Queer zu Markt und Staat – Commons als Befreiungsperspektive

Im August ist eine neue Ausgabe der Queerulant_in, einer Zeitschrift für queere Politiken und Praxen, mit dem Schwerpunkt „Queere Utopien / Das schöne Leben“ erschienen. Ich habe dazu einen Artikel zu queerer Kapitalismuskritik und Commons beigesteuert, den ich vor über einem Jahr dafür geschrieben habe. Heute würde ich einige Sachen vielleicht anders schreiben – z.B. mehr auf die gesamtgesellschaftliche Utopie (denn das kommt in der Zeitschrift trotz des Schwerpunkt-Titels leider etwas zu kurz) und auf soziale Kämpfe eingehen. Aber als niedrigschwellige Einleitung zum Thema Commons und Kapitalismuskritik aus queerer Perspektive taugt es vielleicht. Die Queerulant_in ist übrigens sebst auch ein Commons, denn sie wird nicht nur von einem Kollektiv herausgegeben, sondern auch kostenlos vertrieben, sowohl online als PDF, an den verschiedenen Auslageorten als auch im Abonnement – dank Spenden und Fördergeldern.

Hier der Artikel (die Punkte verweisen auf Begriffe, die im Glossar der Queerulant_in erklärt werden):

Kurzversion in einfacher Sprache:

Wir leben im Kapitalismus.
Im Kapitalismus geht es um Gewinn, nicht um Bedürfnisse.
Auch das Denken in zwei Geschlechtern verstärkte sich mit dem Kapitalismus.
Commons sind eine Alternative zum Kapitalismus.
Commons sind Dinge, die gemeinsam genutzt und verwaltet werden.
Wenn alle teilen und mithelfen und niemand bestimmt, entstehen Commons.
Commons lassen sich auch gut mit queerer Politik verbinden.

Langversion:

Kapitalismuskritik war lange ein Standard in ●LGBTIQ*Bewegungen. Heute ist davon bei den großen ●CSDs nicht mehr viel geblieben, die Integration in den Kapitalismus scheint für viele gelungen zu sein. Da dies aber nicht für alle LGBTIQ*s gleichermaßen gilt, lohnt aus ●queerer Perspektive nach wie vor eine Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus und Alternativen dazu. In den Blick nehmen möchte ich hierbei v. a. das Konzept der Commons, also bedürfnisorientierte Selbstorganisationsstrukturen jenseits von Markt und Staat, das ich für besonders anknüpfungsfähig für queere Ansätze halte.

Namensgebend für den Kapitalismus ist das Kapital. Kapital ist nach dem Theoretiker Karl Marx Geld, das eingesetzt wird, um mehr Geld zu bekommen, also um Profit zu erwirtschaften.1 Dies geschieht durch die Ausbeutung von Arbeiter*innen, denn diese stellen durch ihre Arbeit Produkte her, die die Unternehmen dann für mehr Geld verkaufen, als sie für Arbeiter*innen und Maschinen ausgegeben haben. Mit dem erwirtschafteten Profit weiten sie die Produktion dann weiter aus. Sie
tun dies aber nicht, weil sie besonders böswillig sind, sondern weil sie durch die gesellschaftlichen Strukturen dazu gezwungen werden. Der Zwang, Kapital immer wieder zu verwerten, ist nämlich bereits im Prinzip des Warentausches angelegt. Warentausch bedeutet, dass ich ein Ding gegen etwas anderes eintausche – und zwar gegen etwas, das einen gleichen Wert hat, welcher in Geld ausgedrückt wird. Die Befriedigung meiner Bedürfnisse ist also davon abhängig, dass ich das nötige Geld habe. Damit wird künstliche Knappheit erzeugt, und Menschen werden in Konkurrenz
zueinander versetzt. Diese Konkurrenz betrifft auch die Unternehmen, die dazu gezwungen sind, die Kapitalverwertung immer weiter zu treiben, um sich gegen andere Unternehmen durchsetzen zu können.

