Produktivkräfte, Destruktivkräfte und historischer Materialismus
Nur wenige Menschen versuchen über den Kapitalismus hinauszudenken. Diejenigen, die das dennoch tun, bauen diese Überlegungen meist auf zwei unterschiedlichen Fundamenten auf: Entweder auf die Annahme, dass sich die erwarteten Veränderungen sowieso und unabhängig von den Wünschen der Menschen vollziehen, oder aber auf die Überlegung, dass solch eine Gesellschaft besser wäre – für die Menschen, vielleicht auch für die Natur – und es sie daher herzustellen gilt. Prägnant und zweifellos etwas verkürzt kann man das erste Fundament als „materialistische Perspektive“, das zweite als „utopische Perspektive“ betrachten.
Die bekanntesten Verfechter der materialistischen Perspektive – traditionell „historischer Materialismus“ genannt – sind Karl Marx und Friedrich Engels, die sich vehement für diese Perspektive ausgesprochen haben und zugleich versucht haben – nicht wirklich erfolgreich –, die utopische Perspektive zu Grabe zu tragen. In seinem 1880 veröffentlichten Text „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ rechnet Engels mit utopischen Entwürfen von frühen Sozialisten wie Henri de Saint-Simon, Charles Fourier und Robert Owen ab, die er als „unreife Theorien“ und „reine Phantasterei“ verwirft (MEW 19, 194). An diesen „Utopisten“ (wie er sie nennt) kritisiert er, dass sie ihre Gesellschaftsentwürfe als „Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit“ ansehen, die „nur entdeckt zu werden [braucht], um durch eigne Kraft die Welt zu erobern“ (ebd., 200).
Engels setzt dem die „materialistische Geschichtsauffassung“ entgegen, dass „die kapitalistische Produktionsweise […] die Notwendigkeit ihres Untergangs“ schon in sich trägt. Der Kapitalismus kann gar nicht anders, als sich durch sein eigenes Funktionieren selbst zu Grabe zu tragen – und auch die ihm folgende, in Engels Terminologie „sozialistische“ Gesellschaft ergibt sich in ihren logischen Grundzügen zwangsläufig aus der Weise, in der der Kapitalismus funktioniert und in der er untergehen wird. Das macht die Beschäftigung mit dem noch gar nicht existierenden Sozialismus in Engels’ Augen zur „Wissenschaft“ anstatt zur reinen Utopistik (ebd., 209).
Materialistische Ansätze haben gemeinsam, dass sie den Kapitalismus als seinen eigenen Totengräber ansehen – er kann gar nicht anders, als durch sein Operieren gemäß seiner eigenen Logik an einen Punkt zu kommen, wo er kollabiert, untergeht und durch eine andere Produktionsweise ersetzt wird. („Der Kapitalismus“, wie ich meistens kurz und knapp anstelle des von Marx und Engels bevorzugten genaueren Ausdrucks „die kapitalistische Produktionsweise“ schreibe, ist natürlich keine Person und hat keinen eigenen Willen. Was bei solchen scheinbaren Personifizierungen gemeint ist, ist dass die Menschen, die im Kapitalismus leben und ihn durch ihr Verhalten kollektiv gestalten, gar nicht anders können, als sich so zu verhalten, dass dieses Ergebnis notwendige Konsequenz ihres aus ihrer Sicht zweckmäßigen Verhaltens ist. Das werde ich im Folgenden nicht immer genau ausführen, aber Personifizierungen von abstrakten Konzepten wie „der Kapitalismus“ oder „der Staat“ sind immer in dieser Form zu verstehen.)
Führt Monopolbildung zur Enteignung der Enteigner?
