Reflexionen über Unerzogenes und Unverdientes
Am langen Wochenende 20. bis 22. April trafen sich zwei unterschiedliche und doch verwandte Gruppen. unerzogen.de berichtet und diskutiert über Nicht-Erziehung. Grundlage ist die Überzeugung, dass Erziehung eine nicht akzeptable Form der Beziehung zwischen Menschen darstellt. unverdient.de hat die Geldlogik auf dem Kieker, die wirklich menschliche Beziehungen nicht zulässt und deswegen abgeschafft gehört.
Sehr sympatisch das alles — zunächst mal:)
Aber…
Durch ein bloßes »un« vor dem Erziehen oder Verdienen ist nicht geklärt, was das jeweils inhaltlich bedeutet und was denn die Alternative ist. In beiden Bereichen, der Erziehung und der Geldlogik, gibt es zahlreiche Vorläufer alternativer Ansätze (antiautoritäre Erziehung, Kommunen etc.), die versucht haben, die Auswüchse von Erziehung oder Geldlogik anzugehen — etwa Erziehung nicht autoritär zu praktizieren oder die Geldlogik fair zu vollziehen. Aber das, so die Erfahrung, hilft uns nicht wirklich weiter. Also: Erziehung abschaffen und Geldlogik abschaffen? Nur eins von beidem oder beides? Und das reicht?
Beobachtungen
Zunächst ein Blick in die Praxis. Am Wochenende waren fast so viele Kinder wie Erwachsene dabei. Da wir uns untereinander nicht alle kannten, waren zunächst mal die Kinder meistens jeweils auf »ihre Erwachsenen« bezogen und umgekehrt. Uneinander war das für die Kinder hingegen kein großes Thema. So blieb jedoch das »Kinderkümmern« Familiensache. Das führte dazu, dass es nur selten zu gemeinsamen und kontinuierlichen Gesprächen kam, weil immer wieder der Eine oder die Andere »wegspringen« musste. Es hatte sich einfach keine gemeinsame Aufmerksamkeit um die Kinderaktivitäten ausgebildet, und es gab auch keine Absprachen darum — was vielleicht innerhalb von zwei Tagen auch nicht zu erwarten war.
Neben der Aufmerksamkeit für die Kinder war auch die Aufmerksamkeit der Kinder selbst gegenüber Anderen und Anderem sehr unterschiedlich ausprägt. Einzelne Kinder waren sehr aufmerksam, wach und kommunikativ zugänglich, andere waren dies nicht. Das hatte zur Folge, dass so manches an Dingen und Menschen unter die Räder bzw. Beine kam. Ich selbst hatte einige Male damit zu tun, ein Baby vor anderen Kindern zu schützen. Hat das was mit Erziehung oder Nicht-Erziehung zu tun? Das ist wohl etwas schlicht gefragt. Hier ist es zunächst mal nur eine Beobachtung.
Eine weitere Beobachtung, die ich beim Treffen auch mehrfach ansprach, war die Tendenz, beide Themen als gleichsam bloß individuelle Aufgabe zu diskutieren: »Ich habe mich entschieden, nicht mehr zu erziehen« — »Wir in der Familie machen das so und so« — »Ich versuche der Geldlogik so und so zu entgehen« Etc. Weder Nicht-/Erziehung noch die Geldlogik sind jedoch Fragen, die bloß individuell »gelöst« werden können. Während diese Überlegung bei der gesamtgesellschaftlichen Geldlogik vielleicht noch unmittelbar einleuchtet, ist das bei der Nicht-/Erziehung nicht so klar. So postulierten einige Nicht-Erziehung als den goldenen Weg zu einer Freien Gesellschaft. Woher kommt diese Überlegung?
Der Schein vom Klein-Klein
Scheinbar kann sich die Kleinfamilie innerhalb ihres relativ geschlossenen Raumes eigenständig zu einer Erziehungsart oder eben Nicht-Erziehung entscheiden. Dieser Schein wird durch die möglichen Widerstände der Umgebung (Bekannte, Freunde, Schule, Institutionen etc.) eher noch befördert, weil diese als »Gegner« der eigenverantworteten Entscheidung auftreten. Diese haben es dann »nicht begriffen«, »sind sowieso dagegen« — und andere Formen der Selbstimmunisierung. Ich meine das nicht denunziatorisch, denn ich finde es völlig legitim und oft auch notwendig, etwas gegen die »allgemeinen Vorstellungen« der Umgebung durchzusetzen.
