Commons-Diskurs: Freie Gesellschaft
Ein Diskussionskreis in Hamburg hat meinen Artikel Grundrisse einer freien Gesellschaft diskutiert und dazu Fragen formuliert. Ich veröffentliche die Fragen zusammen mit meinen Antworten in einer Serie von 7 Artikeln. Folgende Links werden nach Erscheinen der Artikel aktiv:
- Commons-Diskurs: Freie Gesellschaft
- Commons-Diskurs: Individuum und Gesellschaft
- Commons-Diskurs: Konflikte in der Peer-Commons-Gesellschaft
- Commons-Diskurs: Abstimmungsprozesse
- Commons-Diskurs: Inklusion
- Commons-Diskurs: Stigmergie
- Commons-Diskurs: Übergang
Fragen und Anmerkungen zum Artikel „Grundrisse einer freien Gesellschaft“
Im deinem Artikel werden Aspekte einer alternativen Gesellschaftsform beschrieben, die das bestehende kapitalistische System durch eine andere Produktions- und Verteilungsweise von innen heraus überwinden will. Neue, noch zu entwickelnde Gemeinschaften (Peers) – die freiwillig aus sich selbst heraus die gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigen – und eine kooperative Verteilung der natürlichen Ressourcen (Commons) sollen die herrschende Ökonomie des Marktes von Angebot und Nachfrage ersetzen.
Antwort
Vielen Dank für eure inspirierenden Fragen! Ich will mich sehr gerne damit auseinandersetzen, doch muss ich zum besseren gemeinsamen Verstehen einige Vorbemerkungen machen. Die erste betrifft den Diskurs, in dem wir uns bewegen. Aus meiner Sicht gibt es zwei Diskurse, die sorgsam unterschieden und nicht vermischt werden sollten.
Im Diskurs 1 geht es um die prinzipielle Möglichkeit einer freien Gesellschaft. Liegt es, auf einer kategorialen Ebene überlegt, überhaupt in der menschlichen Möglichkeit, eine Vergesellschaftung jenseits von Herrschaft zu haben? Wenn ja, wie ist das Verhältnis von Handlungen auf der Mikroebene und System-Emergenz auf der Makroebene beschaffen? Wäre eine solche Gesellschaft stabil?
Im Diskurs 2 geht es um die Transformation, also den Weg in eine freie Gesellschaft. Wie kann der Kapitalismus aufgehoben werden? Was ist mit den Machtinstanzen, die sich gegen eine Transformation stemmen könnten? Was ist mit Bewusstsein der Menschen?
Oft werden Argumente aus Diskurs 2 angebracht, um den Diskurs 1 außer Kraft zu setzen. Das sind etwa ontologisierende Annahmen, wie Menschen „an sich“ seien und warum sie „offensichtlich“ nicht in einer freien Gesellschaft „funktionieren“ würden. Etc. Beide Diskurse hängen eng zusammen, das ist klar, sollten aber im Gespräch zunächst unterschieden werden. Auch bei euren Fragen vermischen sie sich teilweise, und es fließen implizit Annahmen ein, wie Menschen „so sind“. Ich werde mir erlauben, die Diskurse sorgsam zu unterscheiden – um sie dann aus meiner Sicht angemessener beantworten zu können.
Ich bemühe mich, auf konkrete Fragen konkret zu antworten. Doch wir sprechen im Diskurs 1 über ein Terrain, das wir nicht kennen. Hier kann ich keine konkrete, „anschauliche“ Antwort geben, sondern bin darauf verwiesen, auf einer darüber liegenden kategorialen Ebene Grundlagen und ggf. basale Annahmen zu reflektieren oder überhaupt erst einmal die zugrunde liegende Frage zu klären. Um das Problem zu veranschaulichen, will ich ein anspruchsvolles und zentrales Beispiel bringen.