Jenseits der genannten Gemeinsamkeit unterscheiden sich materialistische Ansätze aber dadurch, welche genaue Ursache und welchen Wirkmechanismus sie als Auslöser für den Untergang des Kapitalismus ansehen. Engels sah zunehmende Konzentrationsprozesse als diesen Auslöser: Große Unternehmen sind konkurrenzfähiger als kleinere, verdrängen diese deshalb oder kaufen sie auf, bis schließlich in jedem Industriezweig nur noch ein gigantischer „Trust“ übrigbleibt, der eine Monopolstellung genießt und entsprechend ungeniert abkassieren kann. Dies zwingt den Staat, einzugreifen und die Trusts zu verstaatlichen, auch weil sich „[k]ein Volk […] eine so unverhüllte Ausbeutung der Gesamtheit“ langfristig gefallen lassen würde (ebd., 221). Das ist allerdings noch nicht das Ende des Kapitalismus, sondern hat zunächst nur den Effekt, dass der Staat nun selbst zum „Gesamtkapitalist“ wird, der seine eigenen Bürger:innen als „Lohnarbeiter, Proletarier“ ausbeutet (ebd., 222).
Engels Auffassung nach ändert sich das jedoch, sobald das „Proletariat […] die Staatsgewalt“ ergreift und jetzt selbst die Zwecke der Produktion bestimmt. Damit wird der Staat als „Organisation der […] ausbeutenden Klasse […] zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse“ überflüssig – weil ja nun das Proletariat selbst die Macht hat und es somit keine ausgebeutete Klasse mehr gibt – und „stirbt ab“. Denn „[a]n die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen“, wofür seiner Ansicht nach offenbar kein Staat benötigt wird (ebd., 223 f.). Der Weg über den zunehmend monopolisierten Kapitalismus zum Staatssozialismus und von da weiter zur staaten- und klassenlosen Gesellschaft war für Engels so schon vorgezeichnet.
Auch Marx teilte diese Erwartung – im Kapital, Band 1, macht er, wenn auch in knapperer Form, ganz ähnliche Ausführungen (MEW 23, 790 f.). Zu beachten ist, dass Marx und Engels diese erwarteten Veränderungen nicht als Automatismus ansehen, der sich quasi unabhängig vom Willen der Menschen vollziehen wird. Stattdessen erwarteten sie, dass die veränderte gesellschaftliche Situation die Wünsche und Ansprüche der Menschen selbst so beeinflussen würde, dass diese die weiteren Veränderungen bis hin zum Staatssozialismus und darüber hinaus selbst einfordern und durchsetzen würden. So schreibt Marx: „Mit der [zunehmenden Konzentration] wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse,“ bis diese schließlich die Nase voll hat. Dann wird die „kapitalistische[] Hülle“ des Produktionsprozesses „gesprengt“ und die großkapitalistischen „Expropriateurs werden expropriiert“ (ebd.).
Auch wenn primär das „gesellschaftliche[] Sein“ der Menschen „ihr Bewußtsein bestimmt“, wie Marx anderswo geschrieben hatte (MEW 13, 9), ist dies doch keine Einbahnstraße: vielmehr erzwingen Veränderungen im Bewusstsein wiederum Veränderungen im Sein.
Aus heutiger Sicht sind so viele Fehler in diesen Erwartungen von Marx und Engels zu erkennen, dass sie so vermutlich niemand mehr vertritt. Um nur ein paar Probleme in Form von Fragen anzureißen: Gibt es wirklich in allen Branchen eine so starke Tendenz zu Konzentration und Monopolbildung, oder nur in einigen? Wenn es diese Tendenzen wirklich gibt und zwar so stark, dass sie dem Kapitalismus selbst gefährlich werden könnten, können die Staaten dem durch Anti-Trust-Gesetze nicht entgegenwirken (wie sie es ab Ende des 19. Jahrhunderts dann ja auch taten)? Wenn in einem Land erst einmal der Staatssozialismus herrscht, wird das dann wirklich zum Überflüssigwerden und Absterben des Staates führen (die Erfahrungen aus der Sowjetunion und den Ostblockländern deuten eher in eine andere Richtung)?
Oder werden uns die Maschinen retten?
