Sudbury in Jena
In Jenas Uni gibt es einen Vortrag über Sudbury-Schulen. Pikant dabei: Veranstaltet wird das Ganze von der FDP-Parteistiftung, der Friedrich-Naumann-Stiftung. Meine These war ja schon immer, dass sich Keimformen (u.a.) dadurch auszeichnen müssen
mit der herrschenden liberalen Ideologie kompatibel zu sein (ohne sie deswegen komplett zu übernehmen). Es ist wie mit den frühen Bürgern, die durch die Aufträge der Fürsten groß wurden.
Der vermeintlich gemeinsame Feind ist wohl der Staat, dem die Erziehung der eigenen Kleinen nicht anvertraut werden soll? Ich stimme dir zu, dass unverhoffte Koalitionen auch frueher wirkliche Aenderung moeglich gemacht haben. Die sind im Resultat, wenn das wirklich mal passiert, aber dann unverhofft fuer alle Koalitionaere, d.h. die resultierende staatsfreie Schule wird weder so wie sie sich vielleicht ein FDPler noch so wie sie sich ein benni vorstellt.
@Thomas: Äh, ja und? Ich hatte nicht vor mir eine Zeitmaschine zu bauen (von bösen Zungen auch Geschichtdeterminismus genannt)…
Ansonsten ist „Sudbury“ ja eine „etablierte Marke“ (ums mal in FDP-Sprech zu sagen) und somit nicht beliebig verwässerbar.
Ausserdem steckt glaube ich schon mehr dahinter als bloß der gemeinsame Feind „Staat“, sondern umgekehrt auch eine gemeinsame Konzeption von Staatlichkeit, Sudburyschulen sind ja entstanden als radikaldemokratisiertes Mini-Abbild einer amerikanischen Ur-liberalen Staatsidee (also das ist jetzt nicht gemeinsam benni-FDP, aber gemeinsam FDP-Sudbury 😉
Komme gerade mal hier vorbei und lese von der „These (…), dass sich Keimformen (u.a.) dadurch auszeichnen müssen mit der herrschenden liberalen Ideologie kompatibel zu sein (ohne sie deswegen komplett zu übernehmen).“
Ich finde, zu den Stichworten Liberalismus-Kompatibilität und FDP passt doch auch sehr gut diese Forderung nach einem „Grundeinkommen“. Hier war es auch ein liberaler (kürzlich verstorbener) Vordenker, Milton Friedman, der das Konzept einer negativen Einkommenssteuer ursprünglich entworfen hatte. Eben in dem von Friedman intendierten Sinne als eine Art Elendsversion der ansonsten abzuschaffenden Sozialtransfers findet sich dieses Konzept als „Bürgergeld“-Modell u. a. auch bei FDP wie liberaler Medien-Prominenz. Und auch Teile der perspektivlos gewordenen politischen Linken – weit davon entfernt, die kapitalistische Produktions- und Lebensweise als solche in Frage zu stellen – schließen sich der Grundeinkommens-Forderung an. Meistens gibt es von links ergänzend noch einige beschwörende Bitten an Papa Staat zu hören: Etwa, dass das Grundeinkommen doch bitte bedingungslos und nicht gar zu niedrig gewährleistet werden solle. Linke mit Weitblick und Politik-Erfahrung bzw. -Ambitionen (etwa in der „Linkspartei“) verzichten aber inzwischen auch schon gern auf derlei Beschwörungsformeln. Wer weiß, vielleicht könnte so ein „Grundeinkommen“ sogar einmal als Instrumentarium weiterer staatlicher Kostenreduktion Wirklichkeit werden? Hartz IV für alle! Vom Keim zur Realität …
PS: Da lob‘ ich mir doch die mitunter vielleicht etwa keimfrei daherkommende und ohne Kompatibilitäten mit der herrschenden liberalen Ideologie auskommende radikale Gesellschaftskritik!
@Peter: Ok, dann kritisier du mal, das ist eine sehr wichtige Sache (ganz ohne Ironie). Ich mach mich halt lieber wenigstens gelegentlich auf die Suche nach dem „Neuen im Alten“ und bin bereit dabei Fehler zu machen (denn nur von denen lernt man). Kritik kann man halt leider nicht essen.
Das eine Gemeinsamkeit zwischen Sudbury und der FDP die Ablehnung des Staates ist, dessen Gängelung abgeschaltet werden soll, ist sicherlich richtig. Aber ich glaube, mensch kann das noch weitgehender Formulieren: Auch Sudbury zeichnet sich m.E. ähnlich wie Summerhill und auch viele Debatte im „Antipädagogischen Spektrum“ durch ein ganz grundsätzliches Problem aus: dass das Glück der SchülerInnen ausschließlich in deren individuellen Verhalten gesucht wird – und die gesellschaftliche Dimension (und die Zwänge, die von da kommen) tendenziell ausgeschaltet wird.
Das heißt dann nicht, dass alles völlig egal wäre, was die Leute da machen. Aber ich fürchte, dass es halt auch nicht ausreicht. Wie gerade die Allianz mit der FDP zeigt. Aber vielleicht ist das ja tatsächlichso mit Keimformen: die sind eben das Neue im Alten, und da gibt es halt nix per se „Richtiges“, weil das Alte ja auch gleichzeitig das Falsche ist. Quasi, sozusagen.
Um das noch mal zu untermauern. Auf der Sudbury-Seite steht zum Thema Verantwortung:
„Sudbury-Schulen bieten eine Umgebung, in der Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen. Da es keinen vorgegebenen Tagesablauf gibt, müssen die Schüler selbst die Initiative ergreifen und sich überlegen, womit sie ihre Zeit verbringen wollen. Zugleich müssen die Schüler mit den natürlichen Konsequenzen ihrer Entscheidungen leben und können die Verantwortung für Entscheidungen, die sie später bereuen, nicht auf andere abwälzen.“
Bei der FDP klingt das dann so:
„Für die FDP gilt: Wahlfreiheit statt Zwangsversicherung, soziale Marktwirtschaft statt bürokratische Staatswirtschaft, Eigenverantwortung statt Bevormundung.“ (WikiLiberal)
Donna Haraway nennt das den „Gott-Trick“, dass – oft Maenner – so tun, als koennten sie Welt von einem Standpunkt ausserhalb der Welt denken (was ganz besonderen Weitblick erfordert). Aber das kann nur Gott – den ich noch nicht getroffen habe – alle anderen sind auf die eine oder andere Weise „kompatibel“ zu der sie umgebenden Welt – und sei es in der relativen Irrelevanz der radikalen Negation. Der Keimformgedanke gibt m.E. die Moeglichkeit die Vermittlung zwischen Bestehendem und seiner Kritik produktiver zu denken.
Und @benni:
Ich denke wir sind ganz einig. Vielleicht geht es vielmehr um ein Denken, das ohne Kategorien von „reinem Wein“ (= die etablierte Marke Sudbury), der dann „verwaessert“ werden kann (durch die FDP), auskommt? Wie waere es mit einem Cocktail, bei dem zu erklaeren waere warum manche Zutaten fuer unseren Geschmack besser zusammenpassen als andere? Hier waere dann auch Julis Kommentar wichtig, wenn sie beschreibt, welche Zutat fehlt.
@Thomas,Juli: Den Sudburys Gesellschaftsvergessenheit vorzuwerfen ist zu einfach. So ist es nicht.
Zum einen: Sie haben ja eine sehr genaue Vorstellung davon, wie sich die Gemeinschaft einer Schule sich organisiert und wie die Individuen ihre Konflikte und gemeinsamen Interessen organisieren. Das ist die Vorstellung radikaler Demokratie. (Ja, ich weiss dass Gemeinschaft und Gesellschaft nicht das selbe ist, aber trotzdem ist das in dem Fall ein übertragbares Prinzip)
Zum anderen: Ihre Vorstellung warum eine freie, demokratische Erziehung genau jetzt, in der historischen Situation, in der wir uns befinden, nötig ist, ist eine, die überhaupt nicht gesellschaftsvergessen ist: Es geht darum, dass die alte hierarchische Vorstellung von Schule vielleicht angemessen war für das Industriezeitalter, dass aber in der neuen sich herausbildenden Wissens- Informations- whatever Gesellschaft es darauf ankommt, die kreatven Potentiale der Menschen zu aktivieren und das geht nur, wenn man ihnen ihre Freiheit lässt herauszufinden, was sie wollen.
In all dem ist – zugegeben – keinerlei Antikapitalismus enthalten, aber das ist er ja bei Freier Software nun mal auch nicht.
