Fünfschritt — methodische Quelle des Keimform-Ansatzes
Schon lange wollte ich über den »Fünfschritt« schreiben, der aus meiner Sicht eine wichtige methodische Quelle des Keimform-Ansatzes darstellt, aber keineswegs der einzige ist. Der Fünfschritt stammt aus der Kritischen Psychologie und wurde dort bei der begrifflichen Rekonstruktion des Entstehungsprozesses des Psychischen entwickelt. Eine Beschreibung des Fünfschritts gibt es bei grundlegung.de. Ich werde mich im folgenden an diesen Text anlehnen (und Teile übernehmen), ihn aber auf die hier bei keimform.de diskutierten Fragen zuspitzen. In einem weiteren Artikel diskutiere ich häufige Fragen rund um den Keimform-Ansatz bzw. den Fünfschritt.
Der methodische Fünfschritt befasst sich mit der Frage, wie in einem betrachteten System qualitativ Neues aus einem vorherrschenden Alten entstehen und sich schließlich durchsetzen kann. Es handelt sich um ein retrospektives Verfahren, bei dem das »Ergebnis« des Entwicklungsprozesses bekannt ist und den Ausgangspunkt bildet, um den Werdens- und Durchsetzungsprozess zu rekonstruieren. Folgende fünf Analyseschritte sind zu gehen:
- Schritt: Aufweis der Entwicklungsdimension und der Keimformen, die die qualitative Entwicklung vollziehen.
- Schritt: Aufweis der krisenhaften Veränderungen des gegebenen Systems, die einen Druck in Richtung auf die untersuchte qualitative Entwicklung erzeugen.
- Schritt: Aufweis des Funktionswechsels als erstem qualitativem Sprung im Entwicklungsprozess, bei dem die Keimform zur bedeutenden, aber noch untergeordneten Funktion wird, die noch im Dienste der besseren Systemerhaltung auf dieser Stufe steht.
- Schritt: Aufweis des Dominanzwechsels als zweitem qualitativem Sprung im Entwicklungsprozess, bei dem die früher zentrale Funktion durch die neue, nun den gesamten Prozess der Systemerhaltung bestimmende Funktion abgelöst wird.
- Schritt: Aufweis der Umstrukturierung und neuen Entwicklungsrichtung des Gesamtsystems.
Klaus Holzkamp hat den Fünfschritt aus der Analyse der Entwicklung des Psychischen gewonnen. Da der Fünfschritt allgemein den Umschlag von Quantität in Qualität konkretisiert, ist er — aus meiner Sicht — bei allen dialektischen Entwicklungsprozessen anwendbar, in denen es um die Herausbildung von qualitativ Neuem geht. Zu den fünf Schritten (vgl. auch oben die Abbildung) nun einige Erläuterungen.
Zunächst geht es darum, sich klar zu machen, was analysiert werden soll — hier gilt es drei Begriffe zu unterscheiden, die den untersuchten Gegenstand abstecken:
- System: Was gucke ich mir an? — In unserem Fall ist das die Gesellschaft.
- Dimension: Was innerhalb des Systems entwickelt sich qualitativ? — Hier ist es die Form der Gesellschaft.
- Funktion: Welcher Aspekt der betrachteten Dimension bestimmt die Entwicklung? — Die Gesellschaftsform ändert sich qualitativ, wenn sich eine neue Art der gesellschaftlichen Vermittlung durchsetzt.
Nun geht’s los mit den fünf Schritten. Wir nehmen an, dass die commons-basierte Peer-Produktion (kurze Begriffsdefinition hier und längerer Artikel hier) die Keimform repräsentiert. Hier nutzen wir das retrospektive Verfahren, um eine mögliche Entwicklung in der Zukunft zu untersuchen. Wir versetzen uns gedanklich an die Stelle des abgeschlossenen Transformationsprozesses, um die fünf Schritte dorthin zu rekonstruieren. Die Probleme, die möglicherweise damit verbunden sind, werden in einem folgenden separaten Artikel diskutiert.
