Ursachen, Gründe und Interessen
[Kolumne Immaterial World in der Wiener Zeitschrift Streifzüge]
Geschieht etwas, so wurde das Geschehene durch etwas bewirkt, angestoßen, ausgelöst. Der Aufstieg des Kapitalismus und mit ihm der von Natur- und Ingenieurwissenschaften hat den göttlichen Beweger entmachtet und Wirkungen fortan auf Ursachen zurückgeführt. Auf Ursachen, die fortan gezielt herbeigeführt – verursacht – wurden, um beabsichtigte Wirkungen zu erzielen, die wiederum als neue Ursachen weitere Wirkungen zeigen: Wasser erhitzen – Dampf erzeugen – Volumenexpansion in Schubbewegung umsetzen – Schubbewegung in Drehbewegung verwandeln usw. usf. Der Ursache-Wirkungszusammenhang ist seither eine der zentralen Denkfiguren der Moderne.
Verstehen bedeutet nun umgekehrt, beobachtete Wirkungen auf Ursachen zurückzuführen, möglichst zergliedert in kleinste Einzelursachen. Das erkenntnistheoretische Gegenstück zu dieser Herangehensweise ist die formale Logik. Hier erzielen logische Ursachen zwangsläufige Wirkungen, und logische Wirkungen lassen sich in basale Elemente und Operationen auflösen. Inhalte und Formen sind hierbei streng getrennt. Nur so können formale logische Operationen auf beliebige Inhalte angewendet werden.
Es verwundert nicht, dass das Ursache-Wirkungs-Denken schließlich auch auf den Menschen ausgeweitet wurde. Allein die Metaphern wandelten sich historisch, das Ursache-Wirkungs-Schema blieb. War es anfangs das Räderwerk der mechanischen Uhr, so später der Computer und heute die genetisch-kognitive Biomaschine. Wer sich im Ursache-Wirkungs-Diskurs bewegt und forscht, kann schließlich nur entdecken, dass es einen freien Willen nicht geben kann. Freiheit lässt sich nicht formal-logisch operationalisieren.
In der bürgerlichen Psychologie heißen Ursache und Wirkung Reiz und Reaktion oder Input und Output oder allgemeiner: Bedingung und Verhalten. Die Kritische Psychologie nennt diese Denk- und Redeform den Bedingtheitsdiskurs. Von außen wird hier gefragt, welche Bedingungen welches Verhalten erzeugen, und es liegt auf der Hand, dass ihre kontrollwissenschaftliche Funktion darin besteht, jene Bedingungen zu benennen, die herrschaftskonformes Verhalten „erzeugen“. Der Mensch soll schließlich funktionieren – es ist nur zu seinem Besten.
Kritisch hält jene sich so nennende marxistisch fundierte Psychologie dagegen, dass der genuine Freiheitsaspekt, die Möglichkeitsbeziehung zur Wirklichkeit, die Möglichkeit, angesichts von Bedingungen so oder auch anders zu handeln, verfehlt, ja ignoriert werde. Statt vom Außenstandpunkt könne Handeln nur vom Standpunkt des Individuums verstanden werden, denn schließlich reagiert das Individuum nicht mechanisch auf Bedingungen, sondern verhält sich zu diesen, und für dieses Verhalten hat es Gründe. Gründe sind immer erster Person, sie lassen sich nicht deduktiv auf Bedingungen zurückführen, denn zwischen Bedingungen und Gründen gibt es keinen determinierenden Zusammenhang.
Statt im Modus von Bedingungen ist ein Zugang nur im Modus der Gründe vom jeweiligen Individualstandpunkt möglich. Dieser Begründungsdiskurs kann intersubjektiv als soziale Selbstverständigung organisiert werden. Damit ist gleichwohl das übliche Arrangement von Forschendem und Beforschtem – wie im Bedingstheitsdiskurs – hinfällig. Stattdessen geht es um das gemeinsame Erforschen und Begreifen der je eigenen Lebenslage und -ziele.
Der Perspektiven- und Diskurswechsel ist auch für Menschen mit (selbst-) kritischen Ansprüchen schwer vorstell- und durchhaltbar. Zu sehr legt das Alltagsdenken das Abgleiten in den Bedingtheitsdiskurs nahe. Fataler ist es jedoch, wenn emanzipatorische Strategien gleich komplett im Bedingtheitsdiskurs gedacht und konzipiert werden. Eine Brücke baut hierbei der allgegenwärtige Begriff der Interessen. Steht die Interessierheit noch für das individuelle Wünschen und Wollen, so wird daraus schnell eine „objektive Kategorie“, wenn sie als „Interesse“ in „objektiven Bedingungen“ verankert wird. Lange galten gar die „Interessen der Arbeiterklasse“ als Ausweis für das objektivierte historische Emanzipationsstreben schlechthin. Umständlich waren dann die theoretischen Verrenkungen, wenn es darum ging, das tatsächliche Auseinanderfallen von individuellem Handeln und vorgeblich historischer Mission der Handelnden zu erklären.