Was damit jedoch aus meiner Sicht fehlt, ist der bewusste soziale Bezug zu Anderen, mit denen die »unerzogenen« Kinder früher oder später konfrontiert sind. Also nicht bloß der Schutz und die Unterstützung der eigenen Kinder gegen die, die »es« noch nicht begriffen haben, sondern eine aktive Gestaltung der sozialen Beziehungen zu Anderen, die andere Bedürfnisse und Verhaltensweisen haben. Doch auch das reicht noch nicht aus: Es geht nicht nur um das unmittelbar soziale Umfeld, sondern perspektivisch um die Teilhabe an der gesellschaftlichen Produktion unserer Lebensbedingungen. Und spätestens die gesellschaftlichen Strukturen stehen der freien Entfaltung, die ja ein Ziel der Nicht-Erziehung ist, entgegen. Paradoxerweise erscheint hier die Erziehung, die disziplinarisch die Kinder fit machen will für die Gesellschaft als die adäquatere Form — so sehr auch die gesellschaftlichen Strukturen in ihrer kapitalistischen Verfassung abzulehnen sind.
Wie kann nun aber Nicht-Erziehung die Kinder dafür »fit machen«, in einer strukturell repressiven und entfremdenden Gesellschaft ihren vielleicht gar widerständigen Platz zu finden? Wie soll das gehen, wenn doch eine »Erziehung zu« ausgeschlossen werden sein soll, weil diese genau jener Repressivität entspricht, die sie ablehnt? Es gibt hier nur eine Möglichkeit: Die erwachsenen Menschen müssen glaubhaft und redlich (ein netter altmodischer Begriff) selbst ihre Individualität unter den gegebenen Bedingungen entfalten und den dabei auftretenden Widersprüchen nicht ausweichen, sondern sich ihnen stellen. Denn nur durch das »Vormachen«, durch das glaubwürdige Vorleben ist die Alternative lebenspraktisch vorzuschlagen, nicht durch »Erziehung-zu« und auch nicht durch »Nicht-Erziehung als solcher«.
Um es also zuzuspitzen: Nicht-Erziehung ist keine Angelegenheit, die ich mit anderen (nicht) tue, sondern es ist zu allererst eine Sache von mir selbst. Und auch hier treten die gleichen Konflikte auf: Es ist auch mir selbst gegenüber nicht glaubwürdig, mich auf der einen Seite zu »Nicht-Erziehung« anzuhalten (sozusagen zu erziehen) und auf anderen Seiten, etwa im Beruf, repressive und unsoziale Strukturen unhinterfragt zu reproduzieren. Denn wenn eines Kinder in jedem Fall können, dann ist es, genau das zu spüren. Dieses »mit sich selbst nicht im Reinen« zu sein, selbst völlig unbewusst Strukturen zu reproduzieren, von denen man meint, sie im familialen Schutzraum abschaffen zu können, ist die Unlogik, die irgendwann zurückschlägt. — Das ist meine Erfahrung.
Appellationen
Nun gebe ich zu, dass diese Überlegungen nicht einfach zu verstehen sind. In einer Diskussion mit vielen Worten meinerseits (siehe dazu auch das Bild unten) wurde ich aufgefordert, doch mal einen Vorschlag in Form von »Appellen« zu formulieren. Puh, das mal eben aus dem Ärmel. Ok, ich habe es ad hoc nur auf drei »Appelle« eingedampft bekommen, und die lauten so:
Beantworte dir die Frage,
- in welcher Gesellschaft du leben möchtest und wie in dieser Gesellschaft die Produktion und Reproduktion unserer Lebensbedingungen organisiert wird (jenseits der Geldlogik);
- welchen Platz du in dieser Gesellschaft einnimmst und an welcher Stelle und in welcher Weise du an der Re-/Produktion teil hast (Selbstentfaltung unter Bedingungen der Entfaltung aller);
- wie du heute damit beginnen kannst und wie du glaubwürdig und redlich mit den Widersprüchen umgehst unter den Bedingungen, wo wir diese Gesellschaft nicht haben (Selbstentfaltung unter Bedingungen der Entfaltung weniger und Unterdrückung vieler).