Diese spezifische materialistische Erwartung – qua Konzentration und Zentralisation erst zum Staatssozialismus und von da zum staatenlosen Kommunismus – kann heute aufgrund dieser offensichtlichen Probleme wohl als obsolet und widerlegt gelten. Beliebter und verbreiterer ist hingegen ein anderer mutmaßlich ebenso zwingender Weg vom Kapitalismus in den Kommunismus, der sich auf andere – erst posthum veröffentlichte – Überlegungen von Marx stützt. Gemeint ist das kurze „Maschinenfragment“ (MEW 42, 590–609) aus dem von Marx 1857/58 verfassten Manuskript Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie – ein Vorentwurf zum Kapital, der erst um 1940 veröffentlicht wurde. Marx argumentiert hier, dass mit Voranschreiten der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung materielle Produktionsmittel – Maschinen aller Art – und Wissen im Produktionsprozess zunehmend an Bedeutung gewinnen, während die lebendige Arbeit immer mehr zurückgedrängt wird.
Deshalb erwartet er, dass sich der Kapitalismus aufgrund seiner fortschreitenden Produktivkraftentwicklung zwangsläufig seine eigene Grundlage entzieht – die menschliche Arbeit: „Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein […] bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift.“ Damit verwandelt sich die kapitalistische, auf der Ausbeutung von „Surplusarbeit“ basierende Gesellschaft scheinbar zwangsläufig in eine, die die noch verbleibende „notwendige[] Arbeit […] zu einem Minimum,“ reduziert, um so der „freie[n] Entwicklung der Individualitäten“ vollen Raum zu geben und ihre „künstlerische, wissenschaftliche etc.“ Entfaltung zu ermöglichen (ebd., 601). Nicht „mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time“, also die Freizeit bzw. frei verfügbare Zeit wird dann zum „Maß des Reichtums“ (ebd., 604).
Marx sieht in diesem Fragment diese Entwicklung als zwangsläufiges Ergebnis des im kapitalistischen Verwertungsprozesses selbst angelegten „Widerspruch[s]“, wonach dieser einerseits „die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während e[r] andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt“ (ebd., 601). Der Kommunismus (oder wie immer man die postkapitalistische Gesellschaft nennen will) kommt auch in diesem Ansatz zwangsläufig, allerdings aus anderen Gründen als in den von Marx und Engels veröffentlichten Werken.
Ab den 1990er Jahren, d.h. seit dem weitgehenden Ende des real existierenden Staatssozialismus, hat diese alternative materialistische Perspektive eine weite Verbreitung gefunden. Zahlreiche Bücher bauen auf diesem Ansatz auf – von in den 1990ern erschienen Werken wie Robert Kurz, Der Kollaps der Modernisierung (1991), Jeremy Rifkin, Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft (1995), André Gorz, Arbeit zwischen Misere und Utopie (1999, franz. Original 1997) bis hin zu solchen, die im letzten Jahrzehnt erschienen, etwa Ernst Lohoff und Norbert Trenkle, Die große Entwertung (2012), erneut Rifkin, Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft (2014), Paul Mason, Postkapitalismus (2016, engl. Orig. 2015), Nick Srnicek und Alex Williams, Die Zukunft erfinden (2016, Orig. 2015) sowie Aaron Bastani, Fully Automated Luxury Communism (2019).
Ich habe früher selbst auf Basis entsprechender Überlegungen argumentiert, etwa in Produzieren ohne Geld und Zwang (2011) – wobei ich die Transformation hin zum „Commonismus“ allerdings immer nur als Möglichkeit sah, nicht als zwangsläufige Notwendigkeit. Später allerdings sind mir grundsätzliche Zweifel daran gekommen, ob sich der Kapitalismus durch die zweifellos immer mehr zunehmende Automatisierung wirklich den Boden unter den eigenen Füßen wegzieht – auch weil sich empirisch kein klares „Ende der Arbeit“ oder „Schrumpfen der Arbeitsmenge“ feststellen lässt und weil sich Marx’ Überlegungen als wenig fundiert erweisen, wenn man versucht sie mathematisch-logisch zu überprüfen. Für Details sei auf Dank Produktivkraftentwicklung zur neuen Gesellschaft?, Geht dem Kapitalismus die Arbeit aus? und Produktivkraft als Versprechen verweisen.
Was bleibt vom historischen Materialismus?