Der Clou ist hier, wie bei Freier Software: Diese Formen gesellschaftlicher Organisation sind kompatibel sowohl mit dem Kapitalismus als auch mit dem Antikapitalismus. Das ist das Feld auf dem wir agieren müssen, und wo am Ende sich entscheiden wird, wer die besseren Karten hat. Zu behaupten dann hätte der Kapitalismus eh schon gewonnen, wäre nichts anderes, als zu behaupten, dass der Antikapitalismus nix taugt.
@Thomas Berker: deine Bemerkung zu Peter Bußfeld finde ich sehr unfair – nur weil er darauf hinweist, dass das Grundeinkommen keine postkapitalistische Perspektive aufweist und dass Kritik sich nicht darum bemühen muss, sich den herrschenden Kräften anzudienen, nimmt er doch noch keinen “Gott-Standpunkt“ ein!
Generell glaube ich, dass das Recht, etwas zu kritisieren (z.B. als unzureichend und/oder in die falsche Richtung gehend), auch ohne zwangsläufig gleich sagen zu können, wie man es besser machen kann, sehr wichtig ist. Wenn man diese Art radikaler Kritik verbieten oder entmutigen will, riskiert man, das Denken abzuwürden.
@Juli: Volle Zustimmung zu deiner Analyse, warum Sudbury u.ä. unzureichend sind.
@Christian: Danke, dass du mir die Gelegenheit gibst zu unterstreichen, dass ich weder Peter als Person (ich kenn ihn ja nicht), noch seinen ganzen Beitrag sondern den von mir zitierten Absatz bezogen habe. Peter hatte es ja da mit dem „keimfrei“ bereits ein klein wenig eingeschraenkt/ironisiert. So habe ich das zumindest gelesen.
Und generell: Es nervt mich auch, wenn grundlegender Kritik damit begegnet wird, die KritikerInnen sollten es doch erstmal besser machen. Das ersetzt naemlich die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Kritik. Aber es nervt mich auch, wenn Leute, die was machen, fuer ihre Kompatibilitaet kritisiert werden. Das ersetzt naemlich die Auseinandersetzung mit dem was sie machen (und nicht zuletzt mit dem was die Kritisierenden machen).
Im Licht des Keimformgedankens liegt meine ich genau da der Hase im Pfeffer: Radikale Kritik von aussen (Gottes-Trick) hat immer recht, bleibt aber keimfrei, und erfolgreiche widerstaendige Praxis ist immer zu einem gewissen Grad kompatibel mit dem schlechten Bestehenden. Sollten wir uns da einig sein, so koennen wir anfangen zu diskutieren, wies von da aus weitergeht.
Danke, Thomas, die doppelte Bedeutung von „keimfrei“ im Sinne von „unangreifbar“ und „nicht von Keimformgedanken infiziert“ ist mir erst jetzt aufgefallen:-)
Na ja, was heisst „kompatibel“? Und was heisst „nicht komplett“ übernehmen? Das liegt seehr nahe beisammen (kompatibel=komplett). Der Neoliberalismus ist u.a. auch deswegen erfolgreich, weil er die anti-etatistischen Forderungen der Linken erfüllt hat, im Kern das individuelle Freiheitsversprechen gegen die paternalistischen Staatsverwalter. Wenn jetzt die Staatslinke eben jenen Paternalismus revitalisieren will, dann ist das nur noch regressiv.
Daraus folgt für mich, dass Keimform-Ansätze das von der liberalen Ideologie übernommene Versprechen der Freiheit des Individuums zurückerobern müssen, sich aber fundamental darin unterscheiden, wie die Freiheit erreicht werden kann, was also Freiheit meint: Nämlich Selbstentfaltung statt Freiheit zur (Selbst-)Verwertung.
@Stefan: Genau so sehe ich das auch. Noch ist ja Kinderarbeit in unseren breiten aber verpönt, wird aber zur Zeit mit einer Dressurmaschine namens „Schule“ ersetzt, die den meisten jeden Gedanken an Selbstentfaltung erstmal austreibt. Wenn nun die Sudburys das ersetzen wollen durch eine Schule, die Selbstentfaltung erlaubt und ermutigt, dann ist das ziemlich wichtig finde ich.
Dass manch liberaler diese Selbstentfaltung als die richtige Form der Vorbereitung zur Selbstverwertung betrachtet, macht das ganze kompliziert, aber deswegen ja noch nicht falsch.