In jeder Gesellschaft geht es darum, durch Produktion Güter und Dienste zu erschaffen, die Bedürfnisse befriedigen. Um das Verhältnis von Bedürfnissen und Produktion angemessen diskutieren zu können, hilft uns ein Doppelbegriff: In der Ex-Post-Produktion wird zuerst produziert und dann vermittelt, also das Produzierte zu denen gebracht, die es nutzen; in der Ex-Ante-Produktion wird erst vermittelt und dann produziert, also erst geklärt, welche Bedürfnisse es gibt und wie diese mittels welcher Produktion befriedigt werden können. Wie das soziale Verhältnis beschaffen ist, ob so oder so rum, ob mit Vermittlung ex post (im Nachhinein) oder ex ante (im Vorhinein), hat erhebliche praktische wie theoretische Konsequenzen – was ich an anderen Orten ausgeführt habe.
Und jetzt kommt das Beispiel: Erst auf dieser Grundlage können wir die Frage, die etwa viele Geldkritiker*innen stellen, was denn das Geld in der Funktion der gesellschaftlichen Vermittlung ersetzen könne, als unangemessen erkennen. Denn an die Stelle des Geldes etwas anderes zu setzen (z.B. Kommunikation, Computer, Regionalgeld – egal), akzeptiert stillschweigend die vorausgesetzte Produktionsweise der Ex-Post-Produktion mit der von der Produktion getrennten, nachgeordneten Vermittlung über Tausch, Märkte etc. Erst mit der Kategorie der Ex-Post/Ante-Produktion können wir die wirkliche Qualität der Commons als oppositionelle soziale Form der Ware erkennen.
Und damit sind wir dann auch bei den Commons, zu denen einige klärende Bemerkungen notwendig sind.
Commons sind keine „natürlichen Ressourcen“. Es geht bei den Commons auch nicht wesentlich um eine „kooperative Verteilung“. Sondern Commons sind, kurz gesagt, eine neue soziale Form der Re-/Produktion unser Lebensbedingungen im umfassenden Sinne. Ressourcen (keineswegs nur natürliche) und Verteilung sind Aspekte einer solchen Produktionsweise, aber eben nur das: Aspekte. Der wesentliche Kern ist die soziale Organisation, das Commoning und die darauf gründende Ex-Ante-Produktion – im Unterschied zur Ex-Post-Produktion im Kapitalismus.
Schließlich sind eure Fragen sehr komplex und vielfältig. Zu einem Thema formuliert ihr oft mehrere Fragen, die sich teilweise mit Aussagen mischen, auf die wieder Fragen folgen usw. Ich erlaube mir in solchen Fällen, die mir wichtigsten Teilfragen herauszupicken und sie beantworten, während ich andere eher am Rande streife oder nur implizit mit anspreche. Wenn euch das unbefriedigt zurück lässt, könnt ihr gerne nachfragen (zum Beispiel in den Kommentaren).
1. Freie Gesellschaft
Frage: Was bedeutet „frei“ in der Überschrift? (Bitte um kurze Antwort)
Antwort
Frei hat eine Doppelbedeutung: Frei von Herrschaft und frei, die menschlichen Potenzen in je eigener individueller Weise gesellschaftlich zu entfalten.
„In jeder Gesellschaft geht es darum, durch Produktion Güter und Dienste zu erschaffen, die Bedürfnisse befriedigen.“
Ich kenne bislang die Aktien-Gesellschaft mit dem Bedürfnis Profit zu machen und die kapitalistische Gesellschaft mit dem „Bedürfnis“ das Wachstum des Kapitals zu fördern oder wenigsten möglichst wenig zu behindern.
Welche Gesellschaften kennt denn Ihr?
Das sind so typische soziologische Sprechblasen, wie sie leider nicht aussterben, auch nicht auf „alternativer“ Seite. Vor allem passt so eine Redeweise ja nicht zum oben genannten Begriff Herrschaft, dem ja die „freie Gesellschaft“ als Alternative gegenübergestellt wird. Plötzlich reduziert sich dann der ganze Gegensatz zu einem Unterschied von Ökonomie „im Nachhinein“ zu „im Vorhinein“, geradeso als wär der Kapitalismus nur eine ungeschickte Form der Planung.
Das stimmt im übrigen schon deshalb nicht, da die kap. Unternehmen durchaus im Vorhinein schauen, was am Markt so absetzbar ist, außerdem ebenfalls vorausblickend mit Werbung noch kräftig nachhelfen, was aber oft deshalb nicht aufgeht, weil Konkurrenz herrscht, nicht weil die Betriebe einfach was produzieren und immer erst später schauen, ob das jemand braucht.