Wenn nun weder die These von der zunehmenden Konzentration noch die von der zunehmenden Automatisierung eine plausible Begründung für einen zwangsläufig kommenden Selbstmord des Kapitalismus darstellt, was bleibt dann noch? Ist die „materialistische Geschichtsauffassung“, wonach „die kapitalistische Produktionsweise […] die Notwendigkeit ihres Untergangs“ schon in sich trägt (Engels, wie oben zitiert) damit krachend gescheitert? Dass das manche so sehen, sieht man unter anderem an einer in den letzten Jahren zunehmenden Renaissance der von Engels kritisierten „Utopisten“ (und Utopistinnen). Diese setzen für die erhoffte Gesellschaftsveränderung nicht auf die zwangsläufigen Konsequenzen von sich im Kapitalismus notwendigerweise vollziehenden Prozessen, sondern auf die Anziehungskraft der von ihnen entworfen Utopie. Damit handeln sie sich allerdings wiederum die Probleme ein, die Engels schon kritisiert hatte, als er diesen Ansatz für veraltet erklärte.
Was an der materialistischen Perspektive auf jeden Fall bewahrenswert bleibt, ist die Prozessorientierung – die Frage nach dem Prozess, der von dieser in eine andere Gesellschaft führen wird. Dieser Prozess hat einen bestimmten Anfang und einen bestimmten Verlauf, und sein (vorläufiger) Endpunkt – die andere Gesellschaft – wird durch diese Voraussetzungen selbstverständlich geprägt sein. Die Utopist:innen fangen hingegen hinten an: Sie entwerfen (oder skizzieren) zuerst die Traum- oder Idealgesellschaft, um sich danach zu fragen, wie die Menschheit von hier nach da kommen kann. Dass das nicht gutgehen kann, ist eigentlich naheliegend – es ist wie beim Bau eines Hauses mit dem Dach beginnen zu wollen – doch ich werde im nächsten Artikel noch mehr auf die Probleme eingehen, die der utopische Ansatz mit sich bringt.
Zunächst ist festzuhalten, dass der materialistische Ansatz zwar in seinen konkreten Ausprägungen gescheitert ist: Konzentrationsprozesse haben nicht zu einem Ende des Kapitalismus geführt, und es ist absehbar, dass die zunehmende Automatisierung das auch nicht tun wird. Das heißt aber nicht, dass die Frage: „Was tut der Kapitalismus, um sich selbst (unfreiwillig) zu zerstören?“ zwangsläufig falsch ist – falsch sind nur die typischerweise gegebenen Antworten. Inzwischen, wo der – nicht nur allgemein menschengemachte, sondern in erster Linie vom und im Kapitalismus gemachte – Klimawandel nicht nur in aller Munde ist, sondern in seinen Konsequenzen auch immer spürbarer wird, muss man die Frage stellen: Werden es am Ende die Destruktivkräfte des Kapitalismus sein, die ihn zu Grabe tragen – die zerstörerische Seite seiner Produktivkraftentwicklung?
Sollte dem so sein, kann das für die künftige Gesellschaft natürlich nicht ohne Folgen bleiben: Der Kapitalismus wird nicht sang- und klanglos untergehen, ohne Spuren zu hinterlassen, sondern die Veränderung der Erdatmosphäre hat langfristige Auswirkungen, die wahrscheinlich noch in Zehntausenden von Jahren – mindestens aber in den kommenden Jahrhunderten – spürbar sein werden. Jede Utopie, die die Folgen des Klimawandels ignoriert oder so tut, als ob sie in ihrer Traumgesellschaft magischerweise keine oder fast keine Rolle mehr spielen würden – und das sind die meisten – kann heute schon deswegen keinerlei Relevanz mehr besitzen. Sie beschreibt, wenn sie so aussieht, nicht mal eine unwahrscheinliche Möglichkeit, sondern eine Unmöglichkeit.