Aber wird aus individuellem Begehren nicht automatisch überindividuelles Interesse, sobald die gesellschaftliche und historische Größenordnung erreicht wird? So sieht es aus. Dies jedoch ist nicht zwangsläufig, sondern Verhältnissen geschuldet, in denen Interessen stets anderen Interessen gegenüberstehen, in denen sich die einen notwendig auf Kosten von anderen durchsetzen. Gegen die strukturellen Nahelegungen muss schon sehr explizit Anstrengung aufgebracht werden, um partiell andere Verhältnisse zu etablieren. Solidarität ist der Begriff dafür, und wir wissen, wie schnell sie bröckelt, wenn Interessen, die immer partielle sind, Raum greifen.
Die unbequeme Konsequenz lautet: Emanzipation kann nicht in Interessen gründen. Im Kollektivinteresse verschwindet das individuelle Begehren. Je größer das Kollektiv, desto inhaltsärmer die gemeinsame Basis. Auch das früher oft angerufene mythologische „Allgemeininteresse“ der Arbeitsklasse kann ihren tatsächlich partiellen und damit bornierten Charakter nicht kaschieren.
Emanzipation kann nur in Bedürfnissen gründen – und damit in den Gründen der Handelnden. Wenn sich eine freie Gesellschaft dadurch konstituiert, dass „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, so Marx und Engels, dann kann auch nur dies für ihren Prozess, die Emanzipation, gelten. Das Medium, in dem aus je individuellen Gründen für die Befreiung ein kollektiver Prozess der Emanzipation wird, ist die soziale Selbstverständigung in den Projekten unser alltäglichen Lebenspraxis.
Dass wir uns auf dem Weg der Befreiung in der Notwehr auch interessenförmig organisieren müssen, ist das eine, dies jedoch als den Weg zur Emanzipation zu mystifizieren ein anderes.
Vielleicht ist es aber auch so, dass schon die Naturwissenschaft mit ihrem Insistieren auf Ursachen und Gründen ihren Gegenstand verfehlt. Spätestens die Biologie hat uns gelehrt, dass die Ursache selber ein von ihrem scheinbar Folgenden geformt wird, ein allseitiger Zusammenhang entsteht oder unterstellt ist, in dem es zunehmend schwerer wird Ursache und Wirkung auseinander zu halten.
Deswegen gebe ich der Mustertheorie so viele Chancen, Leitparadigma des Lebens im dritten Jahrtausend zu werden. Sie denkt ebensosehr in Relationen wie in Substanzen, und sie beschäftigt sich mit dem erfolgreichen Zusammenspiel. Dies unterstellt, braucht man auch für den Menschen keine Sonderregelungen zu erfinden.
Und ich habe das Gefühl, dass uns die Auseinandersetzung darüber und die Unzulänglichkeit der bisherigen Wissenschaft zunehmend beschäftigen wird.
by the way: hier ist eine vertiefende Darstellung der Mustertheorie von Helmut Leitner:
http://philo-welt.de/forum/thread.php?threadid=11151
….ein thematisch sehr umfangreicher und genau den hier angesprochenen Punkt ausführender thread, der mir vieles an Erklärung erspart.
Hallo
Auch nach dem dritten mal durchlesen stehe ich immer noch verständnislos vor diesen Text.
Um was soll es in diesen Text eigentlich gehen?
Es gibt viele Schlüsselwörter und Zusammenhänge, die auf mir einen Reiz zum Lesen ausüben, aber letztendlich weiss ich einfach immer noch nicht, um was es primär geht.
„Franz Nahrada: Vielleicht ist es aber auch so, dass schon die Naturwissenschaft
mit ihrem Insistieren auf Ursachen und Gründen ihren Gegenstand
verfehlt.“
Das mit der Mustertheorie war für mich ein guter Hinweis. Danke.
Um mal Sinnstiftent auch was beizutragen:Man muss noch tiefer gehen und sich die Frage stellen, was ist denn der (Hinter)grund des BEOBACHTER. Wenn ein Beobachter ein Phänomen betrachtet, dann ist er ja schon mit Wissen vorbelastet. Erstens durch seine Perspektive und zweitens durch seinen Bezug auf schon Vorhandene Begriffe und die davon existierenden deutungen und drittens zum Wertesystem (Bedeutung), das ein Beobachter auch hat. Die Grundhaltung, die ein Beobachter miteinbringt in die Beobachtung ist ein Teil der Summe, die letzendlich die Ergebnisse der Beobachtung ausmachen werden. Besser erklärt kann man das nachlesen im Buch:
Wissen und Gewissen: versuch einer Brücke von Heinz von Foerster.