1. Keimform
Im Unterschied zur Vorstellung eines Keims, der alle Anlagen bereits enthält und sie nur noch entfalten muss, weist der Begriff der Keimform darauf hin, dass die identifizierte neue Funktion nur der Form nach eine neue Qualität repräsentiert, nicht aber selbst schon diese neue Qualität ist. Erst im weiteren Entwicklungsprozess, in dem die Keimform selbst qualitativ verändert wird, kann sie schließlich ihre spezifische Funktionalität entfalten, mit der sie sich als neue bestimmende Funktion durchsetzt.
Konkret heißt das: Die commons-basierte Peer-Produktion ist nicht schon selbst das Neue, sondern das Neue an ihr ist die bedürfnisorientierte, personal-konkrete Vermittlung zwischen Peers (auch kurz Selbstentfaltung genannt). Diese neue Form der Vermittlung — hier noch projektbezogen — geht als neue Funktion in die Entwicklung ein.
2. Krise
Nur wenn die betrachtete Dimension im analysierten System mit ihrer alten Funktionslogik nicht mehr dauerhaft für die Aufrechterhaltung der Systemintegrität sorgen kann, das System also in eine Krise gerät, kann die Keimform aus ihrer Nischenrolle heraustreten. Ursachen für solche Krisen können sowohl von außen wie auch von innen kommen. Veränderungen der Außenbedingungen des Systems und auch die eigene Entwicklung des Systems können zu einem inneren Entwicklungswiderspruch führen. Ein innerer Widerspruch zwischen den Kapazitäten des Systems und veränderten Bedingungen kann durch Entwicklung aufgehoben werden. Überschreitet das Ausmaß der Veränderung der Bedingungen die Kapazitäten des Systems mit »Entwicklung« zu reagieren, kann es zum Kollaps des Systems kommen. Das andere Extrem ist die Stagnation als Fall der Abwesenheit von Widersprüchen. Für den hier betrachteten Entwicklungsschritt ist jene Widerspruchskonstellation bedeutsam, in der der Keimform eine neue Bedeutung zur Lösung der Widersprüche zukommt.
Konkret heißt das: Die globale gesellschaftliche Vermittlung im Kapitalismus über Ware, Markt und Geld hat die Menschheit in eine krisenhafte Situation geführt. Die multiplen Krisen — von Peak-Everything bis zur Verwertungskrise — lassen sich nicht mehr innerhalb der alten Vermittlungsformen lösen, und auch ein qualitativ neuer Krisenaufschub durch Etablierung eines neuen Verwertungsregimes ist nicht in Sicht (auch nicht als »Green New Deal«). Gleichzeitig ist das alte System mit seiner Logik nicht am Ende in dem Sinne, dass es einfach aufhört sich zu reproduzieren oder schlagartig zusammenbricht, sondern es ist eine Phase des schrittweisen Zerfalls und Aufbrauchens der bislang akkumulierten Systemressourcen eingetreten.
3. Funktionswechsel
Die Keimform tritt aus ihrer untergeordneten und randständigen Bedeutung heraus und gewinnt eine qualitativ neue Funktion für den gesamten Systemprozess. Holzkamp betont die Bedeutung des Funktionswechsels (Zitate aus: Klaus Holzkamp, Grundlegeung der Psychologie, Fankfurt/M. 1983):
»Von größter Wichtigkeit ist dabei, daß bei dem qualitativen Sprung durch Funktionswechsel die dialektische Negation nur im Bereich einer — der bestimmenden Funktion der früheren Stufe noch untergeordneten — Partialfunktion erfolgt, quasi im Dienste der besseren Systemerhaltung auf dieser Stufe steht, daß also die qualitativ spezifische Funktion hier noch nicht für den Gesamtprozeß bestimmend geworden ist« (79).
Dies geschieht erst im nächsten Schritt. Zur Betonung der positiven Funktion für den noch nach alter Logik ablaufenden Systemprozess ist die gleichzeitige Inkompatibiltät der nun qualitativ spezifischen Funktion mit der bestehenden bestimmenden Funktion hinzuzufügen. Nur wenn die neue Funktion nicht nur als bloße Erweiterung der Systemkapazität innerhalb der alten Logik in Anspruch genommen und damit absorbiert werden kann, sondern ihre Eigenständigkeit und Spezifik behauptet, die sie im dritten Schritt erlangt hat, kann es zum zweiten qualitativen Sprung kommen.
