Zur Kritik der Aufhebungs- und Keimformtheorie

Cover des Buchs „Kapitalismus aufheben“Dieser Artikel setzt sich kritisch mit den Kapiteln 3 und 7 des Buchs Kapitalismus aufheben von Simon Sutterlütti und Stefan Meretz (2018) auseinander. Vorab ist festzuhalten, dass ich die Frage, wie der Kapitalismus überwunden bzw. „aufgehoben“ werden kann (wobei zum Aufheben auch gehört, dass positive Aspekte beibehalten und weiterentwickelt werden) für sehr wichtig halte und dem Anlagen des Buchs deswegen positiv gegenüberstehen. Das sollte jedoch nicht heißen, dass Schwächen und fragwürdige Momente der Argumentation unter den Teppich zu kehren sind – problematische Annahmen können leicht zu wenig zielführenden Praktiken führen, weshalb sich Bemühungen um die Aufhebung des Kapitalismus selber schaden würden, wenn sie ihre theoretischen Grundlagen nicht möglichst kritisch überprüfen und bei Bedarf korrigieren.

In Kapitel 3 („Aufhebungstheorie“) fragen Simon und Stefan zunächst allgemein, wie eine neue bzw. in ihrer Terminologie „befreite“ Gesellschaft „entstehen und sich durchsetzen“ kann (ebd., 18), während sie in Kapitel 7 („Keimformtheorie“) diesen relativ allgemeinen „Rahmen“ mit einem konkreteren Inhalt zu füllen versuchen. Gegen diese Zweiteilung ist grundsätzlich nichts einzuwenden, doch wäre dabei zu fragen, wie gut der Inhalt „Keimformtheorie“ zum Rahmen „Aufhebungstheorie“ passt und – wenn er nicht passt – was die theoretischen Konsequenzen sind. Dieser Rückkopplungsprozess fehlt im Buch aber. Unabhängig von der Frage der internen Konsistenz sind auch die Argumentationslinien im Rahmen der einzelnen Kapital kritisch zu prüfen.

Ebenen der Befreiung

Zunächst zurückgestellt werden soll in der folgenden Diskussion, wohin die Reise der „Aufhebung“ gehen soll, da die angestrebte Konzeption einer „freien“ bzw. „befreiten Gesellschaft“ von den beiden Autoren in erster Linie in anderen Kapiteln entwickelt wird. Wesentlich ist hier vorläufig, dass sie unter „Emanzipation“ bzw. „Befreiung“ den „Prozess hin zur freien Gesellschaft“ (ebd., 83) verstehen. Doch hier wird es (für mein Empfinden) schon fragwürdig nebulös, wenn sie „drei Ebenen der Befreiung“ postulieren, die zusammenkommen müssen, damit der Befreiungsprozess gelingen kann:

1. Befreiung ist individuell. Jede und jeder kann sich nur selbst befreien.

2. Befreiung ist gesellschaftlich. Menschen können sich nur innerhalb der Gesellschaft befreien.

3. Befreiung ist kollektiv. Wir können uns nur im eigenen konkreten Lebensumfeld befreien. (ebd., 84)

Gegenüber Vorstellungen, die sich auf jeweils eine dieser Ebene konzentrieren – dass der Staat eine bessere Gesellschaft „von oben“ verordnen kann, dass es reicht, das eigene Bewusstsein zu ändern oder im persönlichen Umfeld andere Verhältnisse zu leben – ist das Beharren darauf, dass die verschiedenen Ebenen zusammenkommen müssen, richtig. Doch so rigoros, wie hier formuliert wird, stellt sich die Frage, wie der Prozess überhaupt in Gang und zum Abschluss kommen kann. Im Kleinen anfangen geht scheinbar nicht, wenn von Anfang an die gesellschaftliche Ebene erreicht werden muss („Wir können Emanzipation nicht interpersonal vorwegnehmen.“ – ebd, 86). Aber selbst wenn der Prozess trotzdem in Gang kommt, wie kommt er zum Abschluss, wenn „niemand […] jemand anderen befreien“ kann? Wenn sich auch nur eine Person oder einige wenige weigern, sich „selbst [zu] ergründen und [ihre eigenen] Bedürfnisse [zu] erkennen“ (ebd., 84), ist die befreite Gesellschaft dann noch nicht erreicht? Oder ist die individuelle Ebene doch nicht so wichtig wie die anderen? Was würde es für die Möglichkeit der Aufhebung des Kapitalismus bedeuten, wenn jede Einzelperson diesen Prozess zum Erliegen bringen könnte, indem sie ihre individuelle Befreiung verweigert?