Ich würde gerne immer noch Wissen, was das Hauptanliegen des Textes war.
MfG Herr Schmidt
Damit wäre allerdings nur ein Dogma durch ein anderes ersetzt. Allein das Wörtchen „nur“ qualifizierte zumindestens letzteres als ideologisches Konstrukt.
Auch so ein nichtssagendes Dogma.
Natürlich verschwindet unzähliges individuelles Begeheren in einem – herzustellenden – planetaren Kollektivinteresse, dem Klimawandel, dem Biodiversitätsverlust, dem Verlust an fruchtbaren Böden usw. wirksame Maßnahmen entgegen zu setzen (um mal recht große mögliche Kollektive zu benennen). Wieso soll das nun zwangsläufig inhaltslos werden?
Ebenso viel individuelles Begehren kann (m.E. sollte) sich in Prozessen der Herstellung eben dieses Kollektivinteresses bilden, entfalten usw.
Unter der Bedingung eines nationalstaatlich regulierten (bzw, gepamperten) Wettbewerbs von Agenturen zur privateigentümlichen Aneignung von Tauschwert haben die Verhandler der Klimakonferenz ihre guten Gründe eine wirksame Klimaprolitik zu blockieren.
Was soll an dem Satz falsch sein?
Bedürfnisbefriedigung als neue Gottheit?
Wie wäre es stattdessen mit Emanzipation aus der Diktatur privateigentümlicher Bedürfnisse bzw. der bürgerlichen Freiheit, sich keinen Kopf über die Produktionsbedingungen dessen zu machen, was das privateigentümlich konsumierende Gemüt so erfreut?
Unter den derzeitigen Produktionsbedingungen haben Verbraucher schließlich nachvollziehbare Gründe, das Mehr an Gütern und Diensten dass ihnen RAUBBAU (gegenüber Nachhaltigkeit) bietet, als höhren Lohn / höheres Ergebnis ihrer eigenen Arbeit bzw. als Mehr an sozialer Gerechtigkeit wahrzunehmen (in Kauf zu nehmen).
Ich kann mit diesen Sätzen so ganz ohne Inhalt nicht so recht etwas anfangen. Wer ist „wir“ (uns)?
Was ist mit „soziale Sebstverständigung“ gemeint?
Wer sind die Subjekte? Wie verständigt sich dieses „Selbst“ selbst über die Grenzen und Inhalte des planetaren Doughnuts?
@Franz: Gerade die Aussage, dann
macht mich sehr skeptisch ggü. der Mustertheorie. Aus meiner Sicht muss jede Theorie die Spezifika der qualitativ unterschiedlichen Widerspiegelungsformen materieller Realität abbilden können und nicht einebnen. Sie hat sicher ihre Qualitäten, ist mir aber gerade was ihre Verallgemeinerbarkeit angeht zu einfach (soweit ich sie nicht sehr tiefgehend bisher kennengelernt habe).
@HrSchmidt: Hauptanliegen des Textes war die aus meiner Sicht notwendigen Bedeutungsunterschiede der in der Überschrift genannten Begriffe deutlich zu machen — in der gegebenen Kürze des Textformats.
Zwar reden wir alltagssprachlich viel flüssiger und verwenden etwa Ursachen und Gründe oft synonym (Beispiel Franz oben: »…Naturwissenschaft mit ihrem Insistieren auf Ursachen und Gründen…«), doch aus meiner Sicht führt das zu Problemen, wenn es um notwendige Unterscheidungen geht. So ist es unangemessen, menschliches Verhalten in Termini von »Ursachen« (und Wirkungen) zu fassen, weil es sich bei Ursache-Wirkung um einen Determinationszusammen handelt. Menschliches Verhalten ist aber nicht determiniert, sondern begründet. Etc.
Ein weiteres Ziel des Textes war, die unreflektierte Verwendung des Begriffes der Interessen zu problematisieren. Mehr gleich bei meiner Antwort auf HHH.
@HHH#5: Ja, danke für die Ideologieschublade, sehr hilfreich. Das spart dir (und damit auch mir) eine inhaltliche Auseinandersetzung.
Zu deinen Fragen @#5:
Ich schrieb von einer Tendenz, und dafür nennst du auch die Begründung: Die Individualität verschwindet bis auf das Residuum des Gemeinsamen im Kollektivinteresse. Dass dieses Gemeinsame unwichtig wäre, ist damit nicht gesagt. Was ich problematisiert habe, ist die Form des »Interesses«, die Gemeinsames in einer durch Partialinteressen strukturierten Gesellschaft annehmen muss. Dass auch etwa Klimaschutz unter diesen Bedingungen nur ein Partialinteresse ist, das gegen das Interesse auf etwa Arbeitsplätze steht, haben wir bei der letzten Klimakonferenz gesehen. Meine Frage ist: Kann man dann Emanzipation im Modus von Interessen denken? Ich denke: nein.
