Metapersonale Instanzen
[Kolumne Immaterial World in der Wiener Zeitschrift Streifzüge]
In unserem Buch „Kapitalismus aufheben“ (Sutterlütti & Meretz 2018) haben wir einen analytischen Rahmen entwickelt, um über Utopie und Transformation sprechen zu können. Ein wichtiges Begriffspaar ist dabei für uns das der interpersonalen und transpersonalen Beziehungen. Damit können wir zwischen Nahbeziehungen und Fernbeziehungen, wie Bini Adamczak das in ihrem Buch „Beziehungsweise Revolution“ nennt, unterscheiden. Nah- oder interpersonale Beziehungen sind solche zu konkreten anderen Personen, die ich in der Regel auch kenne. Fern- oder transpersonale Beziehungen sind solche zu allgemeinen anderen Personen, die für mich eine bestimmte Funktion erfüllen – zum Beispiel etwas produzieren. Wer das im Einzelnen ist, ist für mich nicht relevant. Bei beiden Beziehungsarten handelt es sich immer um aktuelle Beziehungen.
Nun argumentiert Benni Bärmann auf keimform.de, dass das soziale Netzwerk einer Gesellschaft nicht in inter- oder transpersonalen Beziehungen aufgeht und schlägt mit den metapersonalen Beziehungen eine weitere Kategorie vor. So weit ich es verstanden habe, sollen damit geronnene, überdauernde, permanent reproduzierte Beziehungen erfasst werden. Es geht also um Beziehungen zu Personen, die vielleicht gar nicht mehr leben, mit denen ich dennoch mittelbar über das früher Geschaffene verbunden bin, sowie jenen, die das Geschaffene kontinuierlich reproduzieren, weil es für sie funktional ist. Metapersonale Beziehungen als tradiertes Medium, in dem sich die aktuellen inter- und transpersonalen Beziehungen entfalten. Beispielsweise haben viele Vorfahr*innen die Sprache geschaffen, in der ich mich jetzt verständige. Und indem ich mich in der Sprache verständige, sorge ich für ihren Erhalt. Das gleiche gilt für exklusionslogische Herrschaftsformen wie Rassismus und Sexismus, die unsere aktuellen Beziehungen durchziehen, wobei hier die individuellen Funktionalitäten in Form von Privilegien ungleich verteilt sind.
Diesen Überlegungen liegt zu Grunde, dass wir alle Dinge und Angelegenheiten, die wir nutzen, auch herstellen. „Die Welt ist was Gemachtes“, singt Dota Kehr, und sie ist damit auch veränderbar, ergänzt die Kritische Psychologie. Auch der Kapitalismus ist etwas Gemachtes. Wollen wir den Kapitalismus überwinden, so können wir ihn nicht einfach abschaffen, sondern wir müssen gleichzeitig etwas Neues an seine Stelle setzen. Das bedeutet, die interpersonalen, transpersonalen und, so die Ergänzung, auch die metapersonalen Beziehungen werden sich verändern – müssen.
Fast alle Beziehungen werden über Mittel hergestellt. Fast immer geht es um „etwas“, um das sich die Beziehung herum bildet, um das herzustellende Produkt, den zu schreibenden Text, die zu regelnde Angelegenheit. Dieses „etwas“, die Mittel, stellen wir her, wobei die Mittel materieller, symbolischer oder sozialer Art sein können. Diese Herstellung geschieht häufig gezielt, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Manchmal gehen vor allem soziale Mittel aber auch aus einem sozialen Prozess hervor.
Sprache oder Herrschaftsideologien gehören dazu, sie wurden einmal hergestellt bzw. sind einmal entstanden. Dass dahinter Menschen standen, die die sozialen Mittel, die wir heute weiter nutzen, hervorbrachten, ist heute unsichtbar und gleichsam in die Mittel übergegangen. Der Gedanke, dass ich historisch vermittelt mit verstorbenen Menschen in Beziehung stehe, ist zutreffend, gleichzeitig aber auch nicht mehr veränderbar. Interessanter ist die alltägliche Reproduktion der geschaffenen sozialen Mittel selbst. Auf die Veränderung kommt es (mir) an: Gesellschaftliche Veränderung bedeutet, die (aktuellen) inter- und transpersonalen Beziehungen und die ererbten, reproduzierten sozialen Mittel zu verändern.