[Fortsetzung: Utopiekritik, Utopistik und die Probleme des „Modells Zukunftswerkstatt“]
Lieber Christian,
die von dir als „materialistische“ und als „idealistische Perspektive“ bezeichneten Varianten, aus dem Kapitalismus herauszudenken, trennen sich m.E. nicht so, dass Marx eine Zwangsläufigkeit angenommen hätte. Du korrigierst dich ja später auch selber in diese Richtung, wenn du von einer „veränderten gesellschaftlichen Situation“ sprichst, die die Menschen selbst zu weiteren Veränderungen treiben. Dazu ist Marx‘ Hoffen auf die aktive, klassenbewusste Arbeiterbewegung viel zu ausgeprägt. Die Adjektive materialistisch/ idealistisch passen nicht so recht. Mit ökonomisch/ objektivistisch versus voluntaristisch/ subjektivistisch wäre das wohl besser umschrieben.
Du gehst dann gleich noch einen Schritt weiter und verkürzt den Materialismus auf den „historischen Materialismus“, wobei Marx den letzten Begriff m.W. nie verwendet hat. Ich habe Engels Text nicht zusammenhängend gelesen, aber ich meine, dass Engels darin den Begriff „historischer Materialismus“ nicht verwendet (- oder doch? Wo?).
Natürlich war die sozialistische Bewegung – das ist Thema von Engels‘ Betrachtung – 1880 weiter als 1830. Robert Owen wird von Engels ausdrücklich gelobt (das findet man auch heraus, ohne den ganzen Text zu lesen) und er wird keineswegs, wie du es behauptest, als unreifer Phantast dargestellt: „Alle gesellschaftlichen Bewegungen, alle wirklichen Fortschritte, die in England im Interesse der Arbeiter zustande gekommen, knüpfen sich an den Namen Owen“ (Engels, 200).
Beiläufig benutzt du den Begriff der „Utopistik“. Dadurch entsteht der Eindruck das Wort stamme von Engels. Der Begriff „Utopistik“ kommt in Engels‘ Schrift nicht vor (ich habe ihn jedenfalls nicht dort gefunden. Kläre mich auf. Wo?).
Dagegen erhebt Immanuel Wallerstein in seinem Büchlein „Utopistik“ den Anspruch, das Wort als Ersatzbegriff erfunden zu haben: „Utopistik ist eine ernsthafte Einschätzung historischer Alternativen, die Anwendung unseres Urteilsvermögens in Bezug auf das, was Max Weber die ‚materiale Rationalität‘ möglicher historischer System nennt“ (Wallerstein, 8). Es gehe – so Wallerstein – nicht um eine perfekte und unvermeidliche Zukunft, sondern darum, „wie eine alternative, glaubhaft bessere und historisch mögliche (aber alles andere als sichere) Zukunft aussieht“ (ebd.). Auf von dir angesprochenen Kontext „nur wenige Menschen versuchen über den Kapitalismus hinauszudenken“ geht Wallerstein doch ganz ausgezeichnet ein. Utopistik und kritisch-utopisches Denken gut eine materialistische Basis haben. Ich meine, dass dieses Denken mit deiner Vom-Dach-her-ein-Haus-bauen-wollen-Metapher überhaupt nichts zu tun hat. An anderer Stelle – im Zusammenhang von Bilderverbot und Bilderaffirmation – wird darauf hingewiesen, dass auspinseln zwar nicht angesagt ist, denken aber sehr wohl.
Nach Friederike Habermann stellen unser Kopf, unser Denken und unsere Gewohnheit das größte Hindernis für ein anderes Wirtschaften dar. „Heute ist es einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus“ (Ecommony, 9 f; unter Bezug auf Frederic Jameson). Die von dir benannten aus den Produktivkräften herauswachsenden Destruktivkräfte trügen nicht nur den Kapitalismus zu Grabe, sondern weiterreichende Konsequenzen. Darauf, dass diese Dystopie die schlimmste Variante darstellt, können wir uns sicher verständigen. („Jede Utopie, die die Folgen des Klimawandels ignoriert, kann heute schon keinerlei Relevanz mehr besitzen“, schreibst du zu recht.)