Kapitalismus und Geschlecht

Damit der Kapitalismus funktionieren kann, braucht er gesellschaftliche Bereiche (Sphären), in denen seine Voraussetzungen (wie die Arbeitsfähigkeit der Arbeiter*innen) überhaupt erst hergestellt werden. So ein Bereich ist die Sphäre der Reproduktion – also das Kümmern um Kinder, Haushaltsarbeit und emotionale Unterstützung. Diese Tätigkeiten (auch als ●Care-Tätigkeiten bezeichnet) werden meist von Frauen geleistet, und diese Sphäre und die dazugehörigen Emotionen als weiblich gedacht. Währenddessen wird die Sphäre des Marktes, in der das einzelne Individuum stark sein und sich durchsetzen muss, als männlich gedacht. Dass diese Aufteilung in Sphären so vergeschlechtlicht wurde, ist nicht selbstverständlich, sondern musste gewaltsam durchgesetzt werden. Historische Analysen deuten auch darauf hin, dass sich das Denken in zwei Geschlechtern, die angeblich fundamental voneinander verschieden und durch die ●Heteronormativität aufeinander bezogen sind, erst mit dieser Sphärentrennung und mit dem Kapitalismus durchgesetzt hat. Im Kolonialismus wurde diese Zweigeschlechtlichkeit dann in alle Welt importiert und Menschen aufgezwungen, die vorher zum Teil mehr Geschlechter kannten. Somit markierte der Übergang zum Kapitalismus eine umfassende Disziplinierung und Kategorisierung von Menschen, eine Verstärkung der Zweigeschlechtlichkeit und der Verfolgung homosexueller Handlungen.2

LGBTIQ*-Emanzipation im Dienstleistungs-Kapitalismus?

Der Kapitalismus hat heute im globalen Norden (Mittel- und Westeuropa sowie Nordamerika) seine Erscheinung im Vergleich zu seiner Anfangsphase verändert: Menschen arbeiten immer öfter in Dienstleistungsbetrieben statt in Fabriken. Flexibilität und ein gewisses Maß an Selbstorganisation sind nun verlangt, nicht mehr nur stumpfes Ausführen von Fließbandtätigkeiten. Die Vielfalt von Lebensentwürfen ist verwertbar geworden. Unternehmen haben die ●schwule Subkultur als Marktlücke entdeckt – und somit wird auch eine zunehmende ●Gleichstellung von LGBTIQ*s erleichtert. Diese Gleichberechtigung ist jedoch sehr beschränkt, denn zum einen profitieren von ihr v. a. LGBTIQ*s mit viel Geld; zum anderen ist sie immer noch von der Heteronormativität bestimmt:
Die ●Emanzipationsstrategien, die sich dieser am weitesten angleichen, wie etwa die „Ehe für alle“, sind am erfolgreichsten. Und die zunehmende Sichtbarkeit von ●Trans* Personen gilt vor allem für diejenigen, die herrschenden Schönheitsnormen entsprechen. Darüber hinaus gelten diese Veränderungen innerhalb des Kapitalismus eben vor allem für den globalen Norden, während im globalen Süden (Lateinamerika, Afrika, große Teile Asiens) die Produktion nach wie vor oder sogar zunehmend in Fabriken organisiert wird – mit all den Disziplinierungen von Geschlecht und Sexualität, die damit einhergehen.

Commons als Alternative

Aus queerer Perspektive gibt es also nach wie vor noch viele Gründe, gegen den Kapitalismus zu sein. Gerade bei vielen jungen Queers scheint es wieder ein vermehrtes Interesse an Kapitalismuskritik zu geben. Die Frage bleibt allerdings, was denn die Alternative ist. Teile der Linken sehen den Staat als Gegenpol zum Markt. Dieser ist aber abhängig von einer wachsenden Wirtschaft – aus der bekommt er schließlich seine Steuern. Und die Versuche, eine nicht-kapitalistische Wirtschaft staatlich zu organisieren, endeten in totalitärer Herrschaft, siehe Sowjetunion. Doch es gibt auch Ansätze einer Wirtschaftsform, die jenseits von Markt und Staat verortet sind: Dazu gehören beispielsweise Gemeinschaftsgärten, solidarische Landwirtschaft, das Mietshäusersyndikat, Open Source Software, Wikipedia oder Umsonst-Läden. Zusammengefasst werden sie unter dem Begriff der ●Commons. Bei Commons handelt es sich um Ressourcen, sei es Land oder Software, die gemeinschaftlich und selbstorganisiert produziert, verwaltet, gepflegt und/oder genutzt werden, um Bedürfnisse zu befriedigen. Dieser soziale Prozess der gemeinschaftlichen, bedürfnisorientierten Selbstorganisation wird als Commoning bezeichnet.