Tatsächlich verwenden Simon und Stefan den Verweis auf die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Ebene, um ihre Theorie gegen Kritik zu immunisieren. Sie schreiben:

Wir können noch so nett in einer WG miteinander umgehen, Sexismus, Lohnarbeitsstress, Selbstdisziplinierung etc. zersetzen die interpersonale Inklusion […] immer wieder. Oft hören wir: »Wenn wir es in unserem nahen Umfeld schon nicht hinkriegen, wie soll das dann mit der ganzen Gesellschaft funktionieren?« Wir sind uns sicher, dass es in unseren nahen Umfeldern erst klappen wird, wenn es mit der ganzen Gesellschaft klappt. (ebd., 86)

Zwar leuchtet es ein, dass sich „im Kleinen“ nicht komplett ausgleichen lässt, was „im Großen“ schiefgeht. Rechtfertigen würde das eine Aussage wie: „Wir sind uns sicher, dass es in unseren nahen Umfeldern nicht klappen wird, solange es mit der ganzen Gesellschaft nicht klappt.“ Eine Garantie, dass im eigenen Umfeld alles problemlos „klappt“, wenn erst die ganze Gesellschaft „befreit“ ist, lässt sich aber logisch nicht begründen. Würden sie differenzierter argumentieren, müssten Simon und Stefan diskutieren, welche der heute beobachtbaren Probleme „im Kleinen“ auf die spezifisch kapitalistische Gesellschaftsform zurückzuführen sind – und welche womöglich überhistorisch sind und auch in der „befreiten“ Gesellschaft noch auftreten könnten. Durch den Verweis auf die fehlende gesellschaftliche „Befreiung“ als mutmaßlichen Auslöser solcher Probleme entziehen sie sich dieser Debatte – aber dadurch entsteht eine Lücke in der Argumentation, da sie weder zeigen können, dass problematische Verhaltensweisen ausschließlich der Gesellschaft zuzuschreiben sind, noch diskutieren, wie eine „befreite“ Gesellschaft mit solchen Verhaltensweisen umgehen könnte, wenn sie doch noch auftreten würden.

Die Schwierigkeiten des Aufbauprozesses

Kommen wir zum Verhältnis des von Simon und Stefan beschriebenen „Rahmens“ zum „Inhalt“, das wie schon angedeutet problematisch ist. Die Aufhebungstheorie formuliert nämlich Ansprüche, die die Diskussion der Keimformtheorie als unerfüllbar enthüllt, ohne dass diese Unstimmigkeit reflektiert wird. In Kapitel 3 postulieren die beiden – durchaus überzeugend – „dass sich eine neue Gesellschaftsform in ausreichendem Maße bereits vor dem gesellschaftlichen Bruch herausbilden muss“ (ebd., 81f.). Damit grenzen sie sich von Revolutionsvorstellungen ab, wonach zunächst das Alte zerschlagen wird (oder von selber kollabiert) und erst dann, am „Tag danach […] der Aufbau einer neuen Gesellschaft“ beginnt (ebd., 74). Wenn das Neue jedoch auf einen Schlag entwickelt werden müsse, sei das Risiko, dass es dem Alten stark ähneln wird, sehr hoch, weil es den Menschen an praktischen Erfahrungen mit möglichen neuen Formen fehlt und sie sich deshalb notgedrungen am schon bekannten orientieren würden (ebd., 75).