Konkret heißt das: Die commons-basierte Peer-Produktion hat eine positive Funktion für den Kapitalismus und bleibt gleichzeitig gegenüber der dominanten Vermittlungsform inkompatibel. Die positive Funktion besteht in der faktischen Kostenentlastung aufgrund der partiellen Entwertung, die durch Peer-Projekte geschieht. Unternehmen können die partielle Entwertung ausnutzen und z.B. Softwarekosten sparen, Kreativtät ausnutzen, Service mit freiem Gut verbunden verkaufen etc. Gleichzeitig bleibt die Peer-Produktion inkompatibel zur alten Systemlogik, weil sie im Kern eine neue Produktionsweise darstellt. Statt getrennt und privat ist die Produktion a priori gemeinschaftlich organisiert, statt Verwertung und Profit sind die Bedürfnisse der Antrieb zur Produktion. Notwendige Tätigkeiten werden nicht verrechnet und getauscht, sondern nach individuellen Möglichkeiten beigetragen. Etc. Noch allerdings sind die schwach vernetzten Projekte auf funktionierende Außenbeziehungen zur dominanten Markt- und Geldvermittlung angewiesen. Commons-basierte Peer-Produktion funktioniert nicht ohne Geld.
4. Dominanzwechsel
Die neue Funktion setzt sich durch und löst die alte Weise die Systemintegrität aufrecht zu erhalten ab. Damit verschwindet die alte Funktion (zunächst) nicht, sondern im Verhältnis zur neuen dominanten Funktion tritt die alte als vormals bestimmende Funktion zurück. Der Dominanzwechsel setzt notwendig den Funktionswechsel voraus. Es ist niemals so, dass neue Funktionen
»schon bei ihrem ersten Vorkommen für die Systemerhaltung bestimmend sein können, sondern [sie sind] zunächst nur zusätzliche ›spezialisierte‹ Leistungsmöglichkeiten eines in ›konservativer‹ Weise auf der alten Stufe sich erhaltenden Systems… Wenn es hier dennoch zum Qualitätsumschlag der Gesamtentwicklung kommen kann, dann deswegen, weil der Übergang zur neuen Entwicklungsstufe sich nicht auf einer einzelnen Dimension vollzieht, sondern die Umkehrung des Verhältnisses zweier für sich kontinuierlich veränderter Dimensionen darstellt. Eine solche Umkehrung des Verhältnisses zwischen bestimmender und nachgeordneter Funktion als Dominanzwechsel ist, obwohl sich beide Funktionen in der Entwicklung kontinuierlich darauf zu bewegen, selbst nicht kontinuierlich, sondern ein punktuelles Umkippen.« (80)
Der Dominanzwechsel ist also ein Verhältnisumkehrung: Das, was früher die alte Funktion geleistet hat, übernimmt nun die neue Funktion. Das System wird nun auf neue Weise erhalten. Damit verändert es sich auch.
Konkret heißt das: Der Kapitalismus ist nicht mehr in der Lage, die (Welt-)Gesellschaft zu erhalten. In allen Bereichen werden alte Funktionen, die über Markt und Geld vermittelt waren, zunehmend durch die commons-basierte Peer-Produktion abgelöst. Diese hat ein Niveau an Vernetzungsdichte erreicht, das zu einer eigenständigen, wechselseitigen Input-Versorgung und bedürfnisorientierten Output-Nutzung führt. Getrennte Privatproduktion mit anschließender Marktvermittlung über Geld ist nun auch praktisch nicht mehr erforderlich. Nur in Randbereichen spielen die alten Formen noch eine gewisse Rolle.
5. Umstrukturierung
Die Entwicklungsrichtung, Struktur und Funktionslogik des neuen Gesamtsystems ändern sich. Dabei geht es nun darum zu zeigen,
»welche älteren Dimensionen im neuen Zusammenhang funktionslos werden, als auch, wie sich die Funktion früherer Dimensionen neu bestimmt, und wie sich unter der neuen Leitfunktion spezifische strukturelle und funktionale Differenzierungen in der weiteren Entwicklung ergeben« (80).
Das wiederum kann ein neuer Ausgangspunkt eines weiteren qualitativen Entwicklungszyklus werden, womit sich das erreichte neue Entwicklungsniveau zur ersten Stufe im neuen Zyklus wird.