Warum? Weil aus der Tendenz (ich: »desto inhaltsärmer«) tatsächlich ein Absolutes (»zwangsläufig inhaltslos«) wird, je mehr Felder du unter das Interesse zu fassen versuchst. Daraus ziehe ich den Schluss: Ein Allgemeininteresse gibt es nicht, und mehrere Allgemeininteressen kann es nicht geben, denn dann wären sie nurmehr partielle. Das bedeutet: Emanzipation ist im Modus von Interessen nicht zu denken.
An dem Satz, in dem du Interessen und Gründe verwendest, finde ich nichts falsch. Hättest du beide Worte im Satz vertauscht, wäre das anders.
@HHH#6:
Wieso das? Die Aussage des Textes ist: Emanzipation kann nicht in (Allgemein-)Interessen gründen, sondern nur in Bedürfnissen. Lass dich doch mal auf die Aussage ein und setze dich damit inhaltlich auseinander. Ich kann mit deinen bloßen Zuschreibungen und Entgegensetzungen nicht viel anfangen.
Wer ist das »wir«, wer sind die »Subjekte«? — Das sind alle diejenigen, die es tun, die sich zusammenschließen und handeln und die sich über ihre Praxis kritisch reflektierend verständigen.
Damit ist auch der Begriff »soziale Selbstverständigung« (auch: »kollektive Selbstverständigung«) angedeutet, mehr dazu hier.
Deinem Unmut liegt vielleicht ein Missverständnis zugrunde. Ich wollte die zitierten Sätze nicht in eine Ideologieschubladen packen. Allerdings möchte den Nutzen hinterfragen, eine verabsolutierende obgleich unbegründete Behauptung durch eine andere, ebenso verabsolutierende und unbegründete zu ersetzen.
Vor allem das Wörtchen „nur“ macht auch diese zur schlichten (undifferenzierten) Gegenbehauptung.
Ja, so ein altes antikommunistisches Vorurteil.
Ein Kollektivinteresse wird aber faktisch erst zu eines wenn es einem gemeinsamen Bedürfnis entspricht also im Idealfall durch die sich kollektivierenden Individuen (kommunistisch) geschaffen, kontrolliert, gepflegt, notfalls korrigiert usw. wird. Ob „wichtig“ oder „unwichtig“ spielt keine Rolle.
Es ist jedenfalls etwas ganz anderes als ein nur behauptetes „Allgemeinwohl“ unter dem man sich gefälligst unterzuordnen habe.
Kapitalismus als eine „durch Partikulatinteressen strukturierte Gesellschaft“ zu kritisieren finde ich nicht so zielführend. Partikularinteressen wird es immer geben.
Die kapitalistische Strukturen des (globalen) Füreinanders machen sowohl Partikulatinteressen as auch „Allgemeininteressen“ zum Teil de zu lösenden Problems. Worauf es ankäme wäre eine Art der Teilung von Arbeit (Genuss, Planung, Kontrolle, Bedenken usw.) zu etablieren, die es den Globalisierten dieser Erde erlaubt alle möglichen Partikular und Kollektivinteressen zu formieren, einzubringen und in einer sozial bzw. ökologisch rationalen Weise aufeinander abzustimmen.
Das Problem der „Entfremdung“ werden wir nicht los, indem wir statt von „Interessen“ nun von „Bedürfnissen“ reden undstatt von „gesellschaftlichen Ursachen“ von „Gründen“.
Man kann über eine (z.B. ökohumanistische) Formierung und Strukturierung von Interessen sprechen, hier und dort sicher auch vom Gewahrwerden bestehender Interessen (Bedürfnisse, guter Gründe usw.) – und nach Gründen deren Umformuierung bzw. Umstrukturierung suchen und darüber, unter welchen Bedingungen das erfolgreich sein kann. Und sich dabei von der fixen Idee emanzipieren, dass dies durch bloße subjektive Willensakte zu schaffen wäre und man ohne Etablierung eines Füreinanders auskäme, das auf ein – am Ende weltgemeinschaftliches – Nachhaltigkeitsmanagement beruht.
Der Herstellung eines gemeinsamen Interesses daran dienlich zu sein entzieht ihr doch nicht den Inhalt. Im Gegenteil kommen wir ungeflügelte Zweibeiner doch erst in Zuge unserer sozialen Emanzipation – auch aus der UNverschuldeten Unmündigkeit – dazu, ausreichend über Produktionsinhalte und -bedingungen und -gründe sinnvoll (zielgerichtet) mitzuentscheiden also auch sinnvoll nachzudenken.
Habe ich nicht?