In der bürgerlichen Gesellschaft kommen viele soziale Mittel nicht ohne einen Bezug auf höhere Instanzen aus – seien dies Autorität, Moralität, Ethiken oder Normen. Diese metapersonalen Instanzen sind historisch in exklusionslogisch strukturierten Gesellschaften gewachsen und haben im Kapitalismus eine besondere Qualität bekommen. In einer Gesellschaft der vereinzelten Einzelnen bieten sie sowohl sozialen Zusammenhalt wie Möglichkeiten der Konfliktregulation. Auffällig ist hierbei, dass Zusammenhalt und Konfliktregulation nicht aus der spezifisch menschlichen Existenzweise – nämlich die Lebensbedingungen gesellschaftlich-vorsorgend herzustellen – gleichsam „automatisch“ hervorgehen, sondern als Zusätzliches hinzugefügt werden müssen, damit das Zusammenleben funktioniert. Hätten wir die regulativen Instanzen nicht, würden wir alle aufeinander einschlagen – so das Bild und die Rechtfertigung.
Die traditionelle Arbeiter*innenbewegung hat versucht, die Emanzipation im Medium der metapersonalen Instanzen zu erreichen. Sie schuf sich eigene Autoritäten (Partei), beanspruchte, eine eigene Moralität zu verkörpern (Aufopferung), kreierte eigene Ethiken (Neuer Mensch) oder schrieb schlicht alte Normen fort. Zum Hineinfühlen empfehle ich als Lektüre die „Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik“, zu finden bei Wikipedia. Auch wenn heute moralisch-ethische Anforderungen keinen quasi-religiösen Charakter mehr haben, bleibt ihr Soll-Charakter bestehen: Du sollst politisch-korrekt, solidarisch, inklusiv usw. sein. Umgekehrt deute ich den Trumpismus als regressiven Reflex auf solche „linken“ Sollenszumutungen, den destruktiven Kern kapitalistischer Vergesellschaftung nun endlich „unbeschränkt“ ausleben zu können.
Wollen wir den Kapitalismus überwinden, stellt sich die Frage, ob wir dies im Medium der genannten metapersonalen Instanzen tun (können) oder ob wir darin nicht von vornherein auf verlorenem Posten stehen. Können unsere emanzipatorischen Handlungsbegründungen auch ohne Soll-Imperative auskommen? In unserem oben genannten Buch haben wir genau das versucht: Geht eine strukturelle Inklusionslogik, die wir als Kern commonistischer Vergesellschaftung bestimmen, aus den Handlungsbedingungen von Freiwilligkeit und kollektiver Verfügung hervor oder müssen wir sie moralisch-ethisch grundiert voraussetzen? Anders gefragt: Können wir Autorität, Moralität, Ethik und Normen aufheben? Müssen wir es gar? Wie gehen wir mit den tradierten Formen der Regulation menschlichen Zusammenlebens im Prozess der Transformation um?
Nur ein Merkpunkt, Stefan: Wenn ich „metapersonale Beziehungen“ höre, denke ich zuerst auch an das, was anderswo „Beziehungen zur mehr-als-menschlichen-Welt“ heißt. Stringent relationales Denken macht nicht bei Menschen halt.
Diese Formulierung finde ich übrigens sehr gelungen: “ Dass dahinter Menschen standen, die die sozialen Mittel, die wir heute
weiter nutzen, hervorbrachten, ist heute unsichtbar und gleichsam in die Mittel übergegangen.“
Ich würde hier gerne auf mein gerade gepostesten Kommentar zu Eurem Buch verweisen: https://keimform.de/2018/kapitalismus-aufheben-kapitel-3/#comment-1412366
Die Überlegung weist m.E. in die richtige Richtung, nämlich in eine Unterscheidung der Sozialstrukturen in „konkrete rahmenschaffende Institutionen etc.“ sowie historisch gewachsene Metastrukturen (zb. Herrschaftsstrukturen, nur analytisch ableitbar, abstrakt).
Zu: „Anders gefragt: Können wir Autorität, Moralität, Ethik und Normen aufheben?“ … Das lässt sich mit dem heutigen Kenntnisstand nicht beantworten, würde ich sagen. Sollten wir einmal allesamt direkt über Braininterface vernetzt sein … vielleicht. Mein Bauchgefühl sagt mir jedoch: Sehr unwahrscheinlich. Bis wir das wissen können wir versuchen emanzipatorische Wertvorstellungen (Ethik) möglichst überzeugend (Autorität) unter die Leute zu bringen.