Anders lieben im mononormativen Kapitalismus?
Vortrag und Diskussion | Dienstag, 16. Juni 2015, 18 Uhr | Raum B13, Universität Trier
Die uns gefühlt so vertraute Umgebung des Kapitalismus muss jenen Menschen an der Grenze hin zur Epochenwende in den Kapitalismus hinein ungeheuerlich vorgekommen sein. Emotional nicht erfühlbar, geschweige denn kognitiv antizipierbar. Zu groß war der Bruch mit den traditionellen Lebensweisen. Eske Bockelmann hat dies in seinem Buch “Im Takt des Geldes” für die Sphären der Musik, der Poesie und der Wissenschaft gezeigt. Doch auch im Alltag in den Lebens- und Liebesweisen muss der Einschnitt drastisch gewesen sein.
Thesenartig möchte ich diskutieren, welche Rolle die Mononorm (die auch eine Heteronorm ist) — die Beziehung/Ehe von genau zwei Partnern als Kernelement des bürgerlichen Haushalts — bei der Durchsetzung des Kapitalismus spielte und vice versa. Über eine (gewiss sehr grobe) Rekonstruktion der Genese der neuen Vergesellschaftungsformen im Kapitalismus kann sichtbar werden, dass heute gehabte und als selbstverständlich empfundene Gefühle keineswegs “natürlich” sind, sondern Anforderung und Produkt der seinerzeit völlig neuen kapitalistischen Logik der Exklusion und des Privateigentums. Dies ermöglicht es uns, heutiges Fühlen und Handeln im so persönlichen Bereich wie dem der Liebe und Sexualität als Gewordenes zu begreifen und die Frage zu stellen, in welchem Verhältnis die Gewordenheit heutiger Lebens- und Liebesweisen zu den natürlichen Grundlagen menschlicher Liebe und Sexualität steht. Davon ausgehend möchte ich die Frage diskutieren, inwieweit que(e)re und polyamore Liebes- und Lebensweisen eine emanzipatorische Potenz bergen oder doch nur eine dem Flexikapitalismus angepasste individuelle Lebensform darstellen.
Der Referent Dr. Stefan Meretz beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Kritischer Psychologie. Er ist Blogger auf keimform.de, Betreiber von grundlegung.de und Mitglied der AG »unknown pressures: Herrschaft, Autorität und das Unbewusste« am Klaus Holzkamp Institut (KHIS).
Der Vortrag wird organisiert vom Autonomen Seminar Kritische Psychologie Trier.
Was sind denn die natürlichen Grundlagen von Liebe und Sexualität, die wir vom Gewordenen unterscheiden können?
Gute Frage! Darf ich dich auf diese Quelle verweisen (bin grad im Ausland mit einer lahmen, teuren Internetanbindung): http://grundlegung.de/artikel/6-2-sexuelle-bedeutungen-und-beduerfnisse/
Ich geb’s zu: So aus dem Zusammenhang heraus nicht wirklich verständlich.
Der Mensch lebte schon immer in serieller Monogamie. Das ist seine Natur und hat mit Kapitalismus und „bürgerlichem Haushalt“ nichts zu tun. Die Ehe ist auch nichts spezifisch Bürgerliches. Sie gibt es seit den Anfängen der Zivilisation als Vertrag zwischen Sexualpartnern und der sie umgebenden Ordnungsmacht.
Die Heteronorm rührt einfach daher, dass der Mensch eine Spezies ist, die sich nur heterosexuell fortpflanzt. Warum sollte eine solche Spezies eine Vielzahl homosexueller Individuen hervorbringen? Da sich Homosexuelle seltener fortpflanzen als Heterosexuelle, wird sich Homosexualität im Genpool nicht gut verankern und eher nur als Fehler auftreten. Sie bietet keine Vorteile zur Weitergabe der Gene.