Nehmen wir noch einmal den Verlust an Biodiversität – vor allem infolge moderner (kapialistischer) Landbaumethoden und Strukturen oder den erwähnten Klimawandel.
Ich halte auch nicht viel davon, hier einfach ein „Allgemeininteresse“ an einem Stop des Biodiversitätsverlustes oder einer drastischen Reduzierung der Treibhausgasemissionen zu unterstellen oder ein bestimmtes Maß an Biodiversität. Oder beides zu einem Common zu erklären, ohne dass auch nur ein Bewusstsein der Wichtigkeit und Dringlichkeit derartiger Ziele (die in bestimmtem Maß in bestimmter Zeit zu erreichen wären) common sense wäre.
Als soziale Tatsache besteht ein gemeinsames Interesse daran erst sobald es tatsächlich als ein subjektives Interesse (möglichst) aller hergestellt ist und das ist bekanntlich nicht voraussetztungslos.
Das Ergründen von Bedingungen der Herstellung eines hinreichend gemeinsamen Bedürfnisses, dies als gemeinsames Interesse zu sehen kann in der Tat – da sind wir uns einig – nur Aussagen über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten hervorbringen. Keine Gewissheiten.
Umstritten könnte die Berechtigung der Behauptung sein, dass es auch ohne dass hinreichend viele Menschen über die genannten Probleme ausreichend informiert, besorgt, interessiert usw. sind, ein gemeinsames Interesse aller Menschen gibt, diese Probleme in den Griff zu bekommen.
Diskursethisch würde wohl argumentiert, dass niemand im Wissen um die Folgen einer Nichtbewältigung dieser Herausforderung sinnvoll dafür sein könnte, diese Probleme zu ignorieren (und deshalb Verhältnisse objektiv unmoralisch finden, die gute Gründe dafür liefern, sich der Herausforderung als Individuum zu enziehen.)
Mag sein, aber es bleibt die Aufgabe, über materielle Bedingungen der Möglichkeit zu forschen, einen common sense in der Sache herzustellen. Erfolgsbedingungen eines herrschaftsfreien Diskurses können dessen Herstellung und Praxis wiederum nicht ersetzten…
Lieber Stefan,
bitte nahme mir die Knappheit der mir hier manchmal herausrutschenden Provokationen nicht allzu übel. Ich sehe und schätze dein Bemühen um eine rationale (sinnvolle, nachvollziehbare) Begründung einer humanistischen (menschengerechten) Perspektive sozialer Bewegung. Muss wohl auch berücksichtigen, dass es hier vor allem um Angebote der Selbstvergewisserung derer gehen soll, die sich als eine Art soziale Avantgarde „keimförmig“ auf den Weg des Systemwandels machen (möchten).
Zum Widerspruch reizt mich die Totalität der wertenden Beurteilung und Gegenüberstellung bestimmter Aspekte sozialer Emanzipation, die in (bzw. mit) bestimmten Begriffen gefasst sind wie Handlungsbedingungen vs. Gründe oder Interessen vs. Bedürfnisse.
Ich sehe, dass es für jegliche Verständigung über Wege der sozialen Emanzipation bedeutend ist, sich relativer Wahlfreiheiten zu vergewissern. Der Hinweis, dass Menschen Gründe haben etwas zu tun oder zu lassen und ihr soziales Leben nicht entsprechend eines mechanistischen Reiz-Reaktions-Mechanismus gestalten, ist bedeutend. Allerdings gibt es diese Erkenntnis auch bereits im gescholtenen „Traditionsmarxismus“ (als Kritik des Ökonomismus).
Menschen haben als einzelne Individuen oder auch als Gruppen (historische) Gründe wie auch (historische) Muster, Möglichkeiten, Chancen, Kompetenzen, Bedürfnisse usw. aber im sozialen Durchschnitt handeln, (be)denken, widerstehen bedürfen usw. wir (wir Globalisierten dieser Erde) eben auch unter bestimmten historischen (sozialen bzw. ökologischen) Bedingungen. Neben dem Ausgang aus der SELBTverschudeten Unmündigkeit gilt es auch noch eine Menge Ausgänge aus UNverschuldeter Unmündigkeit zu finden und zu durchschreiten.
Ich wäre mit der Behauptung einverstanden, dass die Durchschreitung beider Arten „Ausgang aus der Unmündigkeit“ (bzw. aus der Vereinzelung) zu einem Bedürnis in der Tendenz aller werden muss wenn das eine Perspektive der ganzen Gesellschaft sein und auch noch gelingen soll.
Aber wenn ich lese, dass Bedürfnisse der letzte Grund jeglichen Handelns sein sollen, so frage ich mich, was mit der Verankerung, Angepasstheit, Sozilisation dieser Bedürfnisse an die mehr oder minder problematischen (zu überwindenden) SOZIALEN Möglichkeiten, Chancen, Rechtfertigungsmuster und -zwänge ist.