Empörung löste meine (zugegeben provokative) Aussage aus, dass die Beantwortung dieser drei Fragen die Voraussetzung für Nicht-Erziehung sei. Das ist natürlich nicht so, denn erst gibt hier kein »erst-dann«. Nicht-Erziehung als Zurückweisung von Zumutungen und Übergriffen kann ein Zugang sein. Aber, und das meine ich schon ernst: Zugang bedeutet, dass ich langfristig nicht den weitergehenden Fragen ausweichen kann, will ich ehrlich Nicht-Erziehung umsetzen. Ich kann mit mir nicht anders verfahren als ich es mit Anderen tue. Widersprechen sich meine Haltung zur mir, zur Welt und zu den Kindern, so holt mich diese Inkonsequenz schnell ein.
Zum Kontrast wurde ein weiterer »Appell« vorgeschlagen, der vielleicht noch einfacher das Gleiche erreichen könne wie meine drei Appelle: »Erziehe dich und Andere nicht« (aus dem Gedächtnis, bitte korrigieren, wenn ich das falsch wiedergebe). Die nachvollziehbare Idee dahinter ist, dass sich kleine Menschen in einer nicht-erzieherischen Umgebung frei entfalten können und es dann später einmal »besser« machen werden. Und es ist auch mitgedacht, dass dies glaubwürdig nur dann geht, wenn ich zu allen Menschen ein nicht-erzieherisches Verhältnis an den Tag lege, einschließlich mir selbst. — Reicht das?
Radikalität
Das kann funktionieren, wenn ich selbst radikal bin. Mit »radikal« meine ich in seiner wörtlichen Übersetzung das »an die Wurzel gehen«, also nicht aufhören zu fragen, über den eigenen Tellerrand hinausblicken, bewusst soziale Gemeinschaften gestalten, die entfremdenden und repressiven gesellschaftlichen Strukturen erkennen und durch meine Praxis verändern, etwas Neues in die Welt setzen. Diese Radikalität vor allem mir selbst gegenüber erlebe ich höchst selten. Wenn ich die inzwischen doch reichlich vorhandenen im weiteren Sinne »nicht-erzieherischen« Texte lese, dann ist dort die gedankliche Entfernung vom eigenen Bauchnabel nicht sehr groß. So geht es nicht (lange gut), trotz bestem Wollen.
So, jetzt habe ich viel über Nicht-Erziehung geschrieben, und die Nicht-Geldlogik ist etwas hinten runter gefallen. Im Grunde gilt hier jedoch das Gleiche. Viele denken jedoch, dass man gerade hier nun gar nichts machen könne, weil das nunmal eine gesamtgesellschaftliche Frage sei [Ja, das ist Nicht-/Erziehung, radikal verstanden, aber auch]. Die Geldlogik kann ich individuell nicht abschaffen [Ja, die Erziehungslogik, radikal hinterfragt, auch nicht]. Außerdem erscheint Geld doch eher als etwas Neutrales und Naturales, mit dem man einfach umgehen kann [Genauso wie bei der Erziehung: ein trügerischer Schein]. Gut angewendet, kann Geld Nützliches tun [Erzählen uns das nicht auch die Erzieher?]. Usw. usf.
Wird nun verständlich, warum ich meine drei »Appelle« so aufgebaut habe? Ohne eine Vorstellung von meiner Rolle in einer Gesellschaft, die wir herstellen, ohne eine Vorstellung einer Gesellschaft, in der die individuelle Selbstentfaltung die Grundlage dieser »Herstellung« ist (und nicht die Verwertungs- und Geldlogik), und ohne eine Vorstellung davon, wie ich mit den alltäglichen Widersprüchen glaubwürdig umgehen kann in einer Gesellschaft, die heute das nicht unbeschränkt erlaubt, wenn es »sich nicht rechnet«, greift jeder bloß interaktive und unmittelbar kooperative Ansatz zu kurz. Aber es gibt gute Chancen, einmal individuell angefangen nicht stehen zu bleiben, sondern weiterzugehen. Radikal.
