Der kapitalistische Computersozialismus
[Kolumne Immaterial World in der Wiener Zeitschrift Streifzüge]
Im dritten Teil der kleinen Serie über gesellschaftliche Planung geht es um den Computersozialismus (CS) nach W. Paul Cockshott und Allin Cottrell. Nach dem Kollaps des Realsozialismus legten die beiden Autoren 1993 eine Neuauflage eines Zentralplanmodells auf Basis fortgeschrittener Computertechnologie vor. Die Grundzüge seien kurz beschrieben.
Datengrundlage der Planung sind die Arbeitszeit und die notwendigen Ressourcen. An jedem Arbeitsplatz werden Produktionskapazitäten und erforderliche Ausgangsmaterialien computerbasiert in einer Tabelle erfasst. Diese fließen zu einem Zentralplanbüro, das Eigentümer der Produktionsmittel ist und die Verteilung von Ressourcen und Arbeitskraft gemäß gesellschaftlicher Ziele und Makroplänen ausrechnet. Über Referenden werden Pläne akzeptiert oder abgelehnt. Die basale Recheneinheit in Planung, Produktion und Konsumtion ist die Arbeitszeit. Sie ist die Wertgröße und dient der Preisbildung. Grundlage ist die Arbeitswerttheorie, wobei die Autoren hier eher an Smith und Ricardo anschließen als an Marx.
Arbeiter:innen werden mit Gutscheinen bezahlt, die die geleistete Arbeitszeit repräsentieren. Der Lohn ist in drei Kategorien eingeteilt: B entspricht der Durchschnittsproduktivität, darunterliegend ist A, darüberliegend ist C. In der B-Gruppe gibt es eine Stunde Lohn für eine Stunde Arbeit, in A etwas weniger, in C etwas mehr. Der Lohn kann durch erworbene Qualifikation steigen. Dabei wird die qualifizierte Arbeitskraft wie eine Maschine betrachtet: Beide steigern die Produktivität, übertragen ihren Wert und sind irgendwann abgeschrieben. Über eine Besteuerung werden allgemeine vom Staat zu leistende Aufgaben finanziert. Ökologische Bedingungen und auch die vorwiegend von Frauen getätigte Haushaltsarbeit (Care) lassen sich nicht in die preisbasierte Planung integrieren. Sie sollen allein politisch gelöst werden.
Die Konsumgüterverteilung erfolgt marktbasiert. Die Nachfrage wird als Preisbildungs- und Planungsindikator benutzt. Ist sie höher als das Angebot, steigen die Preise und die Produktion wird in der nächsten Planungsrunde ausgeweitet – und umgekehrt bei einer Nachfrage unter dem Angebot.
Sowohl parlamentarische Demokratie (was sie für einen Widerspruch in sich halten) wie auch Rätedemokratie (die entweder in Einparteiendiktaturen oder den Parlamentarismus mündeten) werden kritisiert. Räte könnten zwar Organe des Umsturzes von autoritären Systemen sein, aber keine dauerhaften Institutionen. Bisher seien Räte nicht in parlamentarischen Demokratien aufgetaucht – was im übrigen auch für Revolutionen gilt. Der CS schlägt eine modernisierte Form nichthierarchischer direkter Demokratie (Demarchie nach John Burnheim) vor, deren Gremien per Los besetzt werden und die nach dem Subsidaritätsprinzip agieren.
Zur Kritik.
(1) Der CS gehört zu den Ansätzen, die die Analyse der politischen Ökonomie des Kapitalismus von Karl Marx neutral lesen, sie also nicht als Kritik versteht, sondern als begriffliche Grundlegung. Die analytischen Begriffe werden im Sinne einer positiven Gestaltung der sozialistischen Wirtschaft angewendet. Diese Herangehensweise kann sich tatsächlich auf Marx berufen. In einem seiner schwächsten Texte („Kritik des Gothaer Programms“) gab er Hinweise für eine Übergangsgesellschaft, die zwar eigenen Kritiken in anderen Texten entgegenstanden, aber gleichwohl dem Realsozialismus als Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Gestaltung diente.
(2) Während der Realsozialismus ehrlicherweise annahm, die Ware-Geld-Beziehungen nicht überwinden, sondern nur beherrschen zu wollen, ist der CS hier diffuser. Einerseits behauptet er, dass es keine Warenform mehr gäbe, da die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Betrieben geplant und nicht durch einen Markt hergestellt würden. Andererseits geht er von der Gültigkeit der Arbeitswertlehre aus, deren Grundlage die Warenproduktion ist. Ohne Warenform kein Wert, kein Preis und darauf gründende Rechnungen.