Als Alternative plädieren sie für „ein Lernen, ein Ausprobieren, ein Schaffen, ein Verwerfen, ein Aufbauen – einen Prozess, in dem wir die Verfügung über die Bedingungen unseres Handelns, Lebens und Fühlens schrittweise erringen [und der] innerhalb der alten Gesellschaft beginn[t]“ (ebd., 88 – Hervorhebung im Original). In Kapitel 7 identifizieren sie als Grundlage eines solchen Prozesses das „Commoning“, wobei Menschen freiwillig, kollektiv und selbstorganisiert ihre Bedürfnisse befriedigen und sich dabei gegenseitig einbeziehen und unterstützen (ebd., 210 sowie 167). Der Vorstellung, dass Commoning-Prozesse noch im Kapitalismus nach und nach immer weiter wachsen und um sich greifen können, bis es zum „Kipppunkt“ (ebd., 88) kommt, erteilen die beiden in diesem Kapital allerdings eine Absage. Unter den Stichworten „Verbund“ und „Netzwerk“ diskutieren sie zwei Szenarien einer möglichen Ausbreitung der Commons, kommen aber zu dem Schluss, dass beides nicht funktionieren würde. Bei eng verzahnten Projektverbünden sehen sie das Problem, dass diese tendenziell ausgrenzende bürokratische Mechanismen entwickeln und sich „in Richtung einer Planwirtschaft“ bewegen könnten (ebd., 228). Bei losen Netzwerken gehen sie davon aus, dass diese sich zumindest indirekt am Markt (mit dessen Produkten sie konkurrieren, ob sie wollen oder nicht) orientieren und sich deshalb perspektivisch selbst „tendenziell marktorientiert“ verhalten müssten (ebd., 230). Auch die Idee, dass Commonsprojekte in großem Stil „effizienter als der Kapitalismus“ sein und ihn so „auskooperieren“ könnten, halten sie nicht für realistisch (ebd., 224–226).

Für die zuvor formulierte Aufhebungstheorie verheißt das nichts Gutes. Der postulierte Aufbauprozess, „in dem wir die Verfügung über die Bedingungen unseres Handelns, Lebens und Fühlens schrittweise erringen“ (ebd., 88) scheint aus eigener Kraft über die allerersten Schritte nicht herauskommen zu können. In einem kapitalistischen Umfeld bleibt er stattdessen auf im Wesentlichen „unmittelbare interpersonale Beziehungen“ (ebd., 218) beschränkt, in denen sich die Beteiligen persönlich kennenlernen und untereinander Vertrauen aufbauen können. Zumindest gilt das, gemäß den Überlegungen von Simon und Stefan, solange der Kapitalismus halbwegs funktioniert – als Szenario, wie es mit dem Aufbauprozess doch noch weiter gehen kann, setzen sie deshalb auf die Krise.

Per Krise zum Kipppunkt?

Was für eine Krise sie meinen, bleibt dabei etwas unklar. Gemäß Bennis Stufenmodell müsste es sich mindestens um eine „Systemkrise“ handeln, in der eine Gesellschaftsform (wie der Kapitalismus) untergeht und eine neue (wie der „Commonismus“) an ihre Stelle tritt. Aber wo kommt die Krise her? Die beiden sehen „zwei große ineinander verschränkte Krisenmomente“ am Werk: „die kapitalistische Verwertungskrise und die planetare Stoffwechselkrise“ (ebd., 231 – Hervorhebungen entfernt).

Der Verwertungskrise widmen sie immerhin einen Kasten (ebd. 213f.). Da die beiden wie im ganzen Buch viel zu wenig Quellen angeben, braucht mal schon Vorkenntnisse, um zu erkennen, dass sie sich hierbei auf die zuerst im sog. „Maschinenfragment“ aus Karl Marx’ Grundrissen in die Welt gesetzte Idee beziehen, dass sich der Kapitalismus aufgrund seiner Tendenz zu Automatisierung und Produktivkraftsteigerung nach und nach die eigene Grundlage – die Verwertung menschlicher Arbeitskraft – entziehe und aufgrund dieses Widerspruchs früher oder später kollabieren müsse. Eine Idee, die in letzten Zeit in Deutschland vor allem im Umfeld der Zeitschriften Krisis und Exit weiterentwickelt, aber auch wiederholt als Trugschluss kritisiert wurde – so in meinem Prokla-Artikel Produktivkraft als Versprechen“.