Abschließend ein Zitat Rosdolskys von 1957: „Es sind mehr als 100 Jahre verstrichen, seit Marx seine ökonomischen Lehren niederzuschreiben anfing. Eine sehr geraume Zeitspanne, besonders, wenn man die gewaltigen Veränderungen, die die Welt seither erfuhr, ins Auge fasst! Es wäre geradezu ein Wunder, wenn alle Lehrsätze von Marx heute noch ihre volle Gültigkeit behielten, wenn keiner von ihnen durch die spätere Entwicklung hinfällig geworden wäre. Als Ganzes betrachtet, hat das ökonomische System von Marx die Probe der Geschichte bestanden“ (Streifzüge 70/2017). Ob man das auf Engels‘ Text beziehen kann – der wäre dann für die heutige Diskussion nicht so wichtig -, kannst du am besten beurteilen.
Hallo Wilfried, danke für deine Anmerkungen.
Ja, du hast wahrscheinlich recht, dass es besser ist, nur von „materialistischer Perspektive“ bzw. (wie Engels es tut) von „materialistischer Geschichtsauffassung“ zu sprechen und den Begriff „historischer Materialismus“ zu vermeiden. Wobei letzterer Begriff auch schon von Engels verwendet wurde. 1880 zwar noch nicht, aber 1892 schreibt er in seiner Einleitung zur englischen Ausgabe der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“: „Diese Schrift vertritt das, was wir den ‚historischen Materialismus‘ nennen“ (MEW 19, 527).
Was Owen begrifft, beziehen sich Engels Bemerkungen über „unreife Theorien“ und „reine Phantasterei“ (194) schon ganz explizit auch auf ihn. Zu dem Lob, das du zitierst, führt er weiter aus, dass Owen etwa „das erste Gesetz zur Beschränkung der Weiber- und Kinderarbeit in den Fabriken“ durchgesetzt hätte (200) – sprich ein konkretes Reformprojekt statt eines utopischen Entwurfs.
Nein, deshalb verwende ich ihn ja auch ohne Anführungszeichen – ich hätte an der Stellen auch „Utopismus“, „Utopiemacherei“ o.ä. schreiben können. Engels spricht von den „Utopisten“. Danke für den Hinweis auf Wallersteins Buch, das werde ich mir für den nächsten Teil (wo es um die Utopien gehen wird) jedenfalls noch angucken.
Das ist leider so und ich fürchte, so wird es auch kommen. Wobei das nicht zwangsläufig heißt, dass sich die Konsequenzen der Destruktivkräfte mit voller Macht entfalten werden. Menschliches Handeln, motiviert durch die Umstände in denen die Menschen sich vorfinden, spielt ja in der materialistischen Perspektive auch eine wesentliche Rolle, wie oben erwähnt. Es ist also denkbar, dass die Menschen noch mehr oder weniger rechtzeitig das Ruder herumreißen und den Kapitalismus durch eine andere Produktionsweise ersetzen, weil ihnen klar wird, dass nur so eine lebenswerte Zukunft für die Menschheit möglich bleibt – dann aber eben nicht, weil sie irgendeine Utopie so bestechend finden, sondern aus dem zwingenden Wunsch heraus, das Schlimmste zu verhindern.
Bei Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution steht auf S.95, dass Adorno 1964 in einem Gespräch mit Bloch die Kritik an der Utopiefeindlichkeit zuspitzte. Nicht umgekehrt! Bloch analysierte den Effekt des Bilderverbots, wofür Adorno ja eigentlich steht, als eine fetischförmige Verkehrung von Mittel und Zweck der Emanzipation. Ich glaube, dass der von Stefan und Simon das sehr fein aufnimmt.
Die konsequent utopiefeindliche Theorie des Sozialismus tendiere zur Beherrschung der Menschen, sagt Adorno nun. „Bloch unterstützte Adornos Position, indem er den Zeitkern der Marx’schen Kritik des utopischen Sozialismus herausarbeitete, die sich in erster Linie gegen die ‚Überschätzung des Intellektualismus der Menschen’ gerichtet habe, gegen die Annahme also, ‚dass man den Reichen nur ins Gewissen reden muss’. Marx’ polemische Position sei jedoch vom orthodoxen Marxismus unter veränderten historischen Bedingungen transistorisiert und somit verdinglicht worden (Bloch 1979, 364f.)“ (Adamczak, 95).