Konkret heißt das: Da die neue Produktionsweise bedürfnisgetrieben ist, die alte jedoch verwertungsorientiert war, werden nun auch inhaltlich schrittweise alle Bereiche der Gesellschaft von einem Umbau durchdrungen. Was nicht mehr gewollt wird, wird zurückgebaut, was gewünscht wird, wird aufgebaut. Neue Institutionen entstehen, die die notwendige kommunikative Vermittlung konfligierender Bedürfnisse vermitteln. Im Unterschied zur alten Produktionsweise geschieht die Vermittlung jedoch nicht im nachhinein, sondern sind der Produktion vorgelagert. Objektive Grenzen (Rohstoffe etc.) können in diesen Vermittlungsprozess a priori mit einbezogen werden. Die individuelle Entfaltung aller ist nicht mehr nur potenziell, sondern auch tatsächlich Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Geschichte der Entwicklung, bei der die Menschen ihre Lebensbedingungen bewusst selbst herstellen, beginnt, die Vorgeschichte, bei der dies »hinter dem Rücken« der Menschen geschah, endet. Neue Widersprüche entstehen — ein möglicher neuer qualitativer Entwicklungszyklus beginnt.
(Fortsetzung als FAQ folgt)
Toller Beitrag zu einem Thema das mich auch umtreibt. Mit den Fragen warte ich auf den 2.Artikel. LG Michael
Endlich eine Darstellung des Keimform-Ansatzes. (Mir war bisher jedenfalls keine bekannt, was unter Keimform und ihrer Perspektive zu verstehen war, verstand sich unter den Leuten dieser „Wissensgemeinschaft“ meinem Eindruck nach eher implizit.)
Sehr konzise Argumentation!
Vergleiche hierzu zwar anders argumentierte, aber m.E. nicht unähnliche Überlegungen aus Sicht der (bürgerlichen) Strategic Niche Management Theorie, die Christian Lauk und ich in einem paper für eine Analyse des „Keimformcharakters“ verwendet haben (eingereicht bei „Solutions“, erscheint in gekürzter Fassung im Frühjahr 2012): http://www.social-innovation.org/?p=1770
Für brauchbar und weiterführend halte ich übrigens auch Überlegungen von Bob Jessop zu einer „marxistischen Systemtheorie“, der auf die Artikulation der unterschiedlichen Subsysteme und die Frage der Dominanz des (kapitalistischen) Subsystems eingeht. Ich möchte dazu bei Gelegenheit mal einen Artikel schreiben.
Diese Notwendigkeit einer Krise macht für mich verständlich, dass du sagst, ein neues Modell kann sich durchsetzen, weil es „besser“ ist (s. Diskussion hier). Es ist eben nur in der Krisensituation die Möglichkeit des Vergleichs gegeben. Nur wenn das alte = Marktsystem die Bedürfnisse, die Menschen in diesem System haben, nicht mehr befriedigen kann, können die Commons ihre Stärke ausspielen, dass sie trotzdem ein „Gutes Leben“ ermöglichen – eines, das im funktionierenden Marktsystem möglicherweise gar nicht so „gut“ erscheinen würde, weil es dessen Qualitätsansprüchen, z.B. Geld einzubringen, nicht genügt. Stimmt’s so?
@Brigitte: Ja! 🙂
also 5-Schritt. Fünf Schritte sind das immer? Ich würde ja durchaus auch so einen Ablauf der Ereignisse durchs geschichtliche Dickicht hindurch schimmern sehen wollen. Verblüffend geradezu! So könnte das tatsächlich sich abspielen! Ich finde nur die Erklärungen etwas unscharf, und nur teilweise, vielleicht auch nur zufällig zutreffend. Könntet Ihr auch den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus erklären? als Fünf-Schritt? mir fehlt da z B ein bischen die Rolle des Entwicklungsstandes der Produktionsmittel. Ohne mechanische Maschinen, Dampf- und Diesel- und Elektro, sicher kein Kapitalismus. Und ohne universale Automaten, schnelle Rechner, schnelle Netze und schnelle MakerBots sicher kein Commonismus.