Von diesen Hintergründen erfährt man in ihrem Buch leider nichts – die einzige Quellenangabe im Kasten zur Verwertungskrise bezieht sich auf Marx’ Kapital, in dem dieser die im Maschinenfragment entwickelten Überlegungen allerdings gar nicht mehr aufgegriffen hat. Immerhin schließen Simon und Stefan den Kasten mit dem Fazit: „Es ist umstritten, wie groß dieses Krisenpotenzial wirklich ist, und ebenso, welchen Charakter der nächste Crash haben wird“ (ebd., 214). Wenn schon die Existenz einer fundamentalen Verwertungskrise – die über die unbestreitbaren, mal kleineren, mal größeren zyklischen Krisen bis hin zu den „lange-Wellen-“ und „hegemonialen Krisen“ aus Bennis Terminologie hinausgeht – unsicher ist, steht dieser Teil ihrer Argumentation allerdings auf einem sehr dünnen Fundament.

Unumstritten (in ernstzunehmenden Kreisen) dürfte die Existenz des anderen von ihnen benannten Krisenmoments sein, dem sie allerdings lediglich einen einzigen Satz widmen: „Auch die planetare Stoffwechselkrise (Ressourcenerschöpfung, Klimawandel etc.) darf als ausreichend bekannt vorausgesetzt werden“ (ebd., 231). Hier wäre eine detaillierte Auseinandersetzung nötig gewesen, in der nicht nur die Bekanntheit des Phänomens festgestellt, sondern auch deren Konsequenzen für die eigenen Theoriebildung reflektiert werden. Was bedeutet es etwa, dass der Klimawandel ein für die menschliche Wahrnehmung langsames Phänomen ist, dessen drastischste Konsequenzen wie die Überschwemmung vieler Küstenstädte und ganzer Regionen sich zum Teil erst in Jahrhunderten vollziehen werden?

Simon und Stefan stellen fest: „Eine Krise bedeutet, dass die bestehende Gesellschaftsform nicht mehr wie bisher weiter funktionieren kann“ (ebd., 230). Dieser Moment wird beim Klimawandel eines Tages zweifellos eintreten, doch wegen der langen Zeitverzögerung zwischen Ursache und Wirkung wird es dann viel zu spät sein, noch etwas gegen ihn zu unternehmen. Die Welt, in der sich der Aufbauprozess zum Commonismus hin vollziehen könnte, wäre somit eine Welt, die von den Konsequenzen des Klimawandels voll getroffen wird – manche Regionen werden überflutet sein, andere aufgrund von Hitzewellen praktisch unbewohnbar; die Produktivität der Landwirtschaft dürfte auch im Rest der Welt abnehmen, während Unwetterschäden zunehmen. Es wird eine „kleiner“ gewordene Welt sein, in die sich deutlich mehr Menschen als heute leben teilen müssen, und in der manches, was wir heute schon für „gelöst“ halten, wieder deutlich mehr Arbeit machen wird (weil Ressourcen verbraucht wurden, Öl und andere fossile Brennstoffe nicht mehr genutzt werden können, landwirtschaftliche Erträge schrumpfen und massive Schäden beseitigt werden müssen).

Wie passt dieses Szenario zu den von den beiden entwickelten Commonismus-Vorstellungen, wo generell der Eindruck erweckt wird, dass Ressourcen im Großen und Ganzen schon in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen, die notwendigen Arbeiten bzw. Tätigkeiten kein großes Problem sind (was niemand freiwillig und gerne macht, wird eben wegautomatisiert), und man denken könnte, dass die Befriedigung aller Bedürfnisse nur eine Frage der Zeit ist („Nicht alle Bedürfnisse werden (sofort) befriedigt werden können.“ – ebd., 165. Aber etwas später geht es womöglich schon??). Dies wird in Bezug auf das Commonismus-Kapitel vielleicht noch genauer zu diskutieren sein, aber mein erster Eindruck ist: nicht besonders gut. Wenn die Verwüstungen des Klimawandels nötig sind, um den Commonismus in die Welt zu bringen, dann darf dieser keine Schönwetter-Utopie“ (Annette Schlemm) sein, sondern müsste auch in einer verwüsteten, „geschrumpften“ und arbeitsintensiveren Welt noch funktionieren – ich habe nicht den Eindruck, dass er dieser Anforderung gerecht wird.

