Einschluss statt Ausschluss

[Vgl. dazu auch: »Which Commons Sense?«]

In der entwicklungspolitischen wie in der linken Szene ranken sich die Diskussionen oft entlang griffiger Begriffe. Nach Nachhaltigkeit, Neoliberalismus, Globalisierung und Multitude geht ein weiteres Zauberwort herum: die Commons. Und schon haben die Stars der Globalisierungskritik, Antonio Negri und Michael Hardt, mit „Common Wealth“ den Bestseller zur Debatte veröffentlicht (siehe iz3w 319).

Doch was sind die „Commons“ eigentlich? Sind dabei vor allem Gemeingüter wie Wasser und Boden gemeint, die allen gehören sollen? Geht es um frei verfügbare Dienstleistungen wie z.B. Freie Software oder Bildung für alle? Was ist am Gemeinschafts-Konzept der Commons kapitalismuskritisch, was nicht?

Einschluss statt Ausschluss — Commons jenseits des Kapitalismus

Von Stefan Meretz

Der Kapitalismus hat mit seinen Imperativen erfolgreich Handeln, Denken und Fühlen der Menschen besetzt – weltweit. Seine unerbittliche Logik gibt sich wie ein natürlicher Zusammenhang. So erscheint auch den kritischsten KritikerInnen »Wirtschaft« als das Selbstverständlichste von der Welt. Gleichzeitig ist der Kapitalismus in einer ökonomischen Krise, und auch seine Akzeptanz schwindet. Dies allerdings bedeutet nicht, dass seine Imperative zur Disposition stehen. Die scheinbar in Beton gegossene Unhinterfragbarkeit seiner grundlegenden Mechanismen wurde und wird immer wieder auch durch antikapitalistische Ansätze bestätigt. Alle Erzählungen sind erzählt und probiert: Die Linke in ihrem Lauf hält den Kapitalismus dennoch nicht auf.

Frech aber freundlich kommt nun ein neuer alter Ansatz daher, der provoziert: die Commons, zu deutsch: Gemeingüter. Das hört sich zunächst dröge und angestaubt an, haben doch schon vor hunderten Jahren die Bauern ihre Tiere gemeinsam auf Allmende-Wiesen weiden lassen. Und außerdem erhalten die Commons sogar von Grünen und Konservativen Unterstützung. Da kann doch nichts Emanzipatorisches oder gar den Kapitalismus überwindendes dran sein. Oder doch?

Treten wir einen Schritt zurück. Die antikapitalistischen Erzählungen beginnen meist damit, dass der Kapitalismus auf Ausbeutung beruhe und den Reichtum ungerecht verteile. Der einfache Umkehrschluss, dass abgeschaffte Ausbeutung und anders verteilter Reichtum kein Kapitalismus mehr sei, kann als historisch widerlegt gelten. Auch die aktuellen staatskapitalistischen Versuche in Südamerika verlieren an Anziehungskraft und werden mit einer Fülle von Sachzwängen konfrontiert. Das Pendel kann weiter zwischen »Staat« und »Markt« hin- und her- und an den wesentlichen Problemen der Menschen vorbei pendeln.

Was sind Commons?

Jenseits von Markt und Staat machen nun die Commons etwas Schlichtes: Sie holen die Produktion und Pflege nützlicher Güter zurück in die Gesellschaft. Oder sie belassen sie dort, denn Commons sind in vielen Teilen der Welt überhaupt nichts Neues. Silke Helfrich, Commons-Aktivistin und Mitglied der Commons Strategies Group, schätzt die Anzahl der Menschen, deren Existenz unmittelbar von den Commons abhängt, weltweit auf 2,5 Milliarden. Auch im globalen Norden, wo sehr viele Commons im aufstrebenden Kapitalismus gewaltsam zerstört wurden, ist es keinesfalls die »Wirtschaft«, die die meisten benötigten Güter herstellt. Zwei Drittel aller gesellschaftlich erforderlichen Tätigkeiten werden unbezahlt getan.1

Nach dem Versagen von Markt- und Staatswirtschaft ist es an der Zeit, jenseits dieser Dichotomie zu denken. Dazu ist es jedoch erforderlich, das Paradigma der »Wirtschaft« selbst in Frage zu stellen. Wirtschaft, so die von links bis rechts geteilte Meinung, sei der Ort, an dem die Güter zur »planvollen Deckung des menschlichen Bedarfs«2 hergestellt und verteilt werden. Wobei »Bedarf« in der Wirtschaftswissenschaft »ein mit Kaufkraft ausgestattetes Bedürfnis« ist. Zwei grundlegende Dogmen liegen dem zu Grunde: Erstens sei Wirtschaft der »rationale Umgang mit Gütern, die nur beschränkt verfügbar sind« (Knappheit), und zweitens sei der Mensch ein rational handelnder, individueller »Nutzenmaximierer« (homo oeconomicus).