Bild anklicken zum Vergrößern…
Danke für den Bericht, sehr schön, wenn man schon nicht dabei sein kann.
Was mir jetzt grade auffällt: Du sagst zuerst, man kann diese Fragen nicht individuell oder (klein-)familiär (familial?) lösen. Dann kommt ziemlich viel Text und dann steht am Ende wieder ein Appell an individuelles Denken und Handeln. Irgendwas stimmt da nicht, oder?
Neben dieser generellen Irritation noch eine kurze Anmerkung zu:
Diejenigen unter den Nicht-Erziehern, die keine radikale Perspektive auf Gesellschaft haben, sagen ja gerade immer, dass es ihre Form des Umgangs mit Kindern sei, die diese fit mache auch für den alltäglichen Konkurrenzkampf (Das geht dann meist über die Schiene, Flexibilität, Kreativität, Informationsgesellschaft, usw, ich denke Du kannst Dir das vorstellen). Und es gibt sicherlich viele Erzieher die es gerade als ihre erzieherische Aufgabe ansehen, die Kinder erzieherisch vor den schlimmsten Auswüchsen des Kapitalismus zu schützen. Die Fronten sind also wohl etwas komplizierter.
Packende und IMHO sehr treffende Analyse. — Ich habe hier auch schon mal gesagt, dass dieses auch von dir betonte „fit machen“ nötig ist. Tatsächlich glaube ich, dass hier der Knackpunkt liegt: In der Familie oder einer Community Gleichgesinnter kann man immer eine bessere Gesellschaft simulieren.
M.E. muss man schon darauf achten, dass Kinder verstehen, dass etwa die Übertretung bestimmter Regeln in unserer Gesellschaft zu großen Problemen führt. Aber gleichzeitig sollte man auch betonen, dass manche dieser Regeln falsch sind und dass man sie aus guten Gründen brechen kann, ja brechen MUSS.
Anders ausgedrückt: Ich schicke mein Kind nicht in die Schule, weil ich die Schule für die optimale Lösung halte. Ich sage ihm sogar, dass ich das nicht tue. Aber ich mache ihm auch klar, dass es in die Schule gehen muss. Und wenn es nicht hingeht, muss ich mich drum kümmern und versuchen, es dazu zu bringen. Sonst verhalte ich mich verantwortungslos.
Es gibt auch noch einen anderen Aspekt: Falls ich mal Kinder habe, möchte ich, dass sie in der Lage sind, auch unter widrigen Umständen klarzukommen. (Und das heißt nicht, dass sie ihre Ellbogen benutzen müssen!) Sie sollen keine Topfpflanzen sein, die nur im Gewächshaus unter idealen Bedingungen überleben können. Ich habe solche Topfpflanzen kennengelernt, die IMHO das Ergebnis einer Nicht-Erziehung waren. Meinem Eindruck nach sind sie nicht sehr glücklich.
@Benni: Du schreibst
Man kann sie kleinfamilial nicht lösen, aber dennoch handle ich doch (auch) dort. Ich frage danach, wie ich denke und handle, mit welcher Perspektive (vgl. die drei Appelle) und mit welcher Bereitschaft, sich den realen Widersprüchen zu stellen (gerade weil ich im Kleinen keine Lösung finden kann).
Klar sind die Fronten nicht so eindeutig. Es gibt sicher auch Nicht-Erzieher, die die Vorstellung hegen, die Nicht-Erziehung mache die Kids fit für den Konkurrenzkampf. Geht das jedoch auf? Wenn meine These stimmt, dass das Vorbild den maßgeblichen Einfluss darstellt und dieses Vorbild ein — wie auch immer geschickt gestricktes — konkurrenzförmiges ist, dann steht das der Grundüberzeugung von Nicht-Erziehung entgegen, dass Kids „von sich aus“ zunächst nach kooperativen Wegen streben.
Ein anderes Szenario wäre, dass du dich im Binnenraum der Familie nicht konkurrenzförmig bewegst, aber doch dein Kind dazu bringen willst, sich auf Kosten anderer durchzusetzen. Wie soll das anders gehen als durch Erziehung oder eine subtile Form der indirekten Manipulation (etwa demonstrierte Erwartungen etc.), die sich als Nicht-Erziehung ausgibt?