.. noch ein Nachtrag, fiel mir gerade ein: erinnert sich noch jemand an Habermas? bei Habermas war ja die zentrale Differenz die von System und Lebenswelt, systemische Imperative innerhalb des (Geld-)Systems vs. rechtfertigungsfähige und rechtfertigungspflichtige, sprachlich vermittelte Handlungen -> politische Praxis in der Lebenswelt. Sicherlich wird eine skizzierte nach-kapitalistische Welt mehr sprachlich vermitteltes Handeln ermöglichen, also ein Entrinnen aus den dumpfen systemischen Imperativen von Markt und Geld. So kann man das doch auch mal sehen. Dann man hat eine ansehnliche philosophische Tradition hinter sich. Oder bei sich.
Das ist erst mal ein gut ausgearbeitetes Denkmodell, wie qualitativer Wandel funktionieren kann und ich bin schon gespannt auf die weiteren Erläuterungen.
Ich kenn ja die Originalargumentation von Holzkamp nicht, aber ich bin nicht sicher, ob man das Modell auf etwas so komplexes wie „Gesellschaft“ übertragen kann. Es klingt für mich wie eine Art Automatismus, sowas wie ein Naturgesetz und es auf Gesellschaft anzuwenden hat was von Sozialtechnologie. Gesellschaft ist nichts Homogenes, sondern besteht aus mehreren Funktionsbereichen, von denen sich einzelne ändern können (möglicherweise durchaus nach dem von dir beschriebenen Muster), ohne dass dieser Schritt von den anderen in gleicher Weise nachvollzogen werden muss (obwohl sie natürlich davon beeinflusst werden). So kann sich z.B. die Produktionsweise ändern, während sich die Herrschaftsverhältnisse nur marginal ändern, oder es können sofort neue daraus entstehen.
Wenn man sich soziale Veränderungen in der Geschichte ansieht, dann habe ich den Eindruck, dass die Frage ob die vierte Phase, der Dominanzwechsel, stattfindet und wie er verläuft, stark mit der Machtfrage verbunden ist. So wurde die kapitalistische Produktionsweise ja genau an diesem Punkt mit massiver Gewalt durchgesetzt und nicht aus einer inneren Logik heraus.
Eine im letzten Jahrhundert häufiger auftretende Entwicklung ist die Integration des Neuen in die Entwicklungslogik des Alten, was das Geheimnis der Überlebensfähigkeit hegemonialer Macht ist. Gramsci und später Foucault haben sehr gut beschrieben, wie das funktioniert. Hier wird nicht mehr offenen Gewalt angewendet, aber subtilere, strukturelle Machtformen, die den endgültigen Qualitätssprung auf allen Ebenen verhindern. Das sind sehr komplexe und auch widersprüchliche Prozesse, die man kaum mit einem konsistenten Denkmodell beschreiben kann. Und genau das hat ja ermöglicht, dass der Kapitalismus trotz seiner enormen Krisenanfälligkeit so lange überlebt hat und es eben nicht zu diesem Dominanzwechsel kam. Obwohl Keimformen immer wieder aufgetreten sind und es sicher auch mehrmals zur Phase des Funktionswechsel kam, aber dieser letztlich doch wieder im Sinne des Systemerhalts integriert werden konnte und der endgültige Qualitätssprung ausblieb.
David Harvey hat ein interessantes Denkmodell dafür entwickelt, wie das kapitalistische System sich quasi immer wieder selbst aus dem Sumpf zieht. Er definiert 7 Funktionsbereiche der Gesellschaft, die zwar nicht unabhängig von einander sind, sich aber durchaus verschieden entwickeln und dann möglicherweise in ihrer Logik nicht mehr kompatibel sind, was zu Krisen führt. Was aber nicht bedeutet, dass nun das ganze System kippt, sondern rund um den Teilbereich, in dem es eine qualitative Veränderung gegeben hat, die anderen Bereiche sich in einem neuen Gleichgewicht anordnen, um dadurch wieder neue Akkumulationsmöglichkeiten zu eröffnen. Eine Art perpetuum mobile sozusagen.