Beitragen statt Tauschen

Die Commons-Forscherin Friederike Habermann bestimmt Commons und Commoning durch zwei Prinzipien: „Beitragen statt Tauschen“ und „Besitz statt Eigentum“.3 „Beitragen statt Tauschen“ bedeutet, dass ich zu einem Commons-Projekt aus eigener Motivation beitrage, und nicht, weil ich dafür einen Gegenwert erhalte. Dies ist also ein Gegenmodell zum Prinzip des Warentausches.
Konkret bedeutet das, dass beispielsweise ein*e Programmierer*in mithilft, ein neues Betriebssystem zu programmieren, einfach, weil es ihr wichtig ist oder ihr Spaß macht. Oder dass ich Klamotten, die mir nicht mehr gefallen, in den Umsonst-Laden bringe, und andere können sie sich mitnehmen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Das hat nichts mit selbstloser Aufopferung zu tun, denn schließlich profitiere ich ja auch davon, wenn viele Leute zu solchen Projekten beitragen. Allerdings wird die Leistung nicht gegeneinander aufgerechnet. Die Befriedigung meiner Bedürfnisse ist somit nicht davon abhängig, dass ich irgend etwas leiste.

Besitz statt Eigentum

Damit wären wir beim zweiten Prinzip: „Besitz statt Eigentum“. Beide Begriffe werden oft synonym verwendet, haben jedoch einen wesentlichen Unterschied: Besitz ist das, was ich selbst benutze, während Eigentum ein rechtlicher Titel ist, der nicht an Benutzung gekoppelt ist. Leute können Eigentum haben, das sie nicht brauchen, und andere von der Nutzung ausschließen – oder dafür Geld verlangen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Eigentum an Gebäuden: Wer Eigentümer*in eines Hauses ist, es aber selbst nicht zum Wohnen braucht, kann es an andere vermieten und allein dadurch Geld verdienen, dass er*sie Eigentümer*in ist. Er*sie kann auch entscheiden, Menschen von der Benutzung des Hauses auszuschließen, wenn diese nicht genug zahlen können. In Commons-Kontexten gibt es hingegen zwar Besitzverhältnisse, es wird also geregelt, wer etwas benutzen kann. Allerdings wird – im Optimalfall – niemand aufgrund eines abstrakten Eigentumtitels von der Benutzung ausgeschlossen. Besitz kann somit bedürfnisorientiert organisiert werden.

Commons innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft

In der Praxis finden wir diese Prinzipien selten in Reinform erfüllt, denn schließlich existieren Commons heute noch innerhalb von Rahmenbedingungen, die von Markt und Staat gesetzt werden.
So spielt Geld in den meisten Commons-Projekten immer noch irgend eine Rolle. Solidarische Landwirtschaft funktioniert z. B. darüber, dass Konsument*innen einer Landwirt*in regelmäßig Geld zahlen, damit deren Existenz gesichert wird, und sie erhalten im Gegenzug einen Anteil der Ernte. Hier ist das Prinzip des Marktes zwar aufgehoben, denn für die Bäuer*in gibt es keine Unsicherheit mehr, ob sie das Gemüse verkauft bekommt, aber Geld gibt es trotzdem noch. Allerdings kann die Höhe der Beiträge, die die Konsument*innen zahlen, fairer gestaltet werden als die Preise, die sie auf dem Markt zahlen würden, z.B. in Form von Bieter*innenrunden, in denen die Beiträge frei festgelegt werden.
Obwohl Commons also heute noch innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft existieren, bieten sie doch gewisse Freiräume, und die in ihnen herrschenden Prinzipien weisen über den Kapitalismus und über den Staat hinaus. Ziel antikapitalistischer Bestrebungen könnte es also sein, Commons auszuweiten und zu überlegen, wie Commoning gesamtgesellschaftlich funktionieren könnte.4