Herzlichen Dank, Stefan, dass du dir die Mühe machst, sich mit unseren gesammelten, vielleicht noch etwas ungeordneten, Fragen zu beschäftigen.
Zu den von dir in der Einleitung vorgeschlagenen „zwei Diskursen“: Ich finde es hilfreich in Gesprächen zu unterscheiden, ob sich die miteinander sprechenden Menschen darauf einigen können, dass es eine „prinzipielle Möglichkeit“ (Ernst Bloch: „reale Möglichkeit“) gibt, dass sie eine Vergesellschaftung jenseits von Kapital und Staat und Herrschaft überhaupt schaffen können. Oder schließen die Menschen diese Möglichkeit eher argumentativ oder resignativ aus?
Festlegungen über „die Natur des Menschen“, also wie Menschen angeblich überhistorisch „sein“ sollen, lehne ich auch ab. Das wäre für mich eine unfruchtbare, sich selbst fesselnde Herangehensweise, die die realen Möglichkeiten der Menschen unnötig einschränkt.
Meines Wissens herrschte in frühen sesshaften Gesellschaften eine Art ‚ganzheitliche‘ Ex-Post-Produktion vor, mal männerherrschaftlich, mal milde matriarchal geprägt (z.B. in Teilen Mexicos und in der indischen Harapa – Kultur).
Die Marktvermitteltheit einer Privatproduktion als gesellschaftlich vorherrschendes Produktionsverhältnis ist m. E. geschichtlich eine sehr junge Erscheinung. Bis in die 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es global noch einen gewaltigen Bereich von Subsistenzproduktion mit die Gemeinschaften verbindenden lokalen und regionalen Märkten, nicht nur in Papua-Neuguinea und im Amazonas-Regenwald … Wer also nur ‚die Marktwirtschaft‘ als Gesellschaft „kennt“, blendet einfach jahrtausendelange Phasen der Menschheitsgeschichte aus. In wessen Interesse geschieht das?
Allerdings gibt es solche Positionen, die den jeweiligen besonderen gesellschaftlichen Charakter menschlicher Produktion einfach nicht wahrhaben und nicht oder nur rein „technisch“ beschreiben wollen, im ganzen letzten Jahrhundert in der Völkerkunde immer wieder.
Eigentlich möchte ich den „Diskurs 2“ (über „Transformation“) führen: Wie gehen wir diesen Weg in eine grundlegend freiere Gesellschaft wirklich?? Dabei interessieren mich Beträge nicht, die nur einen äußerlichen „Wortstreit“ suchen oder überwiegend zur eigenen Selbstdarstellung dienen. Der ernsthafte Wille, wirklich einen GEMEINSAMEN Weg gehen zu wollen, müsste für mich erkennbar sein.
Meine Absicht ist, Teil einer Bewegung zu werden, die in einer pluralistischen Suchbewegung den vorherrschenden Kapitalismus qualitativ und Schritt für Schritt überwindet. Dabei schwebt mir als einen der nächsten möglichen Schritte etwas vor, dass für mich in der commons-artigen Gruppe, an der ich teilnehme, schon längst begonnen hat: ein sich verdichtendes, sich auf dem Wege weiter humanisierendes, sich ständig freundlich selbst kritisierendes Gesprächsgeflecht, dass sich gegenseitig ‚alltagspraktisch‘ unterstützt, auch füreinander produziert und einen gemeinschaftlich – gesellschaftlichen Bereich schafft, in dem die Wertvergesellschaftung ihre Macht über uns zu verlieren beginnt. Ich kenne ein paar junge Menschen, die genau das wollen und mit ihren Worten ausdrücken. Dabei sind solche zusammenwachsenden „Inseln gegen den Strom“ (danke, Friederike Habermann), wie die Interkomm im Wendland, das Kommune-Netzwerk um Kassel, die Anfänge eines Netzwerks in Berlin / Brandenburg, auch übergreifend das Mietshäuser-Syndikat, wichtige Ansätze, wo Erfahrungen gesammelt werden konnten. M.E. ist die Zeit für so ein ähnliches Netzwerk „im freien Fluss“ und „auf dem Weg“ auch im Hamburger Raum fast reif …
Die meisten von uns müssen noch den Strang der Erwerbsarbeit bedienen. Aber wir haben begonnen, unserer ‚Selbstversorger-Wirtschaft‘, wie wir es gerade nennen, allmählich mehr Kraft zu geben. Es wächst bei uns ein Tätigkeitsbereich, der meist so viel Spaß macht, dass ich ihn nicht mehr „Arbeit“ nennen möchte.
@Rolf: Auch kapitalistische Gesellschaften sind menschliche Gesellschaften. AGen haben keine Bedürfnisse, nur Menschen haben Bedürfnisse. Zu erkennen ist, dass AGen und andere Unternehmensformen die historisch-spezifischen Realisationsformen der menschlichen Bedürfnisse sind – verrückter Weise über eine völlig andere Logik, nämlich Verwertung und Profite. Das gilt es im ihrem Zusammenhang zu begreifen, statt das Kapital als etwas quasi außergesellschaftliches zu mystifizieren.
@Mattis: Dass Unternehmen Marktforschung betreiben, ist klar. Sie müssen das, um nicht völlig blind zu fliegen. Das bestätigt (statt widerlegt) die analytische Bestimmung der Ex-Post-Produktion. Im übrigen habe ich in keiner Weise darin schon den „ganze(n) Gegensatz“ gesehen. Das wäre tatsächlich arg reduziert. Aber ich brauche diese (bisher meist ignorierte Bestimmung) für die weiteren Ausführungen in den folgenden Teilen.
@Hilmar: Sehr schöne Beschreibung eurer „pluralistischen Suchbewegung“. Ich werde versuchen, einen zentralen Gedanken in den folgenden Teilen stark zu machen: Kein Transformations-Diskurs (2) ohne Commonismus-Diskurs (1). Denn mir ist aufgefallen, dass auch ihr immer wieder die beiden Diskurse vermischt. So kommt ihr implizit leider doch zu problematischen Aussagen über „die menschliche Natur“, mit denen ihr euch selbst im Weg steht. Ihr wollt das nicht, aber ihr macht es. Das versuche ich zu zeigen. Nicht als Bashing, sondern aus Solidarität.
Wenn wir wissen und für uns subjektiv bewerten wollen, wie wir uns auf den Weg machen und ob wir (noch) auf dem Weg sind, müssen wir wissen, wohin es geht. Damit verstoße ich – das ist mir klar – gegen ein zentrales Dogma der Linken, nämlich das sog. Bilderverbot: Es darf keine Aussagen über die Zukunft geben. Ich mache diese aber, jedoch auf einer Ebene, die ich die „kategoriale“ nenne. Damit meine ich eine Art Zwischenebene begrifflicher Art, die weder konkretistisch eine Wunschwelt „auspinselt“, noch sich in abstrakten Allgemeinheiten bescheidet wie „Ende jeder Herrschaft“ (was nicht verkehrt ist, aber eben abstrakt bleibt). Mein Anspruch ist, aus dieser „mittleren“ kategorialen Analyse Kriterien zu gewinnen, die für unser heutiges Handeln relevant sind, also Gegenwart mit Zukunft verbindet.
ja, wir wollen nicht über Worte streiten … So lasse ich die Aussagen gerne stehen: Auch kapitalistische Gesellschaften sind menschliche Gesellschaften (obwohl sie mir unmenschlich erscheinen). AGen haben keine Bedürfnisse (nur die Aktionre, die auch menschlichen Menschen sind, haben Bedürfnisse). Da jeder versteht, wie ES gemeint ist, macht es nichts, wenn die Worte nicht recht passen, oder gar nicht passen (menschliche Gesellschaften). Und auch wenn wir Worte nicht so wichtig finden, gibt es offenbar trotzdem Worte (problematischen Aussagen über „die menschliche Natur“,) mit denen ihr euch selbst im Weg steht. Aber das gilt wohl immer nur für „EUCH“ (dia andern) nie für „MICH“.
PS soweit ich sehe, hat Marx nur dort von Gesellschaft gesprochen, wo er Klassengesellschaft erkennen konnte, die es aufzuheben gilt. Wer schon andere Gesellschaften kennt, malt schöne Bilder, egal auf welcher kategorialen Ebene er es tut. Die KEIMFORM ist nur retrospektiv bestimmbar (aber gut, auch das sehen wir eben verschieden).