Daraus folgt für mich: Nicht-Erziehung kann scheitern, und zwar u.U. mit heftigen Folgen für alle Beteiligten. Von solchen Scheiternsfälle wurde mir auch schon erzählt. Deswegen ja meine Kernbotschaft: Nicht-Erziehung „als solche“ reicht nicht, sie braucht eine soziale und gesellschaftliche Perspektive, die individuell glaubhaft (vor-) gelebt wird. Wenn ich nicht nach Selbstentfaltung strebe, werden es meine Kids wahrscheinlich auch nicht tun.
@Martin: Das sehe ich im wesentlichen genauso.
Was du beschreibst, habe ich versucht auch an dem Wochenende am Beispiel unserer Kids darzustellen. Mir war und ist wichtig, die Widersprüche und Zwänge zu benennen und zu besprechen, auf die die Kids in unserer Gesellschaft stoßen. Dazu gehören natürlich auch die Zwänge auf der Seite der Erwachsenen.
Wir haben häufiger darüber gesprochen, was Schulpflicht bedeutet, warum es das gibt, welche Konsequenzen nicht-zur-Schule-gehen hat für die Kids und die verantwortlichen Erwachsenen, welche Handlungsspielräume es gibt, wie bspw. ich früher damit umgegangen bin etc. — So haben sich die Kids dann grundsätzlich entschieden hinzugehen, auch wenn sie Schule häufig wirklich als Zumutung empfunden haben (und empfinden). Das war (und ist) dann fast tägliches Thema.
Als Nichtvater bin ich natürlich leicht unterqualifiziert, aber ich schau mir gerne an, wie meine KollegInnen, FreundInnen und Bekannte ihre Kinder erziehen. Wie bei anderen Nichteltern überwiegt bei mir das Gefühl des Genervtseins wenn ich Kinder und ihre Eltern um mich herum habe: ich finde es untragbar wenn Eltern ihre Kinder disziplinieren (direkt oder indirekt), aber auch wenn Eltern sich von ihren Kindern disziplinieren lassen. Bisher habe ich nur ein Kind gesehen, das ich sofort nach Hause mitgenommen hätte. Die (alleinerziehende) Mutter gefragt nach ihrer Erziehungsphilosophie, antwortete, es gebe für sie nur eine Regel, nämlich keine zu haben. Und das heisse für sie vor allem keine absoluten, abstrakten und theoretischen Prinzipien. Stattdessen klare und konkrete Regeln, die für alle Beteiligten funktionieren. „Rough consensus and running code“, musste ich dabei denken und das leuchtete mir sofort ein: lass das Kind mit Erwachsenenkram sich auseinandersetzen wenn es erwachsen ist. Leider muss ich sagen, dass mir das konsequente Nichterziehen in dieser Hinsicht auch wie ein dem Kindlein übergestülptes Erwachsenending vorkommt.
P.S.: Natürlich ist „erwachsen“ ein relativer Begriff. Ich hatte neulich mit einer 13-jährigen zu tun, die mir erwachsener vorkam als viele meiner AltersgenossInnen.
@Thomas: „Rough consensus and running code” ist sehr schön:-)
Meine Frage wäre, wie (konkrete) Regeln entstehen und wie daraus dann nicht abstrakte Regeln werden. Für das Entstehen von Regeln gibt es ziemlich viele Quellen. Die besten finde ich immer noch die gemeinsame Vereinbarung (etwa aus dem Wunsch gemeinsam zu essen sich zu einer bestimmten Zeit zu verabreden). Dann gibt es solche, die durch äußere Zwänge entstehen, aber m.E. immer auch einer Entscheidung bedürfen (etwa wg. der Schule zu einer bestimmten Zeit geweckt zu werden: mit gemeinsamen Frühstück etwas früher, ohne eben später). Wenn das immer so läuft, dann wird es zum Ritual. Ein Ritual würde ich von einer abstrakten Regel abheben. Ein Ritual ist eine für alle funktionierende Praxis (das „rough consensus…“), eine abstrakte Regel wäre eine praxisentbundene Regel (ganz blöd: „Das macht man so“). Rituale sind hinterfragbar und diskutierbar, wenn es nötig ist. Beim Thema Schule war das bei uns immer wieder nötig, ist halt oft eine schmerzhafte Angelegenheit. Und dann aber hebt sich ganz schnell die Trennung von „Erwachsenenkram“ und „Kinderkram“ auf.
Ich glaube, ich habe immer wieder die Kids mit „Erwachsenenkram“ behelligt;-)
Könntest du erläutern, was du mit „Nichterziehen … wie ein dem Kindlein übergestülptes Erwachsenending“ meinst? Ich hab da so eine Ahnung…
schade, dass du, stefan, nicht erwähnt hast, wieviel programm wir hinbekommen haben, obwohl an und für sich nichts fest geplant war.
2 filmvorführungen, ein qualitativ ausgesprochen hochwertiger vortrag zum thema „freie software-freie gesellschaft“ (stefan, andreas), ein vortrag „einführung in die unverdient thematik“ (uli) und soweit ich mich erinnere habe ich einen dritten vortrag von stefan gehört „einführung in die kritische psychologie“ – oder sollte ich das geträumt haben…? zudem gab es an die vorträge anschließende diskussionen, denen ich eher selten
beigewohnt habe 😉 . es gelang sogar kinderbetreuung, für einen 17monate
alten wirbelwind zu organisieren, dazu eine erziehungsfreie!, um den eltern die möglichkeit zu geben, die vorträge zu hören, die sie hören wollten. ein vater konnte das wochenende überwiegend seiner arbeit am pc nachgehen. und das alles, ohne dass es einen „anführer“ gegeben hätte…
für mich war das „freie menschen in freien vereinbarungen“ life.
nebenher haben wir auch noch selbst gekocht, tische gedeckt und abgeräumt, aufgeräumt. es gab eine abgewandelte schatzsuche für die kiddies. ein feuerchen und massig raum sich zu begegnen. es gab kaum aggressionen. weder unter den erwachsenen noch unter den kindern. ich selbst habe nur zwei heftige auseinandersetzungen zwischen kindern registriert. und bei erwachsenen gab es imo nur ein bischen zoff, wenn überzeugte erziehungsfreie mit erziehenden diskutierten.
ach ja und dabei ist mir ein massiver planungsfehler unterlaufen, weil ich überhaupt nicht daran dachte, dass es absolut notwendig ist für ein 17monate altes kind eine ja-umgebung zu schaffen, wenn die eltern etwas freiraum haben sollen.
für mich war es ein geniales wochenende. erziehungs- und weitgehend geldlogikfrei. erkenntnisreich, mit vielen schönen, tollen menschen von 10monaten bis ca. 60jahre.
Danke, Monika:-) Ja, das hab ich alles unterschlagen, und wahrscheinlich noch mehr. Ich habe nur laut gedacht, was mich bewegt hat. Deswegen auch „Reflexion“ und nicht „Bericht“. Dabei ist das Gedachte eigentlich nicht ohne das vielfältige Erlebte zu verstehen. So ist das mit den Gedankenformen, typisch (das meine ich nicht als Selbstvorwurf, sondern als Beobachtung: ich stehe ja dazu:-)).
Nunja, die Frage „Erziehen oder nicht Erziehen“, ist eine recht abstrakte. Das beginnt ja meistens mit der Reflexion auf das eigene Erzogenwordensein und bezieht sich weiterhin oftmals auf irgendeine implizite oder exlizite Annahme davon wie der Mensch ist oder sein soll („frei“, „glücklich“, „liebevoll“, …).
Nun sind Annahmen darüber wie der Mensch ist oder sein soll, ebenso wie andere Abstraktionen, nicht gerade die starke Seite von Kindern (ich lass mich da gerne eines anderen belehren), daher vermute ich dass das kategorische, also das auf Abstraktionen gegründete (Nicht-)Erziehen Erwachsenenkram ist.