Commons und queere Politik

Es gibt einige Parallelen zwischen Commoning und queerer Politik (siehe ●Queer Theory). Beide warten nicht auf ein Fernziel nach einer Revolution, sondern beginnen im hier und jetzt. Beide irritieren, weil sie Annahmen darüber, was natürlich ist, in Frage stellen: Genauso, wie viele Leute irritiert auf eine queere ●Geschlechterperformance reagieren, reagieren sie verblüfft, wenn sie erfahren, wie Umsonst-Läden oder auf Spenden basierende „Küchen für Alle“ funktionieren. Denn während ●Queering Gender die Natürlichkeit von Geschlecht in Frage stellt, stellt Commoning die Alternativlosigkeit des Kapitalismus in Frage, wie sie von den Wirtschaftswissenschaften – mit dem entsprechenden Menschenbild – gepredigt wird. Wenn wir uns die vergeschlechtlichte Sphärentrennung in Reproduktion/Care und Produktion/Markt anschauen, dann fällt auf, dass
Commons hier nicht hineinpassen, dass sie diese Trennung also ●queeren. Denn einerseits funktionieren Commons nicht nach Markt-Prinzipien, andererseits überschreiten sie aber die Begrenztheit privater Beziehungen, innerhalb derer Care meist stattfindet. In Umsonst-Läden kenne
ich die Leute oft gar nicht, die die Kleidung nehmen, die ich dorthin gebracht habe. 5
Vor allem aber schaffen Commons wie auch queere Politik „Räume anderer
Selbstverständlichkeiten“, wie Friederike Habermann sie nennt. Nischen also, die in einem gewissen Maß nach anderen Prinzipien funktionieren als der Rest der Gesellschaft. Nischen, in denen Menschen bedürfnis – statt leistungsorientiert miteinander leben und in denen ein anderes Verständnis von Geschlecht und Sexualität möglich wird. Oft überschneiden sich queere und Commons-Räume miteinander, denn beide werden von emanzipatorischen Bewegungen geschaffen.
So sind Umsonst-Läden meist nicht in zwei geschlechtliche Abteilungen unterteilt. Für mich waren sie deshalb eine der ersten Möglichkeiten, mit meiner Geschlechterperformance zu spielen und sie sind nach wie vor meine liebste Bezugsquelle für sogenannte „Frauenkleidung“. Das Zusammenleben an Orten wie der Besetzung im Hambacher Forst funktioniert nach dem Prinzip „Beitragen statt Tauschen“. Gleichzeitig kommt es dort häufiger vor, dass Leute nach ihren Pronomen gefragt werden, und nicht automatisch von Erscheinungsbild auf Geschlecht geschlossen wird, wie fast überall sonst. Queere Politik und Commons können also beide dazu beitragen, das gute Leben für alle zu ermöglichen.

(1) Karl Marx: „Das Kapital“. Eine gute Zusammenfassung davon bietet Michael Heinrich in „Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung“

(2) Einen guten Überblick über diese Prozesse liefern Heinz-Jürgen Voß und Salih Alexander Wolter in „Queer und (Anti-) Kapitalismus“

(3) z. B. in ihrem Buch „Ecommony – UmCARE zum Miteinander“

(4) Ansätze dafür finden sich in „Kapitalismus aufheben“ von Simon Sutterlütti und Stefan Meretz

(5) Stephanie Grohmann: „Queere Ökonomien“. Im Buch: „Anarchismus queeren“

Verwandte Artikel

Einen Kommentar hinzufügen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Entdecke mehr von keimform.de

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen