. Die Nato wird auch nur noch durch viel guten Willen zusammen gehalten, nicht mehr durch gemeinsame Politik. Die Fliehkräfte sind überall bestimmend.
Auch ideologisch gibt es kein Halten mehr. Es gibt immer weniger relevante Medien, die irgendwie im Sinne der Staaten kommunizieren. In der allgemeinen Medienkakophonie (ob „social“ oder nicht) ist die kommende Zersplitterung schon vorweg genommen. Die Menschen suchen sich längst schon ihre Bubbles, die die Keimformen künftiger Überlebensgemeinschaften sein werden. Und der grassierende Wahn ist vor allem ein Symptom wie sich ideologische Rechtfertigungen immer weiter von der Realität entfernen müssen um noch ihre Funktion erfüllen zu können.
Am Wochenende war ich auf einem Treffen, da wurde viel über die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen „Bruchs“ geredet ohne den auch die Commons keine gesamtgesellschaftliche Wirkung entfalten können. Gemeint war wohl meistens ein Ereignis in der Zukunft, das irgendwann eintreten könnte, wenn die Commonsnetzwerke mal stark genug werden um den mächtigen Kapitalismus herauszufordern. Ich würde sagen, wir sind schon mitten drin. Der globale Kapitalismus zerbricht von ganz alleine. Und das ist die zweite gute Nachricht.
Wie gesagt an der Utopie ändert diese Analyse wenig. An der Transformationsvorstellung jedoch recht viel.
Wenn das Hauptproblem ein übermächtiger Kapitalismus ist, dann muss ich mich fragen, wie ich genügend Leute überzeugen kann um die Macht- und Eigentumsfrage zu stellen. Wenn das Hauptproblem aber zerfallende Infrastruktur, faschistische Banden und grassierender Wahn sind, dann muss ich mir ganz andere Fragen stellen. Darüber würde ich gerne mit euch reden, welche das wohl wären.
Ich kenne weder schon alle relevanten Fragen noch hab ich alle Antworten. Mir geht es vor allem darum mit welchem Blick wir auf die Herausforderung der Transformation gucken. Vielleicht ist sogar „Transformation“ gar nicht mehr das richtige Wort, wenn es doch eigentlich um einen Zerfallsprozess geht? Spricht man von „Transformation“, wenn wir Gärten in den Ruinen bröckelnder Tempel bauen? Ich kann mir jedenfalls vorstellen, dass das auch schöne Orte sein können. Auch in Dystopia kann man Spaß haben, immerhin das können wir ja von der Kulturindustrie lernen.
Und wo wir gerade beim Auseinanderzupfen von Worten sind: „Dystopie“ hat auch eine weit weniger bekannte Bedeutung in der Medizin, nämlich „das Vorkommen von Organen an ungewöhnlichen Stellen“. Ich glaube das möchte ich gerne sein: Ein Organ an ungewöhnlichen Stellen. Eine Utopie in der Dystopie.
Wie auch immer diese Zukunft aussieht, eines weiß ich schon heute, ich werde mich auch in dieser von meinem kommunistischen Imperativ leiten lassen:
„Handele stets so, dass dein Handeln keine anderen Gründe hat, als die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Menschen.“
In diesem Sinne:
Also ich hab zufällig gestern das Buch „Kapitalismus aufheben“ ausgelesen und bin ziemlich angetan. Es ist zwar wirklich schwere Kost (und viele Absätze musste ich mehrmals lesen) aber das Konzept der Commons schafft es doch ganz gut, eine Ahnung von einer funktionalen Utopie zu erzeugen. Auch wenn ich hie und da Kritikpunkt hätte (das Thema „Verwertungskrise“ kam einfach zu kurz IMHO um das ganze Ausmaß nachvollziehen zu können), aber: der Fünf-Schritt und der Commonismus ist der für mich bis jetzt beste Utopie-Entwurf. Ansonsten bleibt „die Linke“ ja recht vage in dem „was danach kommen soll“. Oder man flüchtet sich eben in den Zukunfts-Horror – um es am Ende dann mit „naja, der Mensch ist halt so“ zu begründen, wie es Benni so schön schreibt.
@Benni
Mir fehlt egtl nur noch das Eskalationspoteniatl im sino-amerikanischen Konflikt. Und die nicht enden wollende globale Produktion fiktiven Kapitalis inkl. Anhäufung immer obszönerer Schuldenblasen, die früher oder später platzen werden. Schaut man sich mal in der Historie um, gab es vor fast jedem großen Crash immer unfassbar hohe Immobilien- und Aktienpreise.