Was die Heteronorm als kulturelle Norm betrifft, so schafft gerade der Kapitalismus neue Freiheiten, die es Menschen ermöglichen, sich solchen Normen nicht zu unterwerfen. Es sind hochentwickelte kapitalistische Staaten, die seit ca. einem halben Jahrhundert die Diskriminierung Homosexueller abbauen. Wie man daher Kapitalismus mit der Durchsetzung einer Heteronorm in Verbindung bringen kann, ist mir schleierhaft. Aufgrund der biologischen wie historischen Fakten ist das Unsinn.
Heutige Menschen fühlen in Bezug auf Sexualität auch nicht anders als ihre Vorfahren vor Millionen Jahren. Bei so grundlegenden Hirnstrukturen wie jenen, die für Sexualität zuständig sind, dürfte es nicht mal große Unterschiede zu anderen Säugetieren geben. Versuche mit anderen Primaten bestätigen das auch. Schließlich schleppen wir auch noch ein sog. Reptilienhirn in unserem Gehirn mit, um das sich die „höheren“ Hirnstrukturen über Millionen Jahre aufgebaut haben. Manche menschliche Gefühle hat es schon viele Millionen Jahre gegeben, bevor es den ersten Menschen gab. Biologische Realitäten aus der bürgerlichen Gesellschaft abzuleiten scheint mir sehr ignorant gegenüber den Erkenntnissen echter (materialistischer) Wissenschaften wie der Biologie.
@libertär:
Diese Verallgemeinerung zeigt von erstaunlicher historischer Ignoranz. Tatsächlich ist die „serieller Monogamie“ als gesellschaftliches Ideal weltweit und überhistorisch betrachtet nur eine von vielen Formen. Sicher gab es oft eine Form der Ehe als Institution, aber dabei war es nicht selten, dass ein Mann mehrere Frauen oder eine Frau mehrere Männer heiraten konnte, siehe Polygamie.
Aber wo wo es ein monogames Ideal gab, war es in vielen Kulturen wohl das der „lebenslangen Monogamie“, nicht der „seriellen“, wo eine Scheidung und Wiederverheiratung zu Lebzeiten der Partner_in nicht erwünscht und höchstens unter ganz bestimmen Bedingungen möglich war, z.B. bei nachgewiesenem „Fehlverhalten“ der Partner_in.
Es gibt kein Gen für Homo- oder Heterosexualität, das ist ziemlich klar. So viel ich weiß, hat die eigene sexuelle Ausrichtung auch keinerlei statistisch nachweisbaren Einfluss darauf, ob der eigene Nachwuchs oder andere Verwandte homo- oder heterosexuell sind. Ich würde vermuten, dass in der sexuellen Vielfalt selbst ein (gruppen-)evolutionärer Vorteil liegt, aber letztlich ist das Spekulation.
Tatsächlich wurden schwule Handlungen in Europa seit dem 13. Jahrhundert strafrechtlich verfolgt, also schon vor dem Kapitalismus, stimmt. Die christliche Sexualmoral ist älter als letzterer und war in der Tat schon vorher verhängnisvoll. (Während außerhalb des christlichen Kulturkreises eine Verurteilung homosexuellen Begehrens fast nie zu finden war.) Andererseits waren es aber erst die sich kapitalisierenden Staaten, die ihre „Bevölkerung“ als systematisch zu hegende und pflegende Ressource entdeckten und daher die staatlich gewollte und geförderte lebenslange Hetero-Ehe zum Zweck der „Kinderproduktion“ zum Teil ihrer Staatsräson machten. Schön nachzulesen in Foucaults Bänden zur Geschichte der Sexualität.
Nein, umgekehrt haben Sozio- und Ethnolog_innen lange Zeit den Fehler gemacht, aus den Verhältnissen in ihrer Umgebung auf die Verhältnisse in ganz anderen Kulturkreisen zu schließen. Erst ganz allmählich wird dieser Fehler korrigiert, siehe z.B. den lesenswerten Artikel Equality and polyamory: why early humans weren’t The Flintstones.
