Commons-Diskurs: Konflikte in der Peer-Commons-Gesellschaft

commons-jvmus-200Eine siebenteilige Serie mit Fragen an den Artikel Grundrisse einer freien Gesellschaft. Bisher erschienen: Freie Gesellschaft, Individuum und Gesellschaft.

3. Konflikte in der Peer-Commons-Gesellschaft

Frage: Auch in einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft wird es mannigfaltige Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessengruppen geben. Siehst Du das ähnlich? Mit welchen Mechanismen werden dann diese Interessenkonflikte gelöst? Gibt es real existierende Ansätze, Beispiele für fruchtbare Wege der Konfliktbearbeitung?

Zur Erläuterung: Konflikte um z.B. Ressourcen, Verteilung, persönlicher Arbeitsleistung und privatem Konsum, werden in den „Grundrissen einer freien Gesellschaft“ nicht angesprochen. Unserer Erfahrung nach haben aber selbst eigentlich komplett banale Dinge, wie z.B. ein Wochenplan zur Reinigung der eigenen vier Wände, das Potenzial für einen ernsthaften Konflikt. Wie wird z.B. entschieden und vor allem wer entscheidet darüber, ob ein Fluss zur Energiegewinnung oder zur Bewässerung von Feldern genutzt werden oder einfach Natur bleiben soll?

Wenn vorausgesetzt wird, dass die Menschen vor Ort „selbst am besten wissen, wie die konkreten Anforderungen vor Ort und an der Sache bewältigt werden“, wie wird sichergestellt, dass Entscheidungen vor Ort keine negativen Auswirkungen auf Menschen an anderen Orten haben? Anders gefragt: Wenn nicht bewusst ist und auch nicht bewusst sein kann, welche Auswirkungen örtliche Entscheidungen haben, muss dann nicht von struktureller Verantwortungslosigkeit gesprochen werden?

Antwort

Aus meiner Sicht wird eine commonistische (oder freie, das sind für mich Synonyme) Gesellschaft eine historisch einzigartige konfliktfähige Gesellschaft sein – zumindest, wenn man die Zeit seit der Entstehung von Patriarchat und Klassengesellschaften betrachtet. Die Frage ist also nicht, ob es „auch“ Konflikte gibt, sondern um welche Art von Konflikt es gehen wird. Allerdings – und das ist der ebenso wesentliche Unterschied – wird dieser nicht entlang von „Interessen“ oder gar „Interessengruppen“ ausgetragen und damit nicht im Modus von Herrschaft und Macht. Warum?

Das Denken in Interessen verstellt den Blick, worum es wirklich geht: um Bedürfnisse. Interessen sind die Artikulationsform von Bedürfnissen in herrschaftlich strukturierten Gesellschaften, in der sich die einen auf Kosten der anderen durchsetzen. Dieses Strukturverhältnis basiert auf Partialinteressen, die immer gegeneinander gerichtet sind. Die heute nur noch selten, aber in den 1980ern durchaus öfter zu hörende „linke“ Gegenrede vorgeblicher „Allgemeininteressen“ (der Arbeitsklasse oder von wem auch immer) verdeckt diese Tatsache. Das gesellschaftliche Strukturverhältnis der Partialinteressen geht zurück auf die Exklusionslogik des Kapitalismus. Hier gibt es immer andere Menschen – und keineswegs nur „böse Kapitalist*innen“ –, auf deren Kosten die Durchsetzung von Bedürfnissen im Modus von Partialinteressen gehen. Warum Emanzipation nur in Bedürfnissen, niemals aber in Interessen gründen kann, habe ich versucht hier und hier zu begründen.

Eine freie ist nicht zuletzt eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Das bedeutet, niemand hat die Möglichkeit, sich anderer zu bedienen, sie gegen ihren Willen zu etwas zu bringen und sie zu unterdrücken. Das jedoch ist heute die Regel. Oft wird dabei vorwiegend an manifeste Repression und Gewalt gedacht, und diese gibt es auch in erschreckendem Ausmaß. Sie ist jedoch vor allem dazu da, die wesentliche Form der Repression, die strukturelle Gewalt, sicherzustellen. Du musst nicht diskutieren, wenn du kaufen kannst. Jeder Kaufakt ist durch die globale exklusionslogische Vergesellschaftung immer ein Vollzug struktureller Gewalt, der auf Kosten von Menschen geht, die wir nicht sehen. Das Eigentum und die staatliche (und zunehmend auch private) exekutive Gewalt stellen das sicher.