Gruß hh
Lieber HH, danke für deinen Offenheit signalisierenden Kommentar. Du weist zurecht darauf hin, dass die Unterscheidung von Ursachen und Gründen bereits in traditionellen Ansätzen vertreten wurde — ich komme daher, kenne das also ganz gut. Nicht zuletzt die Kritische Psychologie, die ich gerne bemühe, hat dort ihre Wurzeln. Ich will die traditionellen Ansätze keineswegs pauschal bashen, sondern ihren aufhebenswerten Gehalt bewahren. Meine Argumentation ist also durchaus eine doppelte in zwei unterschiedliche Richtungen. Der Artikel steht geradezu dafür.
Wenn es dich provoziert, wenn ich absolute Aussagen formuliere, und du dich dadurch zu, na ja, nicht gerade freundlichen und nichtinhaltlichen Kommentaren hinreissen lässt (nicht nur, ja), kann tut mir das Leid, aber es ist dein Problem. Nicht meines. Ich stehe zu den Aussagen, diskutiere gerne darüber, nehme auch mal was zurück und ändere meine Position. Pauschale Entgegnungen nach dem Schema »ist ideologisch« oder »alles ist zu relativieren« helfen mir nur gar nichts.
Auch trifft es nicht zu, dass ich die klaren Aussagen nicht begründet hätte. Der ganze Artikel ist eine durchkomponierte Begründung. Ich entwickle darin, warum ich die Interessen-Kategorie für emanzipatorische Ansätze für nicht tragfähig halte. Ganz am Ende gestehe ich jedoch ein, dass wir auch um Kämpfe im Modus von Interessen gar nicht herum kommen. Nur Emanzipation ist so nicht zu begründen. Das ist mein Punkt.
Mit der Frage kann ich viel anfangen. Genau darum geht es meiner Meinung nach, um die Frage wie wir mit unseren Bedürfnissen angesichts der gegebenen Bedingungen und Verhältnisse umgehen, und zwar kollektiv je individuell. Daher der Begriff »kollektive Selbstverständigung«. Das ist etwas, dass wir kollektiv tun (können), wobei es dabei um je mich geht. Im Modus der Interessen kannst du das nicht denken. Und die Commons sind so ein Ort, wo dies tatsächlich stattfindet — samt »Möglichkeiten, Chancen, Rechtfertigungsmuster(n) und -zwänge(n)«. Aus meiner Sicht führt daran kein Weg vorbei, die Subsumtion unter Interessen bringt es nicht.
Um es noch mal theoretischer zu sagen: Bedürfnisse sind niemals unvermittelt der Grund des Handelns, sondern eben gerade vermittelt durch die Lebenswelt, wie je ich sie erfahre. Dennoch sind die Bedürfnisse in der gesellschaftlichen Vermittlung für mich tatsächlich »der letzte Grund« meines Handelns, was denn sonst.
Also der wesentliche Unterschied zwischen Interessen und Gründen scheint mir doch zu sein, dass man Interessen vermeintlich „objektiv“ unterstellen kann („ich/die Partei handle in deinem Interesse, auch wenn du das selbst noch gar nicht erkannt hast“), während das bei Gründen keinen Sinn macht. Oder?
Was ich bei HHH vermisse, ist die Anerkennung, dass die Ablehnung eines solche „das ist/sollte sein dein objektives Interesse!“-Diskurses ja nicht nur theoretische Ursachen hat, sondern in ganz konkreten schlechten Erfahrungen linker Bewegungen wurzelt. In Hermann Lueers lesenswerten (wenn auch teilweise „traditionalistische“ Vorstellungen vertretenden) Buch „Kapitalismuskritik und die Frage nach der Alternative“ gibt es z.B. einen Abschnitt ‚Die „Interessen der Arbeiterklasse“: eine fürchterliche Abstraktion‘. Dort wird detailliert gezeigt, wie im Realsozialismus der (durchaus ernst und ehrlich gemeinte) Verweis auf die vermeintlichen „Interessen der Arbeiterklasse“ zu einem ideologischen Rechtfertigungsprogramm wurde, um sich über die realen Bedürfnisse/Interessen/Wünsche/Vorstellungen der (arbeitenden) Menschen gerade hinwegzusetzen und sie zugunsten der unterstellten „allgemeinen Arbeiter-Interessen“ zu unterjochen.
Ich begrüße es, wenn hier diejenigen „linken“ Anmaßungen und Projektionen vergangener Tage scharf angegriffen werden, die vorgaben, (auch noch als einzige) die „wahren Interessen der Arbeiterklasse“ zu erkennen (zum Beispiel das wahre Interesse am fürsorgestaatlichen „Realsozialismus“) und sich zu jedem erdenklichen Verbrechen berechtigt sahen, um ihren von „der Geschichte“ auferlegten Job der Vertretung dieser Interessen mit Bravour erledigen zu können. Keine Frage.