Ja, es gab und gibt Polygamie, wenn sie auch nicht die vorherrschende Form der Ehe war/ist. Was soll damit nun gezeigt sein? (Vielleicht sollte darauf besser Stefan Meretz antworten. Ist ja sein Vortrag.) Soll behauptet werden, dass die bürgerliche Gesellschaft die Beziehungsoptionen der Menschen eingeschränkt hat? Wie gesagt, ich sehe das nicht so einseitig. Die Menschen sind doch in ihren Beziehungen heute so frei wie nie. Wobei Wahlfreiheit nicht unbedingt bedeutet, dass alle Optionen für die Beteiligten vorteilhaft sind. Die Ehe z.B. ist ein ökonomisches Zwangsverhältnis zwischen drei Vertragspartnern, in dem der dritte Partner, der Staat, den Vertrag nach Belieben ändern kann und dies wiederholt getan hat. Deshalb wünsche ich auch niemandem das zweifelhafte Recht, diesen Bund eingehen zu dürfen, sondern würde es eher begrüßen, wenn Heterosexuelle nicht länger diskriminiert würden, sondern von diesem Zwangsverhältnis verschont würden. Eheverbot für alle also! Übrigens: Falls Stefan Meretz oder du – als Befürworter einer freien Gesellschaft – Sympathien für die Polygamie hegen solltet, fände ich das recht befremdlich, ist doch die Ehe auch in dieser Form auf Exklusion und somit auch Zwang gegründet. Die Ehe hat m.E. in einer freien Gesellschaft keinen Platz und wird als ökonomische Notgemeinschaft auch gar nicht vonnöten sein. Die Eheform der Polygamie ist zudem sehr schädlich für die gesamte Gesellschaft und nur in Ausnahmesituationen allgemein durchsetzbar, weil sie einer Vielzahl an Menschen des einen Geschlechts die Möglichkeit raubt, einen Partner des anderen Geschlechts zu finden (etwa im Fall der Polygynie). Eine Mehrheit des einen Geschlechts wird dazu gezwungen, einsam zu bleiben.
Die Trennung braucht ja nicht zu Lebzeiten beider Partner geschehen. Den Fall der erneuten Heirat von Witwe(r)n gab es doch auch. Das ist serielle Monogamie. Bevor es die Ehe gab, dürfte eine reale (nicht bloß emotionale) Trennung nach wenigen Jahren üblich gewesen sein, da die Biologie des Menschen so eingerichtet ist, dass die Bindung nach ca. sechs Jahren nachlässt, also genau der Zeit, in der der Nachwuchs die intensivste Sorge benötigt und nicht selbstständig überlebensfähig ist. Gegen das Schwinden der Zuneigung, einem hormonellen Vorgang, hilft auch kein Ehevertrag. Heute, da die Scheidung erleichtert ist, wird das ja auch deutlich, dass Ehen ab einer bestimmten Dauer in vielen Fällen nicht von Liebe getragen sind. Wäre es so, bräuchte man die Institution der Ehe mit all ihren ökonomischen Verpflichtungen nicht. Lieben kann man sich sowieso am besten, wenn Geld nicht mit im Spiel ist, sonst ist es nämlich Prostitution. Die Ehe ist ein Konstrukt ihres jeweiligen politischen und ökonomischen Umfelds.
Ja, es gibt mehrere Gene. In einer sich sexuell fortpflanzenden Art müssen natürlich die geschlechtlichen Unterschiede genetisch festgelegt sein. Dazu gehört, dass die sexuelle Anziehung auf das andere Geschlecht gerichtet ist. Männer sind daher überwiegend gynephil und Frauen überwiegend androphil. Diese Setzung der sexuellen Präferenz ist nicht zufällig. Sonst wäre Fortpflanzung nur als Glücksfall möglich und die Menschheit längst ausgestorben. Soweit ich als Laie auf dem Gebiet der Biologie weiß, resultiert Homosexualität beim Menschen aus Fehlern bei der Formung des männlichen bzw. weiblichen Gehirns während einer kritischen Zeitspanne im Uterus. Andere Ursachen wird es schon auch geben, eine Begünstigung durch natürliche oder sexuelle Selektion dürfte aber wohl praktisch ausgeschlossen sein.