Nicht Erwachsenenkram sind Regeln wenn sie „kontingent“ sind, d.h. wenn sie unter anderen Bedinungen bei anderen Beteiligten ganz anders ausfallen können. Ich vermute ja, dass diese kontingenten Abkommen ohnehin jegliche Art von Eltern-Kind Beziehung erst ermöglichen. Die Gretchenfrage ist nun natürlich, wie man hehre Prinzipien mit den kleinen Deals des Alltags, in dem man manchmal müde ist und genervt, in Einklang bringt.
Wie meiner besagten Bekannten scheinen mir die meisten absoluten Prinzipien in Kinder-Erwachenen Verhältnissen eher Schaden anzurichten als zu helfen. Und das würde dann für die allgemeine Schulpflicht genauso gelten wie für das wohlmeinende „ich erziehe mein Kind zur Selbstständigkeit“, weil beides auf einer Vorstellung davon wie der Mensch ist/sein soll fußt, die von dem je konkreten Kind nichts wissen will.
@Thomas: Du schreibst
Das könnte eine ganz interessante Diskussion ergeben, was denn Abstraktionen sind. IMHO kennen Kinder sehr wohl Abstraktionen im Sinne von „Absehungen“, ich denke sogar, sie kommen gar nicht anders durch die Welt. Anfangs sind das „emotionale Abstraktionen“, der kleine Mensch empfindet Welt und Menschen am Maßstab des eigenen Wohlbefindens und sieht von allen Differenzierungen ab. Nach und nach stehen dem Kind neue Möglichkeiten zur Verfügung, wodurch sich die Abstraktionen fortwährend ändern (was eingefleischte Erzieher auf die Palme treiben kann). Schließlich lernen sie auch jene Abstraktionen, die wir als „begriffliche Abstraktionen“ kennen.
Aus meiner Sicht greift „Erziehen“ massiv in diesen Entwicklungsprozess ein. Er versucht nämlich gültige Abstraktionen zu setzen und für das Kind verbindlich zu machen. Das Kind kann diesen entweder gar nicht folgen, weil es diese Abstraktionen nicht verstehen kann, oder es kann sie ablehnen, um die eigene Individualität gegen fremde Abstraktionen zu behaupten, oder es kann sie übernehmen. Alle Optionen finde ich schlecht, wobei die widerständige Haltung immer noch die sympatischste ist (die Oppositionshaltung der 68er speiste sich zu großen Teilen daraus; als die dann als Allesversteher und Luschilehrer selbst Erzieher waren, gabs keinen mehr, gegen den man noch richtig „in Opposition“ machen konnte).
„Nicht-Erziehen“ verstanden als „nichts tun“ lässt die Kinder in diesem Entwicklungsprozess allein, und das ist komplett fatal und abzulehnen. Nicht-Erziehen verstanden als Unterstützungs- und gemeinsamer Lernprozess hilft hingegen bei der notwendigen Auseinandersetzung mit Welt und Menschen. Deswegen ist der Begriff „Nicht-Erziehung“ auch einigermaßen unglücklich und mißverständlich. Er hört sich in der Tat nach abstrakter Negation von Erziehung an, obwohl das inhaltlich nicht gemeint ist.
Ganz genau. Hinzu kommt der Aspekt der Fremdbestimmung. Du kannst dir sicher vorstellen, was Klaus Holzkamp für Diskussionen auslöste, als er auf der Volksuni 1981 in seinem Vortrag „We don’t need no education…“ (in Anspielung an das Lied von Pink Floyd) erklärte, dass eine „Erziehung zum Frieden“ etc. genauso eine Entwicklungsbehinderung darstellt, wie jegliche Erziehung als Fremdbestimmung. Zentraler Satz: „Man kann nicht die eigene Selbstbestimmung erweitern, indem man von anderen gesteckte Ziele verfolgt“. Deswegen sei „Erziehung zur Selbstständigkeit“ ein Paradoxon.
Danke für diesen intimen Beitrag und für die nachträgliche Teilhabe an diesem interessanten Wochenende. Vor allem diesem Aspekt fand ich bedeutsam:
Und das fängt bei den eigenen möglichen Widersprüchen zwischen dem eigenen Denken (zu Hause, in freien Projekten) und in dem Verhalten in der „Gesellschaft“ (in Job, bei Freunden etc.) schon an.