Die Commons stellen all dies praktisch in Frage. Commons sind die Praxen der Menschen, die sich um die Herstellung und Pflege gemeinsam verfügbarer Ressourcen kümmern. Sie vereinbaren dabei, wie dies zu geschehen hat, wer sich worum kümmert, wer wieviel nutzen kann und wie mit Konflikten umgegangen wird. Commons sind also nicht die Ressource selbst, aber ohne Ressourcen (von Land über Produktionsmittel bis Wissen) geht es nicht. Commons sind auch nicht nur die soziale Interaktion (das Commoning), aber ohne Commoning keine Commons. Commons sind alles zusammengenommen: Ressourcen, Commoners, Commoning und schließlich die Ergebnisse aus all dem. Commons sind ein bestimmte Art und Weise, die Lebensbedingungen – im umfassenden Sinne verstanden – herzustellen. Man könnte sagen, dass Commons das ist, was »Ökonomie« einmal war, bevor sie aus der Gesellschaft »entbettet« (Karl Polanyi) wurde: eine »Haushaltung« (von griech. οἶκος/oíkos »Haus« und νόμος/nomos »Gesetz«), in der Leben und Produzieren nicht getrennt voneinander sind.

Die historische Entfaltung des Kapitalismus führte zu einer gesellschaftliche Sphärentrennung. Ein Ort der Privat-Produktion, wo die Geldvermehrungs- und Zeiteinsparlogik herrscht, und ein Privat-Ort der Reproduktion, der von einer Geldverbrauchs- und Zeitverausgabungslogik bestimmt wird, stehen sich gegenüber. Mit dem modernen Staat entstand eine Instanz, die soziale Konflikte zwischen den Privaten reguliert – und mit ihm ein von ihm verwalteter Raum jenseits der Privaten: das Öffentliche. Commons kennen diese Trennung nicht. Zwar gibt es das Persönliche, das aber kein Privates auf Kosten anderer Privater ist. Und es gibt das Gemeinschaftliche, das aber kein von den Einzelnen getrennter Raum ist, sondern im Wortsinne von allen Commonern »besessen«, also genutzt wird.

Bedürfnisse statt bare Zahlung

An dieser Stelle wird der Unterschied von bloßen Verteilungs- und Aneignungskämpfen deutlich. Verteilungskämpfe, etwa um öffentliche Güter, gehen vom »so sein« der Güter als Waren aus, sie stellen die Fragen nach der Produktionsweise nicht. Ihr Einflusspunkt ist der Staat, in dessen Zuständigkeit die Verfügung über öffentliche Güter und aus Abgaben stammende Finanzmittel liegen. Der Staat hängt direkt vom Funktionieren der Wirtschaft ab und muss bei Gefahr des Verlustes der eigenen Handlungsfähigkeit deren Imperativen nachkommen. Das auf die Spitze getriebene Programm dieser immanent notwendigen Unterordnung ist der Neoliberalismus. Andere politisch gewollte Verteilungsweisen stehen dazu nicht in Opposition, sondern können einzig kleine Spielräume ausnutzen, um zu anderen Verteilungen zu kommen.

Völlig anders sieht die Herangehensweise der Commons aus. Commons repräsentieren eine eigene generative Logik, die direkt von den Bedürfnissen der Menschen ausgeht. Sie akzeptieren weder ein paternalistisches Gewährungsverhältnis, das Staaten gegenüber ihren Bürgern einnehmen, sondern sie nehmen die eigenen Angelegenheiten auch in die eigenen Hände. In unterschiedlich großem Ausmaß reduzieren sie durch Eigenproduktion die Marktabhängigkeit. Und anders als der Markt, der am Ende »kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen (hat) als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹«3, sind Commons überhaupt erst wieder in der Lage, zu verantwortungsvollem Handeln zu kommen – gegenüber Mensch und Umwelt.

Ein Beispiel: In Flores Rancho, Bolivien, betreibt eine Gemeinschaft von 120 Familien ihr eigenes Wassersystem. Alle üblichen Wartungs- und Betriebsaufgaben werden von den Community-Mitgliedern erledigt, notwendige Ausgaben werden aufgeteilt. In Fores Rancho wird diese Art des Commoning umaraqa genannt. Es werden keine Wasserüberschüsse erzeugt, etwa um sie auf dem Markt zu verkaufen, sondern nur soviel Wasser gefördert, dass eine nachhaltige Versorgung der Community sicher gestellt ist. Das Commons-Wasser kostet nur ein Achtel des staatlichen Gemeindewassers im nahen Cochabamba. Damit ist die Höhe des Einkommens, das notwendig ist, um eine Familie zu versorgen, gesunken und die Lebensqualität insgesamt gestiegen.