Ich habe mit Engels-Texten manchmal das Problem, dass Engels u.a. mit Begriffen wie „historischer Materialismus“ diese Orthodoxie eingeleitet hat. Bei der von dir zitierten Schrift wird m.W. darauf verwiesen, wie sehr verbreitet auch in viele andere Sprachen der Text war. Es geht offensichtlich um Popularisierungen.
Mit der in meinem letzten Kommentar angezielten Unterscheidung des esoterischen vom exoterischen Marx (um Engels geht es da gar nicht) würde ich nicht so viel auf diesen Engels Text geben. Ich halte diese Diskussion über Materialismus und Idealismus für einen Popanz.
„Materialistische Ansätze haben gemeinsam, dass sie den Kapitalismus als
seinen eigenen Totengräber ansehen – er kann gar nicht anders, als durch
sein Operieren gemäß seiner eigenen Logik an einen Punkt zu kommen, wo
er kollabiert“ Ich glaube, das stimmt nicht. Materialistische Ansätze können auch davon ausgehen, dass es das sich entwickelnde Kräfteverhältnis ist (das auch als materiell angesehen wird, insofern es als außerhalb und unabhängig vom einzelnen Bewußtsein existiert), welches die weitere Entwicklung bestimmt. Ansonsten: zum „Historischen Materialismus“, egal ob M und E das selbst schon so genannt hatten, gehört viel mehr als die von Dir skizzierte Überlegung (und auch diese wirklich nicht immer so stark deterministisch). In meinem Verweis auf Godelier habe ich einiges davon noch mal „aufbewahrt“: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2020/12/17/pv-pk-und-pw/„Jenseits der genannten Gemeinsamkeit unterscheiden sich materialistische Ansätze aber dadurch, welche genaue Ursache und welchen Wirkmechanismus sie als Auslöser für den Untergang des Kapitalismus ansehen“ Das klingt sehr mechanizistisch. Tatsächlich ging und geht es eher darum, Bedingungen zu diskutieren (nicht vollständig determinierende Bestimmungen).
@Annette Danke für die Ergänzung. Ich hätte wohl eher schreiben sollen: „diese weitverbreiteten materialistische Ansätze haben gemeinsam …“. Dass es stärker differenzierende materialistische Ansätze gibt, will ich nicht bestreiten, und ich betone ja selbst, worin ich auch Stärken des Materialismus sehe.
Wobei ich in deinen Texten zu Godelier wenig dazu finde, wie er sich denn das Ende des Kapitalismus bzw. den Weg aus diesem heraus vorgestellt hatte? In Ideelles in der Gesellschaft schreibst du, dass „ideelle Vorstellungen“ unabdingbare Voraussetzungen einer neuen Gesellschaft sind, und zitierst Godelier wie folgt: „Das Denken hat daher immer etwas an sich, was die historische Situation und ihre materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen überschreitet.“ Das klingt ja erstmal wenig wie das, was man für gewöhnlich mit „Materialismus“ verbinden würde.
Hi Christian,
du schreibst:
Mir fehlt da der Verweis auf die „Finanzialisierung des Kapitalismus“, also der Tatsache, dass mit steigender Produktivität auch die privaten wie öffentlichen Schulden und der Derivate-Markt (über)proportional mitwachsen. Sprich: Nur durch die permanente Kreditvergabe und dem Schaffen von Fiat-Money wird artifiziell ein Wirtschaftswachstum „induziert“ (s. Lohof/Trenkle 2012).
Dass somit das Arbeitsvolumen auch weiter wächst, macht für mich ebenfalls Sinn – mit immer größeren Schuldenbergen und Produktivität wird der Effekt der Rationalisierungen im Produktionsprozess überkompensiert. Das Geld, mit dem aktuell das Wirtschafsleben erzeugt wird, hat de facto keinen Gegenwert mehr, auf jeden Fall ist es sehr viel weniger wert als die offiziellen Stellen verlautbaren.