Krise versus Revolution

Neben diesen Anforderungen an die Utopie stellt sich die Frage, wie plausibel es ist, dass eine große Krise dem Commonismus zur gesellschaftlichen Dominanz verhelfen kann. Zwar müssten die Menschen, wenn die alten kapitalistischen Modelle nicht mehr funktionieren, zwangsläufig andere entwickelt, und die Frage, ob diese dann effizienter als der Kapitalismus sind, stellt sich nicht, wenn letzterer gar nicht mehr funktioniert. Doch Simon und Stefan sind selber der Ansicht, dass Commoning-Prozesse innerhalb des Kapitalismus höchstens in Ausnahmefällen die transpersonale Ebene erreichen können, die heute von Märkten, Firmen und Staaten bestimmt wird. Brechen diese altbekannten Mechanismen zusammen, müsste „das Commoning“ jedoch schlagartig „auch die transpersonale Vermittlung gestalten können, wo noch kaum Erfahrungen vorhanden sind“ (ebd., 231f.). Aber wenn das innerhalb des Kapitalismus nicht klappt, warum sollte es in der Krise dann plötzlich gelingen?

In Hinblick auf die Plötzlichkeit, mit der sich in der großen Krise die Commoning-Prozesse eine neue gesellschaftliche Ebene erschließen müssten, stellen sich dieselben Einwände, die Simon und Stefan – durchaus zu Recht – in Bezug auf klassische Revolutionstheorien erheben (in Kap. 2). Nach der Revolution – aber eben auch: in der Krise – sind die Produktionsmittel zum größten Teil noch die alten, kapitalistischen, die Menschen sind im Wesentlichen kapitalistisch sozialisiert und es gewohnt, ihre Interessen gemäß der heute üblichen Modi und damit oft auf Kosten anderer zu verfolgen (ebd., 74). Ein Zurückgreifen auf „bekannte autoritäre und exkludierende Lösungen“ liegt deshalb nahe (ebd., 75). Sie selbst räumen ein, dass auch in Krisen „viele Menschen […] auf hierarchisch-autoritäre Lösungen setzen“ (ebd., 231). Aber warum erteilen sie trotz dieser Parallele den Revolutionstheorien eine Absage, während sie auf die Krise ihre Hoffnung setzen? Das erscheint mir nicht begründet und auch schwerlich begründbar.

Zwar hoffen sie in Bezug auf die große Krise darauf, dass „Erfahrungen mit interpersonalen Inklusionsräumen“ dann schon so weit verbreitet sind, dass hinreichend viele Menschen auch in großen, transpersonalen Prozessen auf Inklusion und Commoning setzen werden. Allerdings dürften auch viele Anhängerinnen von Revolutionstheorien davon ausgehen, dass die neue gesellschaftliche Logik im Kleinen (Interpersonalen) schon erprobt und vorweggenommen wird, bevor es zur großen Revolution kommt. Warum sie dies als möglicherweise begründete Hoffnung bei Revolutionstheorien nicht gelten lassen, bei der eigenen Krisentheorie aber schon, bleibt unklar. Mir selbst erscheint zudem äußerst zweifelhaft, ob eine direkte Übertragung von in kleinen, interpersonalen Zusammenhängen gemachten Erfahrungen auf große, transpersonale Prozesse möglich ist – ich habe diese Problematik unter dem Stichwort Dunbar-Hürde behandelt. Obwohl Simon und Stefan dieser Einwand bekannt ist, gehen sie nicht auf ihn ein.

Neben der großen Krise sehen sie noch ein weiteres Szenario, wie der „Dominanzwechsel“ hin zum Commonismus womöglichen gelingen könnte, das sie „Der Partnerstaat als Suizidstaat“ betiteln (ebd., 232). Der wohlwollende Partnerstaat als Helfer und Unterstützer von Commons und Peer-Produktion ist ein Vorschlag des Peer-to-Peer-Theoretikers Michel Bauwens, was Simon und Stefan in ihrer Quellenfeindlichkeit allerdings verschweigen. (Genau wie sie verschweigen, dass die von ihnen diskutierte und kritisierte Idee der Commonsverbünde in einer Arbeitsgruppe des Commons-Instituts unter u.a. meiner Beteiligung entwickelt wurde.) Der Idee, dass der wohlwollende Partnerstaat Commoning-Prozesse so stark fördert, bis diese gesellschaftlich dominant werden und damit den Kapitalismus und auch die Staaten zu Grabe tragen (weshalb sich der Partnerstaat dann als Selbstmörder erwiesen hätte), stehen sie skeptisch gegenüber, ohne sie aber für absolut unmöglich erklären zu wollen. Nachdem sie zuvor viele Seiten damit gefüllt haben, große Hoffnungen in den Staat für unbegründet zu erklären (u.a. ebd., 48–70), ist es zumindest überraschend, dass der Staat nun gegen Ende des Buches neben der großen Krise (die ja erst einmal in der passenden Form auftreten müsste) doch wieder einer der beiden Hoffnungsträger für die commonistische Transformation sein soll – ohne Krise oder Staat, so das (implizite) Fazit ihrer Szenarien, könne die Transformation nicht gelingen.

