»Kapitalismus aufheben« — Kapitel 3
Das Buch »Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie neu nachzudenken« von Simon Sutterlütti und Stefan Meretz ist im VSA-Verlag erschienen und online auf der Website commonism.us verfügbar. Die Kapitel können hier auf keimform.de einzeln diskutiert werden. Hier geht es um das Kapitel 3:
Aufhebungstheorie
Die Aufhebungstheorie (PDF) ist die Alternative zu interpersonalen und staatlich-politischen Transformationstheorien. Hier die Zusammenfassung aus dem Buch:
Transformationstheorien, die auf die Überwindung des Kapitalismus zielen, sind Aufhebungstheorien. Ihre Kernfrage ist, wie eine freie Gesellschaft aus dem Kapitalismus entstehen kann. Unsere Erkenntnisse sind:
- Die Befreiung des Menschen ist individuell, gesellschaftlich und kollektiv: Jede und jeder kann sie nur selbst vollziehen, sie kann nur in und mit der Gesellschaft geschehen und zwar interpersonal in konkreten unmittelbaren Umständen.
- Deshalb muss der Befreiungsprozess ein bedürfnisorientierter und selbstgeschaffener gesellschaftlicher Konstitutionsprozess sein.
- Der Konstitutionsprozess beginnt in der alten Gesellschaft.
- Eine freie Gesellschaft entsteht aus den neuen Formen, die vor dem gesellschaftlichen Bruch ausreichend entwickelt sein müssen.
- Politisch-staatliche Transformationstheorien können diesen Konstitutionsprozess nicht denken, da sie auf die politisch-staatliche Machtergreifung mit darauffolgender gesellschaftlicher Neuorganisation abzielen.
- Der Konstitutionsprozess muss eine gesellschaftsumformende Potenz haben.
- Eine Gesellschaftsform ist durch ihre Re/Produktionsweise und Vermittlungsform gekennzeichnet, somit muss die gesellschaftsumformende Potenz auch die neuen Formen der Herstellung* und Vermittlung enthalten.
- Der soziale Ausdruck, die soziale Form der neuen Herstellung* und Vermittlung ist die Vorform.
- Die Grundfrage der Aufhebungstheorie lautet: Was ist die Vorform der freien Gesellschaft im Kapitalismus und wie verallgemeinert sie sich?
- Die befreiende Vorform kann nur inhaltlich bestimmt werden, durch eine kategoriale Bestimmung der Zielgesellschaft, der Utopie. Diese können wir innerhalb des Paradigmas der kategorialen Utopietheorie denken.
- Die Vorform entwickelt sich in einem zweiteiligen Durchsetzungsprozess zur gesellschaftlich bestimmenden Form: Ausdehnung im Kapitalismus und gesellschaftlicher Bruch mit Verallgemeinerung in die freie Gesellschaft.
- Die Aufhebungstheorie stellt ein neues Paradigma der Transformationstheorie dar, indem sie sich dem eigentlichen transformationstheoretischen Gegenstand, dem qualitativen Wandel der Gesellschaftsform, zuwendet.
- Mit unserer Aufhebungstheorie (und folgenden kategorialen Utopietheorie) wollen wir Menschen in einen theoretischen Raum einladen, in welchem menschliche Befreiung denkbar ist.
politisch-staatliches.“
Das würde ja nur stimmen, wenn ihr irgendwie zeigen könntet, dass „die Gesellschaft“ als Ganzes irgendwie weniger von den toxischen Eigenschaften des Kapitalismus verseucht ist als der Staat. Dazu hab ich bisher noch nichts gefunden. Kommt das noch? Also ich finde eure Herleitung dass es der Staat nicht sein kann schon überzeugend, aber wieso kann es die Gesellschaft sein? Die ist doch genauso kaputt. Oder anders gesagt: Wieso gibt es da das „Richtige Leben im Falschen“ mehr als in der staatlichen Politik?
Hmm Hmm … Ich würde sagen die Gesellschaft ist ein loser integriertes System als der Staat. Der Staat hat viel strengere Beschränkungen und Begrenzungen – bspw. Ressourcenbasis (Steuern) und Handlungslogik (Gehorsam und Gesetz), somit kann er kaum auf Basis von Freiwilligkeit und kollektiver Verfügung funktionieren. In die Gesellschaft wirken auch die Exklusionsbedingungen als „toxisches“, aber dies sind keine so harte Begrenzungen wie beim Staat. Es gibt mehr Raum für Gestaltung und Veränderung. Aber ich stimme dir zu, dass müsste man nochmal genauer begründen.
Lieber Simon, Lieber Stefan,
Danke für Eure
umfangreiche Einladung zur Diskussion. Das Buch ist insgesamt wirklich beeindruckend: Sprachlich nüchtern
und klar, und zugleich voller Enthusiasmus; begrifflich innovativ,
teils brilliant; inhaltlich transparent, strukturiert und kenntnisreich – super
spannend und sehr inspirierend (stell ich jetz immer voran, auch bei den anderen Kapiteln).Zu diesem Teil folgende Kritik von mir:
S. 82-87 Das Ziel – Emanzipation
Da ich mich hiermit seit einigen Jahren beschäftige,
möchte ich folgendes Vorschlagen: Die Unterscheidung interpersonale
und transpersonale Beziehungen finde ich interessant. Es gibt aber auch gute
Gründe hier noch etwas präziser zu werden, etwa wie es Derek Layder
nach gut 3 Jahrzehnten Grübelei über das Verhältnis von ’structure‘ und ‚agency‘ vorschlug: Eine Unterteilung in 4
empirische Bereiche des Sozialen:
1. Meta- oder
Makroebene (Abstraktionen; Analytisch bestimmbare, historisch
gewachsene Rahmenbedingungen)
2. Konkrete
Rahmenbedingen sozialen Handelns (konkrete staatliche/nichtstaatliche
Institutionen, incl. Konventionen/Traditionen an konkreten Orten zu
konkreten Zeiten usw.: Wie sind sie beschaffen? Wie verändern sie
sich?)
3. Konkrete
Begegnung (die Interaktion als solche: Was passiert, wenn Menschen
interagieren … unter konkreten Bedingungen … meta-strukturen?)
4. Psychobiographie
(die Einzelne als Teil des sozialen Prozesses … individuelle
Bewältigungs- und Glücksstrategien … unter Bedingungen 1-3)
Eine Bestimmung von
Herrschaft und Emanzipation entlang dieser Unterteilung des Sozialen
ist m.E. näher an der Wirklichkeit, und daher nützlicher sowohl für
die Bestimmung des Möglichen, als auch für die Suche nach Wegen
dorthin. Eure Sozialtheorie hat m.E. eine erhebliche Schlagseite zu
Agency, insbesondere wenn es darum geht den Weg in die freie
Gesellschaft argumentativ zu ebnen (S.151 siehe unten). Das ist mir
aber nicht wissenschaftlich genug. Das was ist muss zunächst
möglichst ungetrübt zur Kenntnis genommen werden, sowohl in den
ermöglichenden, als auch in den hemmenden Aspekten.