Commons-Diskurs: Stigmergie
Eine siebenteilige Serie mit Fragen an den Artikel Grundrisse einer freien Gesellschaft. Bisher erschienen: Freie Gesellschaft, Individuum und Gesellschaft, Konflikte, Abstimmungsprozesse, Inklusion.
6. Stigmergie
Frage: Unter dem Stichwort „Stigmergie“ beschreibst Du, dass Hinweise auf Bedürfnisse durch Informationssysteme aggregiert und vermittelt werden können. Das bringt also bestenfalls eine effizientere Kommunikation existierender Bedürfnisse.
In einer hochgradig arbeitsteilig organisierten Gesellschaft, die mit einer nicht nur technisch anspruchsvollen, komplexen und hochindustrialisierten (Massen-)Produktion die täglichen Bedürfnisse befriedigt, erscheint uns allein die Koordination und letztendlich die Produktionsplanung per Stigmergie als naive Vorstellung. Wie soll bspw. verhindert werden, dass Bedürfnisse angemeldet werden, die nicht wirklich benötigt werden?
Mit welchen Mechanismen wird sichergestellt, dass diese nun bekannt gemachten Bedürfnisse auch tatsächlich erfüllt werden?
Antwort
Stigmergie bedeutet nicht bloß, Informationen technisch zu aggregieren. Natürlich ist das auch möglich und sinnvoll, aber das gilt für alle irgendwie gearteten Vermittlungsinformationen, etwa Preise. Es gibt mindestens vier zentrale Eigenschaften der Stigmergie, die sie qualitativ von anderen Vermittlungsformen unterscheidet: (1) Entscheidungsfindung, (2) Informationsgenerierung, (3) Bandbreite, (4) Koordinationswirkung. Der Reihe nach in notwendiger Kürze:
(1) Entscheidungsfindung. Kernelement der Stigmergie ist die Entscheidung über die zu tuenden Tätigkeiten in einem tätigkeitsteiligen Gesamt – bis zur gesellschaftlichen Größenordnung, wie ihr richtig anmerkt. Bisher werden in der Regel hierarchische und konsensbasierte Entscheidungssysteme als Pole gegenübergestellt. In beiden Fällen ist das Individuum Empfänger der Entscheidung, wobei der Vorteil in konsensorientierten Systemen der höhere Grad der Beteiligung ist. Die stigmergische Entscheidung hat die Freiwilligkeit zur Grundlage. Das Individuum ist hier Akteur*in der Entscheidung, es ordnet sich selbst einer Aufgabe, die es übernehmen möchte, zu. Grundlage der Selbstzuordnung sind lokale Informationen, also das, was je ich über die Aufgabe, die es zu erledigen gilt, weiß.
(2) Informationsgenerierung. Informationen können unmittelbar im Prozess der Umsetzung einer Aufgabe entstehen oder mittelbar vor oder neben dem Prozess erzeugt werden. Unmittelbare Prozessinformationen sind z.B. Messwerte, Tracking-Informationen (vgl. RFID) oder die roten Links bei Wikipedia. Sie erzählen etwas über den Prozess und sind die Grundlage meiner Tätigkeiten in diesem Prozess. Hinzu kommen mittelbare Informationen, die der Planung und Koordination dienen, etwa notwendige Eingangsbedingungen eines Prozesses (Ressourcen, Werkzeuge, Energie etc.), geplante Ausgangszustände (Ergebnisse, Nebeneffekte etc.), offene Aufgaben (ToDo-Listen), gesuchte Beiträge und Qualifikationen etc. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese qualitativen Informationen die dahinter stehenden Bedürfnisse ausdrücken, denn die Prozesse, in und aus den sie entstehen, sind Prozesse zur Schaffung der materiellen und immateriellen Bedingungen für die Befriedigung von Bedürfnissen.
(3) Bandbreite. Die genannten Informationen sind qualitativer Art, benötigen also eine große Bandbreite, wenn sie kommuniziert werden und in einen Vermittlungsprozess eingehen. Das unterscheidet die Stigmergie grundsätzlich von Vermittlungen über das Geld, das allein eindimensional-quantitative Größen darstellen kann (Preise). Preise können direkt keine Bedürfnisse abbilden oder gar kommunizieren, was sie abbilden, ist die Logik der Verwertung: Rechnet es sich oder nicht.
(4) Koordinationswirkung. Die (Commons-) Stigmergie ist eine andere Weise als die Marktvermittlung, um das Hayeksche Wissensproblem zu lösen. Es besteht darin, dass Wissen immer nur kontextuell, lokal, beschränkt und verstreut vorhanden ist. Hayek fragte rhetorisch (gegen die Zentralplanung gerichtet): „Wie kann das Zusammenwirken von Bruchstücken von Wissen, das in den verschiedenen Menschen existiert, Resultate hervorbringen, die, wenn sie bewusst vollbracht werden sollten, auf Seiten des lenkenden Verstandes ein Wissen erfordern würden, das kein einzelner Mensch besitzen kann?“ Seine Antwort sind die „Preise“ und der „Wettbewerb“ auf dem Markt, die „komplexe, möglicherweise intelligente Strukturen ohne jeglichen Bedarf nach Planung, Kontrolle oder auch direkter Kommunikation zwischen den Beteiligten“ erzeugen. Das letzte Zitat ist nicht von Hayek, sondern ein Satz aus der Wikipedia zum Stichwort „Stigmergie“. Anders gesagt: Die Marktvermittlung über Preise ist nur eine mögliche Form der Stigmergie, und zwar die denkbar schlechteste, weil die minimale Bandbreite keine qualitative Koordination erlaubt. Die Koordinationswirkung ist jedoch genauso indirekt und emergent wie der Preismechanismus. Da der basale Antrieb nicht die Verwertung, sondern die Bedürfnisse sind, ist das emergierende kohärente Gesamtergebnis eine Gesellschaft, in der die Bedürfnisbefriedigung aller maximal ist. Dies ist im Einzelnen nachzuweisen, doch das würde hier zu weit greifen.
Die „Anmeldung“ von Bedürfnissen, „die nicht wirklich benötigt werden“ kann nicht verhindert werden. Wozu auch, und wer sollte entscheiden, ob sie benötigt werden? Die Vermittlung mit anderen Bedürfnissen wird ergeben, welche Priorität sie bekommen. Denn eins sollte auch klar sein: Es können nicht alle Bedürfnisse sofort befriedigt werden. Dennoch können grundsätzlich alle Bedürfnisse befriedigt werden. Die stigmergisch-kommunikativ zu ermittelnde Entscheidung ist, in welcher Reihenfolge dies geschieht.
Liebe freunde,
weil ich am thema Commons-Diskurs interessiert bin, will ich auch hier agieren. Dass kein Diskurs entsteht, ueberrascht mich etwas. Der begriff selbst mit seinen verschiedenen interpretationen und erklaerungen provoziert eigentlich die aktion. Oder ist das thema „Stigmergie“ so fremd oder fern?
Dahinter verbirgt sich ja der gedanke, die direkte kommunikation zu uebergehen und zur indirekten sich zuzuwenden. Also markierung zur arbeitsorganisation, wie ich es verstanden habe. Die grundlage war die beobachtung der selbstorganisation der termiten.
Aber ist das denn fuer uns wirklich relevant? Sollten wir uns nicht zuvor der direkten kommunikation zuwenden? Die fragestellung, weiss nicht wo sie herkommt, ist ja selbst schon extrem fraglich. Wenn ich sowas lese: „In einer hochgradig arbeitsteilig organisierten Gesellschaft“da frage ich mich wirklich, in welcher welt die fragesteller leben.
Aber aehnlichen unsinn finden wir ja auch in der antwort. Vielleicht sollten wir mehr die direkte kommunikation bemuehen, um besser zu verstehen, was wir verstehen wollen. Eine ganz andere frage ist, warum im Commons-Diskurs diese doch eher academische selbstbeschaeftigung ihren platz findet.
Das thema ist ja uralt. Die wesentliche kraft, indirekt wirkend, die unser handeln bestimmt, sind die gesetze der natur. Und als zweite komponente, auch indirekt wirkend, ist unsere selbstbehauptung, unser egoismus.
Jede aufgabe, der wir uns stellen, weil oft muessen, ist durchwoben von markierungsstrukturen. Insofern als reflektive betrachtung kann das thema stigmergie relevant sein. Aber fuer eine suche nach perspektiven?
Interessant fand ich im punkt 4) der hinweis zu Heyek. Er sieht ja, dass die aufgaben vorwiegend lokal sind und auch die loesungspotentiale. Aber gemaess seiner kultur und orientierung strebte er nach zentralisation. Machtapparat. Dass er dabei den markt als frei sich aubildende tauschplaetze erklaert und damit die akteure zumeist in indirekte kommunikationssphaeren verweist, ist eben seinen persoenlichen zielen unterworfen.
Aber darauf damit zu reagieren, diese indirekten kommunikationssphaeren optimieren zu wollen, ist eher fragwuerdig. Wichtiger ist es, unsere gemeinschaften, also ihre direkten kommunikation, zu unterstuetzen. Und wohin? Zur lokalen unabhaengigkeit.
Wenn die „oesterreichische Schule fuer Oekonomie“ der hintergrund fuer diesen diskurs ist, dann ist mir klar, worum es geht: Den „anonymen markt“, egal was das nun sein soll, zu optimieren. Aber dann kann ich mich gerne verabschieden. Und dann verstehe ich auch, warum kein diskurs entsteht.
mit lieben gruessen, willi
Asuncion, Paraguay
Stimmt, schon komisch – ich habe meine Bemerkungen zur Stigmergie auch in eine andere Debatte gehängt, wo sie inhaltlich eigentlich nur nebenher läuft. (http://keimform.de/2017/verteilung-ohne-geld/#comment-1189890)
Wenn ich diesen Text lese, so habe ich wieder den Eindruck, dass der Begriff noch sehr schwammig ist. Ich sehe nach wir vor die sachlichen Notwendigkeiten in den technisch voneinander abhängigen Prozessen darin nicht abgebildet. Ich verstehe den Text schon als vorgestellte Ideallösung, wie mensch zu den Produkten kommt, die sie/er für die Bedürfnisbefriedigung kommt ohne die Vermittlung von Geld – aber bei jedem technisch komplexeren Zusammenhangsnetzwerk, der mir aus meiner Kenntnis von industrieller Produktionstechnik einfällt (und auch künftig technisch möglicher wie Industrie 4.0) funktioniert es genau so, wie es beschrieben wird, nicht. Höchstens bei einer Landwirtschafts-Handwerks-Gesellschaft.
Das heißt ja nicht, dass ich glaube, dass es nur mit Geld geht. Aber die Aufgabe, ein Konzept zu entwickeln ist noch nicht mal ansatzweise begonnen worden. Ich würde auch nicht empfehlen das Ganze unter dem Stichwort „Stigmergie“ abzuhandeln, sondern stigmergische Prozesse können Teilaufgaben in arbeitsteiligen Prozessen übernehmen (was sie dann genau beinhalten, wogegen sie sich abgrenzen, müsste dann genauer entwickelt werden). Aber als „Lösung für alles“ wäre diese Metapher einfach zu überstrapaziert.