(3) Der Arbeitszwang ist dem CS inhärent. Das heißt, die menschliche Existenz gilt dem CS nicht als bedingungslos, sondern wird unter die Bedingung der Arbeit gestellt. Das unterscheidet den CS nicht vom Kapitalismus, was aber auch nicht weiter verwundert, da nicht der Arbeitszwang, sondern die Ausbeutung im Kapitalismus als Problem gesehen wird. Diese gäbe es im CS nicht mehr, da eine private Aneignung wegen des Staatseigentums nicht mehr stattfände. Doch für die Arbeitenden ist es am Ende egal, von wem sie „ausgebeutet“, also zur Arbeit gezwungen werden. Freiwilligkeit liegt jenseits des Denkhorizonts des CS und verweist auf ein problematisches Menschenbild.
(4) Wegen der fehlenden privaten Aneignung ist die Einkommensverteilung im CS weitgehend egalitär. Es gibt nur kleine Differenzierungen in den Lohnstufen. Doch in einem Warensystem wird genau das zum Problem. Da es primär nicht um den Gebrauchs-, sondern um den Tauschwert geht, wird die Arbeit dorthin fließen, wo sie am besten bezahlt wird – wenn schon Zwang, dann bitte gegen maximale Entschädigung. Da dies im offiziellen Lohnsystem nur begrenzt möglich ist, gibt es vermutlich eine Tendenz in Richtung einer Schattenwirtschaft, einschließlich der Herausbildung von Ersatzformen des Geldes, da die offiziellen Gutscheine nicht transferierbar sind.
(5) Wegen der warengesellschaftlichen Basis fallen Ökologie und Care völlig aus der CS-Wirtschaft heraus. Das sehen auch die Autoren und verweisen pauschal auf einen politischen Prozess (den sie bei Care gar Klassenkampf nennen), der am Ende gegen die ökonomische Rationalität agieren müsse. Die Behandlung von Ökologie und letztlich auch von Care als kostenträchtige Externalitäten ist kennzeichnend für die Sphärenspaltungen in kapitalistischen Systemen. Selbst mit direktdemokratischen Mechanismen sind sie – ohnehin nur ex post – nicht wieder integrierbar.
(6) Die Demarchie ist ein interessanter Vorschlag. Das Losverfahren sorgt dafür, dass sich keine machtkonzentrierende Wahloligarchie mit Berufspolitiker:innen herausbildet. Aus commonistischer Perspektive ist jedoch die Frage, warum an die Stelle des Loses nicht gleich die Selbstbeauftragung tritt. Diese setzt allerdings die weitgehende Abwesenheit von Macht, Sphärenspaltungen und Warengesellschaft voraus – was mit dem CS nicht zu haben ist.
@Stefan: Wo siehst du den Kapitalismus?
Ich teile ja vieles an der Kritik, aber: Kapitalistische Produktion dient einem ganz bestimmten Zwecke, nämlich der Vermehrung von Geld (Wert, Kapital) in mehr Geld (Mehrwert, Profit). Das ist der primäre, wenn nicht der einzige Zweck der kapitalistischen Produktion – wo keine Profite winken, findet sie erst gar nicht statt. Und davon sehe ich hier nichts.
Und warum unterstellst du den Menschen im Computersozialismus so pauschal, Lohnmaximierer zu sein (Punkt 4)? Statt, sagen wir, sich um ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechende oder auch um sinnvolle, erfüllende oder gesellschaftlich besonders angesehene Arbeit zu bemühen? Dringt da bei dir selbst nicht auch ein problematisches Menschenbild durch?
@Christian: Ich sehe da Sozialismus mit kapitalistischen Elementen. Und Punkt 4 leite ich aus den Erfahrungen im Realsozialismus ab. Klar gab es viele Menschen, die sich darum bemühten, den Sozialismus voranzubringen und sinnvolle Arbeit zu tun. Aber die materiellen Strukturen legten eben auch nahe, nur an den eigenen Vorteil zu denken. Von den Widersprüchen handelten übrigens viele Romane, die ich stets mit Faszination ob der offenen Benennung gelesen habe. Leider setzten sich u.a. die Nutzenmaximierer (in Form von Lohn und anderen „Währungen“) durch. Diese Struktur finde ich im CS wieder.
@Christian: Ich sehe den Kapitalismus im Computersozialismus fortgeschrieben, weil auch nach diesem Modell nur essen darf, wer auch arbeitet. Kinder, Alte, Kranke oder Frauen in der Schwangerschaft können aber nur bedingt arbeiten. Arbeit bleibt für die Computersozialisten notwendiges Mittel, um an Produkte heranzukommen. Arbeitszeitgutscheine stellen -ähnlich wie Geld- eine Art „Lebensberechtigungsschein“ dar. Wenn Arbeit das einzige Mittel ist, um an Produkte heranzukommen, ist Arbeit „kapitalistisch“. Besonders wichtig ist den Computersozialisten zudem die Produktivität der Arbeit. Je produktiver die Arbeit wird, desto weniger menschliche Arbeit ist in der Produktion vonnöten. Eine moderne Fabrik ist ja jetzt schon beinahe menschenleer. Mit next Level KI wird sie noch menschenleerer. Wieviele solcher moderner Fertigungsstätten müssten wohl noch gebaut werden, um jedem arbeitsfähigen Menschen (wieder) einen Arbeitsplatz zu bescheren?