In einem sozialen Verhältnis auf Augenhöhe, aus dem jede*r stets heraus gehen kann, weil die Existenz aller in einer freien Gesellschaft grundsätzlich gesichert ist, laufen Versuche der Machtausübung schnell leer. Nun wird klar, worum es in Wirklichkeit geht und schon immer gegangen ist: Um die Entfaltung der je individuellen Bedürfnisse und Gewinnung eines vollen Lebensgenusses. Ist dies nicht mehr im Modus von Interessen auf Kosten anderer umsetzbar, so muss der Konflikt der unterschiedlichen Bedürfnisse bewusst in einer Weise organisiert werden, dass wir alle unsere Bedürfnisse befriedigen können – und dies nicht aus moralischen Erwägungen, Altruismus o.dgl. –, sondern schlicht, weil eine freie Gesellschaft nur so funktioniert und dieser inkludierende, positiv-reziproke Beziehungsmodus die Grundlage des nahegelegten alltäglichen Handelns ist. Dabei sind Menschen durchaus in der Lage, ihre individuelle unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zugunsten einer langfristigen gemeinsamen Bedürfnisbefriedigung zurückzustellen (was wir auch heute teilweise schon kennen). Dies ist der Ansatzpunkt einer langfristigen Organisation der kollektiven und am Ende auch gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung, in der ich mit meinen besonderen Bedürfnissen vorkomme.

Da die Konfliktbearbeitung in einer freien Gesellschaft zentral sein wird, wird diese Gesellschaft sehr viel Zeit, Energie und Kreativität in die Bewegung genau dieser Frage stecken: Wie gehen wir mit Konflikten so um, dass niemand unter die Räder kommt? Bereits heute können wir Keimformen dieser sich entwickelnden Fähigkeiten beobachten: OpenSpace, Worldcafé, Systemisches Konsensieren, Kollektive Selbstverständigung und vieles andere mehr sind Formen der Auflösung und Entschärfung von Hierarchie und Herrschaft. Kaum zu ermessen, welche Formen noch erfunden werden, wenn wir diese nicht gegen eine strukturell feindliche Umgebung und Verinnerlichung durchsetzen müssen, sondern sie ihre volle Funktionalität in einer diesen Formen entsprechenden freien Gesellschaft entfalten können.

Nach diesen Überlegungen ist die zentrale Frage nicht, „wer entscheidet“, sondern wie wird entschieden. Das „wer“ ist trivial: Es sind die Menschen, denn es gibt keine (gar fremde) Instanz, die das für sie tut. Aber wie sie das tun, wie ihre je besonderen Bedürfnisse in dem Prozess aufgehoben sein werden, das lässt sich nicht voraussagen. Klar ist nur: Da die strukturellen Machtmittel fehlen, geht es nicht auf Kosten anderer, sondern jeweils nur mit ihnen. Diese Möglichkeit besteht dann jedoch (fast) immer. Das ist es, was ich mit struktureller Verantwortungsfähigkeit meine. Es gibt keine Garantie, aber es ist möglich. Heute ist es strukturell nahezu unmöglich, wirklich Verantwortung zu übernehmen. Und wir kennen alle die Mittel, diese krasse Erkenntnis auszublenden: vom vorgeblich „fairen Konsum“ über die moralisch entlastende Spende bis zum ökologischen Ablaßhandel.

Die strukturelle Verantwortungslosigkeit ist jedoch kein Resultat der globalen Vergesellschaftung „an sich“ (oder gar „der Zivilisation“), sondern Folge der Ex-Post-Vermittlung der getrennten Privat-Produktion im Kapitalismus. Das bedeutet, dass in einer freien Gesellschaft die Ex-Ante-Vermittlung ein ungleich höheres Maß an Transparenz, Informiertheit und damit Bewusstsein darüber herstellt, was wir da eigentlich tun und welche Folgen das hat. Dazu können wir uns dann auch in ganz anderer – eben verantwortungsvoller – Weise verhalten als es heute möglich ist.

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