@Benni
Es tut mir leid, dass sich mittlerweile dieses Gefühl des Unausweichlichen bei dir einstellt. Geht mir mittlerweile ähnlich. Die Menschheit verschenkt ihr Potential und wir rasen in einer atemberaubenden Geschwindigkeit auf die Klippe zu (oder sind vllt schon drüber). Selbst wenn wir das Erreichen der „äußeren Schranke“ durch geeignete Klimaschutzmaßnahmen hinauszögern können, das Erreichen der „inneren Schranke“ scheint fast noch näher zu sein. Man kann sich nur möglichst „gemütlich“ einrichten, seinen „Inner Circle“ pflegen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten versuchen, etwas Gutes zu tun. Aber wem erzähle ich das?! Ihr tut ja schon viel mit eurem Blog und all den innovativen Ideen und Konzepten!
Danke Benni, dass Du diesen Gedanken nachgehst und nicht verdrängst, auch wenns schmerzt.
Siehe hierzu auch von den Psychologists for Future: https://www.psychologistsforfuture.org/wp-content/uploads/2020/09/20200822_FachtagungKlimakrise_Klimaresilienz.pdf
und von mir: https://zw-jena.de/linked/documents/klima/2020_Klima-Umbruch_Transformation_Lebensfuehrung_2.0.pdf
@annette: Das Neue ist eigentlich eher die Hoffnung, die ich darin jetzt auch sehen kann. Also da ist gar nicht mehr so viel Schmerz wie er vorher da war.
Danke für den Artikel. Mit den Möglichkeiten einer „Utopie in der Dystopie“ beschäftige ich mich derzeit auch viel, auch wenn es mir bislang schwerfällt, das in Worte zu fassen. Unter anderem auch wegen der Ambivalenz, die auch in deinem Artikel durchkommt. „Dystopie als Chance“ kann ja schon leicht als zynisch empfunden werden, weil sie eben in jedem Fall „unermessliches Leid mit sich bringen“ wird, wie du ja selbst schreibst.
Dass der Kapitalismus, zumindest in der Form wie wir in heute kennen, in absehbarer Zeit praktisch zwingend an sein Ende kommen wird, davon würde ich aber auch ausgehen. Er schaufelt sich ja in Form von Klimakatastrophe und Überlastung der planetaren Grenzen sein eigenes Grab. Insofern wissen wir mit Sicherheit, dass es anders werden wird – was, trotz aller unvermeidlichen Dystopie, die Möglichkeit dass Wesentliches in the long run besser wird definitiv beinhaltet.
Und wenn man die Utopie nur sehr vage formuliert, etwas in Form eines (möglichst) „guten Lebens für alle“, ist es sicher richtig, dass sich an der Utopie im Kern auch nichts ändert. Allerdings ist das dann auch ein sehr vager Kern (ebenso wie „die Bedürfnisse und Fähigkeiten“ sehr vage sind). Allerdings glaube ich, dass viele konkreter ausgedachten Utopien, gerade auch aus diesem Blog und seinem Umfeld (früher auch bei mir), doch recht stark von Ideen eines „Ende der Knappheit“ (Post-scarcity) und eines weitgehend automatisierten Luxuskommunismus geprägt sind. Auch wenn wir solche Ideen nie platt und unkritisch übernommen haben, kommen sie in unseren Vorstellungen doch durch. Aber von solchen Vorstellungen eines Lebens ohne (ernsthaft einschränkende) Knappheiten und (ernsthaft belastende) Arbeiten werden wir uns verabschieden müssen, fürchte ich.
@christian: ich glaube welche Knappheiten und Arbeiten „ernsthaft belastend“ sind ist sehr subjektiv sobald mal Grundbedürfnisse erfüllt sind. Und auch unter dystopischen Bedingungen spricht nichts dagegen, dass Grundbedürfnisse zumindest an manchen Orten und für manche Zeiten erfüllt sein können.
Menschen in der Vergangenheit oder in anderen Weltgegenden haben/hatten viele Annehmlichkeiten ja auch nicht, die wir hier und heute so haben, aber deswegen waren/sind sie ja nicht weniger zufrieden automatisch oder ihre Gesellschaften weniger kommunistisch.
Oder sagen wir mal so: Ich würde meine Spülmaschine sofort eintauschen wenn ich dann nie mehr Lohnarbeiten müsste, und dabei ist das wirklich eine meiner liebsten Maschinen im Haushalt.