Ich bin auch der Meinung, dass man über soziale Interessen sehr vorsichtig reden sollte, sehr skeptisch. Dass es vor allem immer möglich (und gewollt) bleiben muss, deren Existenz, Bedeutigung oder Berechtigung (kurz- oder langfristiger Natur) infrage zu stellen.
Das gilt selbst bei Dingen, die wirklich auf der Hand zu liegen scheinen, wie den Erhalt der gemeinsamen Überlebensgrundlagen. Oder ein allgemein menschliches Interesse an der Abschaffung der Todesstrafe und der Folter. Deshalb mein Hinweis auf die Diskursethik, die in solchen Fragen durchaus weiter hilft, wenn man keine höhere Wesen in Beschlag nehmen aber trotzdem zu Ergebnissen kommen möchte, die Verlässlichkeit ermöglichen (und keinen Rückfall in Barbarei rechtfertigen).
Es ist vor allem anzuerkennen, dass die Existenz, die sozialen Bedeutungen oder die Berechtigung sozialer Interessen einem ständigen Wechsel unterliegen. Allerdings wechseln auch die sozialen Bedeutungen und Berechtigungen dieser und jener Bedürfnisse. Sind auch Bedürfnisse stets zu hinterfragen. Als Interessen bestimmte Präferenzen in Bezug auf Zustände, Möglichkeiten, Sicherheiten usw. können gegenüber Bedürfnissen eine eher emanzipatorische Rolle spielen oder umgekehrt.
Am Ende müssen Interessen und Bedürnisse aber wohl zusammenfinden, das gehört für mich zum Kern moderner (freiheitlicher, selbtbewusster) Vergemeinschaftung als Grundlage sozialer Emanzipation.
Aber was heißt emanzipatorisch?
Da ist Marx Einsicht, dass „die Befreiung der Arbeiterkasse nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann“. Ich mag zwar auch hier das Wörtchen „nur“ nicht, aber im Großen Ganzen stimme ich zu.
Es gibt sehr viele gute Gründe für den Gedanken, dass der Zwang zur Vermietung der eigenen Arbeitskraft (und umgekehrt diese Mietsache so einzusetzen, dass aus Tauschwerte mehr Tauschwerte werden, was übrigens eine systematische Entwicklung privater Bedürfnisse bedeutet bzw. Entwicklung sozialer Bedürfnisse in ihren privateigentümlichen Beschränktheiten) auf durchaus absehbare Zukunft nicht mehr der zentrale Antrieb der Vergesellschaftung sein sollte. Etwa, weil dieser Antrieb nicht im Entferntesten die soziale Steuerung erlaubt, die für ein Weltwirtschaften in den Grenzen ökologischer Vernunft notwendig wären.
Ein „Interesse der Arbeiterklasse“ an einer solchen Befreiung zum global interagierenden Mitmenschen lässt sich daraus aber tatsächlich nicht behaupten. Auch die Hilfskonstruktion, dass die derzeit nur „an sich“ existierende Arbeiterklasse eben (per globaler Organisation) eine „für sich“ werden muss greift nicht wirklich.
Solange man sich genötigt sieht, Klasseninteressen zu formulieren, ist weder ein eindeutiges Interesse an der Überwindung der Lohnarbeit zu erwarten (etwa zugunsten der Möglichkeit zur ökologischen Vernunft zu kommen) noch dass das Bedürfnis danach überschäumt.
Andererseits gibt es die Notwendigkeit, Klasseninteressen zu formulieren und zur Geltung zu bringen, wie etwa das Bedürfnis auf der einen Seite, an Brandschutz oder Gebäudesicherheit zu sparen und auf der anderen, nicht bei lebendigem Leibe verbrannt oder verschüttet zu werden. Und man kann auch entdecken, dass eine gewisse Internationalisierung der Interessensvertretung notwendig ist.
Und dabei gibt es Bedürfnisse, die der erfolgreichen Interessensvertretung förderlich sind und solche, die dem entgegen stehen. (Ein gewichtiges Wort mitzusprechen hat dabei der Fetischcharakter der Waren um deren Tauschwert bzw. Nutzen als Mittel der Bedürfnisbefriedigung es (jeweils) geht).
Und eine vernünftige Haltung dazu scheint mir zu sein, die Bedingungen herauszufinden, unter denen die Bedürfnisse nach einer (welt-) gemeinschaftlichen Steuerung des Füreinander-Produzierens so wachsen und gedeihen kann, dass sie am Ende in die Formulierung bzw. Herstellung des klaren Interesses an eine Vergesellschaftung auf Grundlage (öko-) kommunistischer Übereinkünfte aufgehen.