Versöhnung mit Markt und Staat?

Die Selbstbewusstwerdung der Commons als globale Bewegung hat erst begonnen. Es liegt nicht auf der Hand, dass Freie Software, die Verfügung über das eigene Wasser, Wikipedia und der Kampf gegen die Patentierung von Medikamenten prinzipiell die gleichen Anliegen haben: die Verfügung über die eigenen Angelegenheiten und Produktionsmöglichkeiten für die eigenen Bedürfnisse. Weil dieser Prozess im Kapitalismus stattfindet, ist es nachvollziehbar, dass auch die Commons zunächst selbst in der Logik von Markt und Staat gedacht werden. Der Drang auch der Commoners selbst, die Commons mit dem Markt und Staat zu versöhnen, ist enorm groß. Sie akzeptieren die grundsätzliche Unvereinbarkeit der Logiken von Commons und Markt oder Staat nicht. Es würde ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen.

Die Überschreitung der Denkgrenzen wird erst in dem Maße möglich sein, wie Commoners tatsächlich auch die praktische Erfahrung machen, dass die Commons in »unökonomischer« Weise die Lebensbedingungen schaffen, die sie sich wünschen. Diesen Erkenntnis- und Reflexionsprozess zu befördern, könnte eine Aufgabe linker Ansätze sein. Dazu muss sie sich jedoch von ihrer mentalen und theoretischen Orientierung auf Politik und Staat erst noch emanzipieren.

Wir dürfen nicht vergessen, dass Commons heute nicht das bestimmende gesellschaftliche Paradigma sind. Sie sind geduldeter Randbestand und für viele Menschen die letzte Möglichkeit, ihre Existenz auf geringem Niveau zu sichern. Commons sind reale Existenz neben Markt und Staat, aber jenseits ihrer beider Logiken – mit allen Widersprüchen, die das »neben« mit sich bringt. Commons stehen in einem permanenten Konflikt sowohl mit Markt wie mit Staat. Dort wo Commons sind, kann ein Markt sich nicht ausdehnen, dort wo die Commons ihre eigene Konflikte regeln, kann der Staat draußen bleiben. Es ist kein gedeihliches Miteinander, das sich manche wünschen, eine Art befruchtender Kooperation zwischen Markt, Staat und Commons, sondern es ist ein Kampf um Fremd- und Selbstbestimmung, zwischen Eigenversorgung und künstlicher Knappheit. Die von Karl Marx so eindrücklich beschriebene »sogenannte ursprüngliche Akkumulation« der gewaltsamen Enteignung der Commons ist ein fortlaufender Prozess.

Die Perspektive der Commons ist eine commons-basierte Gesellschaft, die Exklusion als soziale Form der (Un-) Kooperation ausschließt – Exklusion von den Möglichkeiten, an der gesellschaftlichen Produktion teilzuhaben, Exklusion vom gesellschaftlichen Reichtum, aber auch Exklusion Anderer entlang herrschaftsförmig konstruierter Gender-, Hautfarben-, Kultur- und anderer Grenzen, auf deren Kosten das eigene Erheben und Fortkommen aufgebaut wird. Nichts geschieht von allein, aber die Commons haben gute Voraussetzungen, einer allgemeinen Emanzipation Vorschub zu leisten, denn sie basieren auf einer Inklusionslogik. Die eigene Entfaltung setzt die Entfaltung der Anderen voraus – und umgekehrt. Diese Inklusionslogik im globalen gesellschaftlichen Maßstab zu verallgemeinern, ist Perspektive der Commons. Kapitalismus brauchen wir dann nicht mehr.

Anmerkungen

1. Stefan Meretz (2010), Produktive Schweine und unproduktive Kinder, http://is.gd/gcORg

2. Sofern nicht anders angegeben entstammen alle Zitate der Commons-Enzyklopädie Wikipedia.

3. Karl Marx, Friedrich Engels (1848), Manifest der Kommunistischen Partei.

Stefan Meretz ist Informatiker und Ingenieur und bloggt auf keimform.de.

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Erschienen in: »iz3w — Zeitschrift zwischen Nord und Süd«, Nr. 322

Einzelhefte können auf der Website vom iz3w für 5,30 € bestellt werden (Papier oder als Download).

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