R. Kurz schreibt ja, dass der Kapitalismus entweder an seiner inneren oder äußeren Schranke zerbrechen wird. Die Äußere manifestiert sich aktuell in der Klimakrise und den immer sichtbarer werdenden Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Die innere Schranke wird NOCH durch die sich immer weiter aufblähenden Schuldenblasen abgefangen. Letztere ist weniger offensichtlich für das bürgerliche Auge, da es sich hinter allerei technischen Fachbegriffen und Pseudo-ökonomischen Erklärungen versteckt.
Meine Befürchtung / Prognose: In mittelnaher Zukunft wird eine kritische Masse an Unternehmen in Zahlungsschwierigkeiten kommen, weil sie ihren Schulddienst nicht mehr realisieren können. Das wird dann auch die Banken mit sich reißen, am Ende haben wir die gleiche Situation wie 2007/2008. Ich weiß nicht, wie lange wir noch mit Benzin das Feuer löschen können, vllt täusche ich mich auch. Aber die Corona-Krise hat schon einen starken Schub in diese Richtung „geleistet“ und es würde mich wundern, wenn wir nicht in den nächsten Monaten / Jahren die Auswirkungen zu spürgen bekämen. (Trenkle schreibt dazu in „Shutdown“ ganz treffend von einem Tsunami-Ereignis: Das Erdbeben war die Corona-Krise, aber die wirklich verheerenden Wellen kommen erst noch bei uns an).
Last but not least: Im Übrigen kann man es mathematisch schon nachweisen, dass irgendwann mal „das Ende der Fahnenstange“ erreicht ist. Spätestens wenn der Warenwert durch die steigende Produktivität derartig „verwässert“ wurde, dass er gegen Null tendiert, wird es einfach unmöglich für die Kapitalie sein, profitable zu wirtschaften. Außerdem hat sich das Kapital mittlerweile auch weltweit durchgesetzt, ein zweites China (z.B in Afrika oder Südamerika) sehe ich nicht mehr kommen, sprich: es gibt auch keine Märkte mehr zu erobern.
Aber Danke für den erhellenden Text – wie immer sehr gut geschrieben!!!
@Luz:
Ja, das mit der äußeren Schranke sehe ich auch so und denke auch, dass der Kapitalismus letztlich daran zugrunde gehen wird – nur tragisch, dass er dabei die ganze Welt mit in den Abgrund reißt. Eine genuine innere Schranke sehe ich hingegen nicht, damit habe ich mich etwa in meinem Prokla-Artikel Produktivkraft als Versprechen und in Die Arbeit und der fiktive Tropf detailliert auseinandergesetzt – insofern wäre das dann auch eher dort zu diskutieren.
Also klar, es gibt jede Menge Bruchstellen, wo es gewaltig knirschen und zu Problemen kommen kann. Wie sich die Corona-Pandemie mittelfristig auf die Wirtschaft auswirken wird, wird man sehen. Bislang läuft es für die Firmen sehr viel runder als für die Menschen, natürlich auch, weil die Industriestaaten da so viel Geld in die Hand genommen haben, um die Krise abzuwenden. Sicherlich wird es in manchen Branchen noch eine Pleitewelle geben, wenn Übergangshilfen und -regelungen auslaufen, aber nach einer Wiederholung von 2007/2008 sieht es für mich derzeit nicht aus.
Und natürlich kann darf man nicht vergessen, dass Wirtschaftskrisen für den Kapitalismus keine „Schranke“ sind, sondern Teil seines normalen Funktionierens. Auch 2007/2008 würde ich da erstmal nicht als Ausnahme sehen, auch wenn es die schwerste Krise seit vielen Jahrzehnten war.
Nein, kann man nicht, und da stecken völlig falsche Vorstellungen von Produktivitätssteigerungen dahinter. Einmal finden diese in etablierteren Branchen oft kaum noch statt – in der Baubrauche, beim Handwerk, im Verlagswesen etwa habe ich von Produktivitätssteigerungen nicht viel mitbekommen – und zum anderen bedeutet sie auch nicht unbedingt billigere, sondern tendenziell eher bessere Produkte. High-End-Smartphones sind heute nicht viel billiger als vor 10 Jahren; Billig-Handys gibt es, aber sie befriedigen nicht die gleichen Bedürfnisse.