Welcher Nachwuchs? Homosexualität hat selbstverständlich einen sehr starken Einfluss darauf, ob sich Homosexualität (soweit sie in den Genen festgeschrieben ist) vererbt, weil homosexuelle Fortpflanzungsversuche beim besten Willen nicht fruchten. Und Samenspenden und Leihmutterschaften werden noch lange nicht so stark seitens Homosexueller nachgefragt, dass Homosexuelle so viel Nachwuchs haben wie Heterosexuelle. Von daher hat Homosexualität einen denkbar schlechten Einfluss auf die Weitergabe der eigenen Gene.
Homosexualität scheint hauptsächlich aus einem Fehler bei der Virilisierung des Gehirns hervorzugehen. Umwelteinflüsse können dabei – besonders in unserer hormonverseuchten Umwelt – auch einwirken, da es sich um hormongesteuerte Vorgänge handelt. Es kann natürlich auch sein, dass Homosexualität ein notwendiger, aber die Fitness nicht erhöhender, Nebeneffekt einer anderen Eigenschaft ist, die selektiert wird.
Dass kapitalistische Staaten ihr Bevölkerungswachstum – mehr schlecht als recht (siehe Deutschland, Japan, Italien, …) – irgendwie fördern, bestreite ich gar nicht. Aber daraus ergibt sich halt keine Ablehnung nicht-heterosexueller oder nicht-monogamer Lebensmodelle. Familienförderung ist doch wunderbar vereinbar mit der Homo-Ehe und demnächst wahrscheinlich der „Ehe für alle“ auch in Deutschland. Da ist überhaupt kein Widerspruch. (Die Bestrafung homosexueller Praktiken gab es übrigens hierzulande nur bei Männern, weshalb mir deine/eure These der Ausgrenzung Homosexueller im Kapitalismus noch unglaubwürdiger erscheint. Es handelte sich in erster Linie um Männerfeindlichkeit. Liebe zwischen Frauen wurde toleriert bzw. hat keinen interessiert.) Die Homosexuellen haben bisher auch keine Kinder bekommen und in Zukunft werden sie halt wenigstens als Adoptiveltern ihrem Vaterland als soziale Keimzelle dienen dürfen und dessen Fortbestand, und sei es nur durch die Aufstockung der Reservearmee mit braven Untertanen, unterstützen dürfen. Die ausschließliche Hetero-Ehe gehört nicht zur kapitalistischen Staatsräson. Das ist mittlerweile eindrucksvoll in einer Vielzahl kapitalistischer Staaten widerlegt. Umgekehrt dürfte durch die Einbindung der Homosexuellen wohl noch besser der Staatsräson entsprochen werden, weil so auch diese Gruppe die Instrumentalisierung der sexuellen und romantischen Anziehung zum Staatswohl zu ihrem persönlichen Anliegen macht. Wenig überraschend sind viele homosexuelle Gleichstellungsbefürworter erzkonservative Anhänger der bürgerlichen Ordnung, also wunderbar in CDU-Zirkeln aufgehoben. Wem es wirklich um Emanzipation geht, käme auch nie auf die Idee, noch mehr Menschen mit einem polit-ökonomischen Ordnungsinstrument wie der Ehe zu „beglücken“. Dazu gehört schon eine ordentliche Portion Identifikation mit der herrschenden Ordnung.
Ein verbreiteter Fehler dieser Leute scheint zu sein, dass sie aus ihren Erkenntnissen oder Mutmaßungen, vermischt mit ihren Moralvorstellungen, verbindliche Normen für andere ableiten und diese auch skrupellos im Menschenversuch durchsetzen. Im 20. Jh. sind schon genug Leute der Hybris von Sozialwissenschaftlern zum Opfer gefallen. Gerade die Psychologie hat diesbezüglich eine ganz unrühmliche Geschichte. Es sind nämlich nicht Biologen gewesen, die gewisse sexuelle Praktiken als Krankheit klassifizierten. Der Mainstream der Psychologen maßt sich solche Urteile sogar heute noch an und fällt damit auch folgenschwere Urteile über die Lebensweise von Millionen Menschen.
@libetär und alle: Ich antworte mal mit meinem Vortrag 🙂
http://keimform.de/2015/polyamorie-vortrag-in-trier/