Hey Benni, Antje hat mich in einem Kommentar zu meinem Artikel (https://www.bzw-weiterdenken.de/2022/01/__trashed/; sry, peinliches Eigenpromoten 😉 zu deinem Artikel geschickt. Ich würde gern mal rausbekommen, wo wir und ob wir überhaupt so unterschiedlich ticken. Was verstehst du unter Akzeptanz? Mich triggert diese Stelle hier total: „Ja, diese „Zivilisation“ ist dem Untergang geweiht. Ja, das wird unermessliches Leid mit sich bringen und wir werden wenig tun können, es zu lindern. Ja, es wird in den nächsten hundert Jahren keinen weltweiten Kommunismus geben. Kein Gutes Leben für Alle. Es wird nicht für alle Bedürfnisse gesorgt. Nicht alle Fähigkeiten können eingesetzt werden.“ Und dann sagst du aber, dass wir eine Utopie dennoch weiter anstreben sollten. Wie meinst du das? Was bedeutet das in Praxis und für dein Denken? Bedeutet Akzeptanz, dass du weniger forsch nach den Sternen greifst, sondern Begründung dafür gefunden hast, dich ein bisschen mehr in deinen Nischen einzuigeln? Oder ändert diese Akzeptanz nicht vielleicht die Ausrichtung des (Weiter-)Denkens? Und wäre dann die Ausrichtung des Strebens und Kämpfens vielleicht eine andere? Unter meinem eigenen Artikel habe ich auf Antjes Kommentar ansonsten auch noch etwas „angriffslustiger“ kommentiert. Aber eigentlich brauche ich noch etwas mehr Inhalte, was für dich die Akzeptanz-Phase beinhaltet. Weniger Kampf? Mehr Kampf? Anderes Denken? Liebe Grüße, Anne
@Anne: Danke für Deinen Artikel. Ich teile das alles im wesentlichen, also ich glaube nicht, dass wir so wahnsinnig weit voneinander entfernt sind. Vielleicht in ein paar Nuancen.
Vielleicht am wichtigsten ist dieser Punkt, denn Du als Antwort auf Antje erwähnst:
„Damit die Institutionen durch die Masse der Leute auf den Straßen merken, ‘oha, da sollten wir auch mal zu Potte kommen, der Wind ändert sich’.“
Das ist halt der Punkt. Da waren wir bereits vor 2 Jahren. Es gab die größten Demonstrationen, die es je gab. Und es gab ja auch Reaktionen, aber halt nicht genug. Mehr wird es nicht mehr werden. Das ist das, was innerhalb des kapitalistischen Systems zu schaffen ist. Und auch außerhalb dieses Systems ist es inzwischen zu spät für 1.5 Grad (selbst in den IPCC-Szenarien, die jegliche politische Trägheit komplett ignorieren, ist 1,5 Grad nur noch machbar mit absurden gigantischen CO2-Capture-Techniken, die nicht mal wirklich existieren, geschweige denn, dass jemand bereit wäre die Ressourcen dafür bereit zu stellen). Das muss ich irgendwann akzeptieren und Schlussfolgerungen draus ziehen. Diese sind natürlich nicht, sich in „Nischen“ zurück zu ziehen oder nicht um jedes 10tel Grad zu kämpfen, so war es nicht gemeint. Aber dieses Missverständnis hat auch schon viel der Diskussion in unserem letzten Podcast geprägt. Das liegt vermutlich nahe. Vielleicht muss ich das nochmal ausführen, was ich statt dessen meine.
Ein paar weitere Nuancen:
Du koketierst in Deinem Text viel mit dem „Ende der Menschheit“. Ich denke, das wird nicht passieren. Habe das auch schon mal länger ausgeführt: https://keimform.de/2019/droht-das-aussterben-der-menschheit-durch-die-klimakrise/
Außerdem sprichst Du davon es „sei “sicher kein Erfolg, wenn die wenigen Überlebenden der Katastrophe am Ende als Lumpensammler und Bauern arbeiteten”“. Natürlich ist das kein Erfolg und wir müssen soviel Technik und Wissen retten, wie irgend möglich. Aber in dem Zitat schwingt auch ein bisschen eine Verachtung für „Lumpensammler und Bauern“ mit und ich glaube ob jemand ein „gutes Leben“ hat, hängt überhaupt gar nicht daran ob er Bauer oder Softwareingenieur ist. Mich erinnert das auch daran, wie nordamerikanische Indigene einmal Klimaaktivist*innen entgegengehalten haben: „Ihr sprecht immer von der kommenden Apokalypse, aber ihr seid seit 500 Jahren unsere Apokalypse. Wir leben darin.“
Lieber Benni, schade, das ich gerade nur knapp 15 Minuten zeit habe, denn in meinem Kopf explodiert es förmlich, hehe. Ich kann jetzt nur schnell die groben Nuancenunterschiede abarbeiten, und das auch nur grob, aber ich komme wieder, höhö.