Wie nicht zuletzt der Kampf um die Einhaltung minimaler Bauvorschriften in der Textilindustrie zeigt, kann eben auch die „Befreiung der Arbeiterklasse“ (auch als Selbstbefreiung gedacht) keine rein gewerkschaftliche Angelegenheit bleiben. Andererseits wissen wir, dass es neben gegensätzlichen auch mehr als genug gemeinschaftliche Interessen zwischen denen gibt, die ihre Arbeitskraft vermieten müssen und denen, für die das zentrales Mittel der eigenen Existenzsicherung und Bereicherung ist. Und es gibt jede Menge Bedürfnisse, das so beizubehalten.Individuen beider Seiten haben – unter den jetzigen Reproduktionsbedingungen – tatsächlich gute Gründe, sich dem ökologisch vernünftigen Begehren nach einer starken Absenkung des Stoffaustausch gerade auch im Textilbereich entgegen zu stellen.
Hier kann man auch sehen, dass Bedürfnisse als solche immer Teil des Problems und Teil der Lösung sind und soziale Emanzipation nicht einfach in Bedürfnissen gründen kann sondern im Bemühen um eine gemeinsame Vermittlung von Bedürfnissen und sozialen (bzw. ökologischen) Gewinnen und Verlusten, die deren Befriedigung kosten dürf(t)en.
@HHH: also in deinem letzten Kommentar scheinst du mir wieder in einen rein innerkapitalistischen Modus des „unterschiedliche Interessen müssen eben ausgehandelt werden und ein vernünftiger Kompromiss zwischen ihnen gefunden werden“ zu verfallen. Wozu Stefan ja auch schon gesagt hat, dass das unter den herrschenden Umständen natürlich nötig ist, dass aber diese innerkapitalistische Interessenaushandlung nicht die Tür zur allgemeinen Emanzipation öffnen kann.
So schreibst du:
Aber ist denn nicht klar, dass solange Menschen tatsächlich dafür kämpfen müssen, dass ihr Leben nicht aufgrund des Kapitalisten-Wunsches nach Kostensenkung gefährdet und in manchen Fällen geopfert wird, die allgemeine Emanzipation noch ganz, ganz weit weg ist? Also ich sehe das eher als Bestätigung von Stefans Argumentation dann als Einwand.
Was du da in Anführungszeichen gesetz hast, ist allerdings nicht von mir. Wirklich geschrieben hatte ich folgendes:
Das gilt meines Erachtens unabhägig von den historisch vorherrschenden Formen der Teilung von Arbeit (Verantwortung, Genuss, Zweckbestimmung usw.) in Hinblick auf die Produktion der Mittel menschlicher
Existenzsicherung und Bereicherung.
Unterschiedliche Bedürfnisse, Fähigkeiten, die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf ökologische, regionale usw. Besonderheiten usw. müssen stets er- und vermittelt werden.
(Soziale) Emanzipation sehe ich als Prozess der Befreiung aus sozial bzw. ökologisch unvernünftig gewordenen Formen / Inhalten der Arbeitsteilung inklusive der unvernünftig gewordenen Formierung von Interessen und Bedürfnissen. A never ending story.
Hier blicke ich doch in Richtung (welt-) kommunistischer Fomen der Arbeitsteilung. Dabei sollte m.E. unterschieden werden zwischen a) entspechenden sozialen Prozessen innerhalb des kapitalistischen Warensinns, b) der Utopie der (weltweiten) Vorherrschaft eben dieses Emanzipationsprozesses (gleichedeutend mit der Phase einer „sozialistischen“ Formation der Vergesellschaftung / Arbeitsteilung) deren Ergebnis von c) einer tatsächlich kommunistischen bzw. weltgemeinschaftliche Vermittlung als allgemeinen Grundlage des menschlichen Füreinanders zu unterscheiden wäre. (In den Übergagshasen ist die Warenproduktion nicht überwunden)
Gesellschaftliche Vermittlung kann sinnvollerweise nicht auf die Findung von Kompromissen reduziert werden. Es käme darauf an, ein tatsächlich gemeinsames Interesse an einer (welt-) kommunistschen (ökologisch Vernunft erlaubenden) Abstimmung der unterschiedlichen Bedürfnisse mit den zu deren Erfüllung nötigen (bzw. erlaubten) Kosten zu entwickeln.
Das zielt natürlich auf eine Veränderung unpassend gewordener Interessen und Bedürfnisse.
Ansonsten habe ich lediglich versucht anzudeuten, dass auch ein anderes Herangehen an die Frage der Arbeiteremanzipation denkbar ist als die interssensgeleitete Behauptung, die „wahren Interessen der Arbeiterklasse“zu vertreten und daraus die Berechtigung zu politischer Repression (und gesellschaftlicher Regression) abzuleiten.