Keimförmiger Attentismus

Damit widersprechen sie auch ihrer zuvor getroffenen Aussage, wonach die Keim- oder Vorformen des Neuen zunächst eine „ausreichende Größe erreich[en müssen], um wesentliche re/produktive Bereiche der Gesellschaft zu erfassen“, woraufhin sie sich „gesellschaftlich verallgemeinern [und] den Kapitalismus in einem gesellschaftlichen Kipppunkt überschreiten“ können (ebd., 88). In dieser in Kapitel 3 formulierten Aufhebungstheorie war es das Neue, das solange wächst, bis es das Alte, den Kapitalismus, kippen kann. In Kapitel 7 kommen die beiden hingegen zu dem Schluss, dass das so nicht funktioniert, sondern die Keimformen des Neuen zwangsläufig solange in kleinen, interpersonalen Nischen verharren müssen, bis die Krise des Alten (und damit das Alte selbst) oder vielleicht auch der selbstmörderische Partnerstaat (und damit ein anderer Aspekt des Alten) ihnen zum Durchbruch verhilft. Die strategische Perspektive, die sich daraus ergibt, könnte man in Anlehnung an Dieter Grohs Schlagwort vom „revolutionären Attentismus“ als „keimförmigen Attentismus“ bezeichnen: Man baut interpersonale Wohlfühlprojekte auf, die im Kleinen die neue Logik von Commonismus und Inklusion vorwegnehmen sollen, wobei sie allerdings zwangsläufig doch recht exklusiv bleiben müssen, um den interpersonalen Rahmen und das gegenseitige Vertrauensverhältnis als notwendige Basis nicht zu gefährden. Dass diese Projekte dem Kapitalismus auch in den Nischen, auf die sie sich beschränken, nicht wirklich gefährlich werden können, wird akzeptiert – der Hoffnung, dass sie „effizienter als der Kapitalismus“ sein und ihn so „auskoopieren“ könnten, wird jenseits der begrenzten Sphäre frei kopierbarer Wissensgüter ja eine Absage erteilt (ebd., 224–226). Somit bleibt außer den Wohlfühlprojekten nur das Warten auf die große Krise, die der neuen Logik dann hoffentlich – wenn auch mit vielen Fragezeichen versehen – zum Durchbruch verhelfen wird.

Selbst wenn dies wirklich die beste Hoffnung auf eine bessere nachkapitalistische Gesellschaft sein sollte, wäre es zumindest sinnvoll gewesen, die offenbar zunächst formulierte „Aufbautheorie“ (Kap. 3) in Hinblick auf die Erkenntnisse aus Kapitel 7 („Keimformtheorie“) zu revidieren – so aber wird ein Rahmen aufgezogen, in den der später formulierte Inhalt gar nicht passt. Zudem stellt sich die Frage, ob es wirklich empfehlenswert ist, es sich in interpersonalen Wohlfühlprojekten einzurichten und ansonsten auf die große Krise zu warten – oder ob es nicht doch besser wäre, sich auch heute schon ins Getümmel der transpersonalen Beziehungen zu stürzen (wo die Beteiligten sich nicht unbedingt persönlich kennen, mögen oder besonders vertrauen) und zu versuchen, auch hier Änderungen einzufordern und schließlich durchzusetzen, die eine Perspektive für eine bessere postkapitalistische Gesellschaft eröffnen. Dass dies mit Risiken verbunden ist – etwa dem Risiko, dass sich bei einem „langen Marsch durch die Institutionen“ die Marschierenden mehr verändern als die Institutionen – ist keine Frage, doch die von Simon und Stefan entwickelte Alternative bleibt eben sehr beschränkt.

Literatur

Sutterlütti, Simon und Stefan Meretz. 2018. Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken. Hamburg: VSA.

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