@Stefan:
Genau, mir scheint, dass die enge Verknüpfung von Abstraktion und Autorität hier eine ihrer Wurzeln hat. Was muss ich mir immer den Mund fusselig reden um meinen Studis diese Ehrfurcht (die gerne auch mal in Trotz umschlägt) vor dem Abstrakten zu nehmen.
Es gibt ja immer eine dritte Option zusätzlich zu Widerstand und Übernahme, nämlich die Verhandlung. Und die führt uns wohl hier weiter, wenn wir nach Alternativen suchen.
Ich verstehe jetzt nicht ganz, wieso es gegen „Das Abstrakte“ als solches gehen soll. Ich zumindestens war erstaunt wie früh mein Sohn sehr abstrakte Konzepte benutzt hat. Schon seine ersten Worte waren sehr abstrakt. Natürlich sind das oft andere Abstraktionen als unter Erwachsenen üblich, aber jede Form von Abstraktion unter Generalverdacht zu stellen finde ich übertrieben und auch nicht hilfreich. Annette redet ja immer vom „konkret-allgemeinen“ (natürlich selbst eine sehr abstrakte Vorstellung ;-), vielleicht ist sowas auch hier der Königsweg?
@Benni: Worauf konkret beziehst du dich? Ich habe in Kommentar #10 doch ziemlich klar geschrieben, dass Kinder „gar nicht anders durch die Welt“ kommen als durch Bilden von Abstraktionen. Und ich hatte den Eindruck, dass auch Thomas jetzt nicht mehr auf der Aussage besteht, dass Abstraktionen „nicht gerade die starke Seite von Kindern“ sind.
Bei deinem Vorschlag mit dem „konkret-Allgemeinen“ bin ich mir nicht so sicher, ob dass nicht eine erweiterte Erkenntnisstufe ist, die auch die meisten Theoretiker/innen verfehlen, die beim „abstrakt-Allgemeinen“ stehen bleiben. Das hat IMHO etwas damit zu tun, dass unsere gesellschaftliche Denkform (vermittelt über die Geld- und Äquivalentenabstraktion) nur diese „reduzierte“ Abstraktion nahelegt.
Die Reduktion besteht ja darin, dass im abstrakt-allgemeinen Denken die Besonderheiten des Einzelnen sozusagen „wegabstrahiert“ werden (etwa durch die abstrakte Gegenüberstellung von Tauschwert und Gebrauchswert), während sie im konkret-allgemeinen Denken das Besondere im Allgemeinen erhalten bleiben (inkl. ihrer Beziehungen zu den anderen Besonderheiten im Allgemeinen). Schwer, das in kurzen Worten zu beschreiben.
Um wieder zu Nicht/-Erziehung zu kommen: Nicht-Erziehung als solche hilft bei der Überschreitung des bloß abstrakt-allgemeinen Denkens gar nix. Das ist einer der inhaltlichen Gründe, warum ich die gesellschaftliche Dimension und die eigene Selbstentfaltung (als erwachsener Unterstützer) so stark betone. Oder um es noch allgemeiner zu sagen: Nicht-Erziehung als solche ist nicht inhaltich bestimmt. Sie ist vielleicht eine notwendige, aber eben noch keine hinreichende Bedingung für die freie Entwicklung von Kindern (und generell: allen Menschen).
Stefan sagt:
Ich finde, du hast das sehr schön in kurzen Worten beschrieben 🙂
Ein sehr interessanter Ansatz. Aber wohl eher als Gedankenspiel denn als Erziehungsanleitung zu verstehen.
Als Vater von zwei Kindern habe ich jedenfalls die Beobachtung gemacht, daß eine Konkurrenz nicht anerzogen werden muß, sondern häufig gebremst bzw. mit Regeln belegt werden muß.
Erziehung hat nichts mit einem Kasernenhof zu tun, sondern mit Zuwendung.
Und wie soll das Kind denn lernen, eine Regel zu brechen, wenn es keine Regeln kennt.
😉
@markus: „Unerzogen“ bedeutet nicht Regellosigkeit. Entscheidend ist, wie die Regeln zu stande kommen.
Ja – ich hab mir inzwischen die Seite etwas angeschaut. Erziehung „ohne zu drohen“ ein guter Ansatz . . der Weg ist das Ziel