Ja, ich denke auch, der Punkt ist „der Punkt“: Ich bin total davon überzeugt, das wir auch im Kapitalismus mehr werden könnten. Und dass dies aber intensive politische Arbeit an ALLEN Gesellschaftsbereichen bedeuten würde. Und zwar vor allem Vermittlungsarbeit. Ohne unsere Parents-Gruppe in Esslingen jetzt allzusehr loben zu wollen (hüstel!), aber wir wachsen gegen den Trend, und wir werden aktuell in unserem hyperkonservativem Städtchen entgegen dem Trend auch immer mehr Leute beim Klimastreik, den wir aber auch nur 2x im Jahr stemmen können. Ich glaube also sehr daran, dass wir mehr werden können auf der Straße. Wir haben jetzt für den Streik am 25.3. den Hashtag #inplusdrei in Esslingen und haben es auch schon bei der letzten Demo als Challenge ausgerufen: jede/r, die heute hier ist, bringe doch bitte beim nächsten Mal 3 Leute mehr mit. Wir scheitern so oft, aber insgesamt sind wir sehr tolerant: mit uns und mit allen Menschen, mit denen wir auf der Straße reden. Ich glaube, dass die Bewegung sich einfach noch viel bewegen und verändern muss, um mehr Leute auf die Straße zu bringen. Und deswegen sehe ich es gar nicht so, dass das alles nix bringt, weil ich ja die Erfolge spürbar hier vor Augen habe. Also das ist ein wichtiger Punkt: da, wo du aufhörst sozuzusagen („Es bringt nichts, es werden nicht mehr mehr“), da beginne ich das Denken. Verstehst du, was ich meine? Und ich gebe mich mit ganz ganz kleinen Fortschritten und erfolgen zufrieden (ein einziges gutes Gespräch auf der Straße in drei Stunden ist für mich ein Erfolg und Zeit zu feiern!)
Und der letzte Punkt ist mir auch noch so wichtig: Das mit den Lumpensammlerinnen und Bäuerinnen ist an eine bestimmte Gruppe gerichtet, und zwar an jene, die denken, sie hier sitzen und schlafen hier für immer safe in ihren trockenen, weichen Eigenheimsbetten. „Das Ministerium für die Zukunft“ von Kim Stanley Robinson, aus dem ich da ztiere, ist für mich ein Versuch der Vermittlung von Klimakrise für Leute, die sich nicht vorstellen können und wollen, was 1,5 Grad oder 2 Grad oder 3 Grad Erderhitzung bedeutet. Hier wird es sehr plastisch vorgeführt. Und wie gesagt, in dem Buch gibt es auch keine Rettung. Es ist nicht klar, ob es geschafft wird irgendwann, viele viele Jahrhunderte später, die Welt in die planetaren Grenzen zu führen. Aber ohne die Anstrengungen von ALLEN Seiten wäre es ganz sicher gar nicht möglich gewesen, überhaupt so weit zu kommen, dass es immerhin noch immer friedliche und gute Plätze zum Leben gibt. Und das ist mein Punkt. Ich lese seit einem halben Jahr fast nur noch Literatur von indigenen Feministinnen oder feministischen Naturwissenschaftlerinnen, also ich weiß schon um das Gap. Aber nur deswegen das mit den Lumpensammlern nicht sagen zu dürfen, empfinde ich tatsächlich so in Richtung Cancel-Culture (Also gefühlt!!! das schmerzt gar nicht, aber ich möchte es einfach sagen können ;), weil es muss meines Erachtens vielen Leuten gesagt werden. Es muss Formen der Vermittlung geben, und wenn es auch nur momentane Übergangsformen sind. Wie vermittelst du das sonst einem Software-Ingenieur? Und möchte ein Ingenieur Bauer sein? Und möchten alle Indigenen Bauern sein? Lumpensammler*innen sind viele von ihnen seit 500 Jahren, richtig, in gewisser Weise, indem sie versuchen, zumindest kleine Teile von Wäldern usw. usf. zu heilen, zu entgiften usw. Aber: Wollen sie das tun, oder müssen sie es tun, weil es gar nicht anders geht, als wenigstens ein bisschen dem Ganzen entgegenzuwirken, einfach weil sie die Weltverbundenheit so sehr in sich tragen? Vielen Indigenen brauchst du auch nicht mit dem Pariser Klima-Abkommen kommen, weil das ist alles nur hohle Technokratie-Utopie, alles noch innerhalb des Kapitalismus gedacht, und trägt weder Herz noch Weltverbundenheit in sich. Ich muss los! Danke für die Antwort, ich überlege die Tage, ob noch was Wichtiges fehlt. Liebe Grüße, Anne