In diesen Prozessen kommt es durchaus zu neuen Qualitäten in den einzelnen Bereichen, ihr Zusammenwirken hält aber das Gesamtsystem am Leben. Ich will nicht ausschließen, dass es möglich ist, das System ganz zu überwinden, aber ich glaube nach wie vor, dass es sich dabei um eine Machtfrage handelt, und nicht einfach darum, was besser funktioniert. Wobei wir mit diesem Modell des Fünfschrittes den Zeitpunkt, in dem ein Umschlag stattfinden könnte, also die Machtfrage schlagend wird, eingrenzen können und vielleicht auch bessere Strategien entwickeln.
@Ludger#6: Den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus mit dem Fünfschrittwerkzeug hat Stefan Merten hier beschrieben (englisch). Ich würde es ein bißchen anders und abgekürzt so fassen:
Interessant ist, dass Marx das ziemlich genau so gedacht hat. Der Funktionswechsel heißt bei ihm »bloß formelle Subsumtion« und der Dominanzwechsel »reelle Subsumtion« unter das Kapital.
Ich stimme dir zu, dass der Aspekt der Produktivkraftentwicklung noch stärker herausgearbeitet werden müsste. Es ist hier nur eine Rahmenskizze, und man muss stets aufpassen, nicht durch zu große Konkretion in ein Wunschdenken zu rutschen.
@Brigitte: Ich nehme deine Fragen auf und will sie im angekündigten FAQ-Artikel diskutieren (der wächst sich gerade immer mehr aus).
@Stefan#9: interessant. Zu dieser Transformation gibt es ja eine Menge Literatur, und wie kompliziert das ist und keineswegs auch wie eine mechanisch-deterministische Abfolge von Schritten zu verstehen, kann man z B ja auch mal bei Max Weber nachlesen. Dennoch gibt es auch nach meinem Dafürhalten diese Entwicklungslogik.
Zur Peer Production: Ihr nennt das immer munter „Produktion“. Damit das einmal die „dominante“ Produktionsweise werden kann, muss es sich dabei ja zweifelsohne um die physische Reproduktion handeln, die tatsächliche ganze materiale Selbsterhaltung einer Kultur, was dann auch heissen muss insgesamt unter besseren materiellen Existenzbedingungen zu leben als „vorher“- ich glaube da muss noch eine Menge passieren, ich meine auch in der Theoriebildung, um zu verstehen auf was die Entwicklung sich da zu bewegt. Die gemachten Erfahrungen aus offenen Softwareprojekten werden da nicht hinreichen, um diese zentralen Regularien einer zukünftigen Gesellschaftsformation zu beschreiben.
@Ludger: Wenn du das Fünfschritt-Modell als „mechanisch-deterministische Abfolge“ auffasst, hast du es wohl nicht verstanden. IMHO ist es eher ein Analysemuster, das man u.a. bei der Betrachung historischer Prozesse anwenden kann, um zu sehen, wie gut es passt. Und oft passt es erstaunlich gut.
Wobei man die fünf Schritte sicher nicht als logisch und zeitlich streng getrennt begreifen kann. Z.B. könnte ich mir gut vorstellen, dass die ersten beiden Schritt (Keimform und Krise) parallel zueinander oder vielleicht auch in umgekehrter Reihenfolge auftreten – beide sind Voraussetzungen für die weiteren Schritte, aber eher unabhängig voneinander (die Entstehung einer Krise hängt natürlich nicht von der Existenz einer Keimform ab). Auch bei den folgenden Schritten (Funktionswechsel, Dominanzwechsel, Umstrukturierung), dürfte klar sein, dass sie fließend ineinander übergehen können.
Ergänzend:
Genau, deshalb machen wir ja auch diesen Blog 🙂
@Christian: da hast Du mich missverstanden, ich habe nicht gesagt dass ich dieses Modell als mechanisch-deterministische Abfolge verstehe, sondern habe genau das hervorgehoben, dass das eben nicht – genau so – missverstanden werden darf, also zu glauben das sei so ein Klein-Automat gewissermassen, so eine kleine Geschichtsmaschine. Also da bin ich ganz mit Dir einverstanden, genau, ein Muster, das aber wiederum auch noch keine Erklärung ist… die zu haben fände ich auch durchaus hilfreich. Erklärung heisst eben auch die treibenden Faktoren zu isolieren – das sind z B für die Transformation Feudalismus -> Kapitalismus ganz andere als die vom K. in das was danach kommt, oder die vor dem Feudalismus. Das Muster kann aber durchaus immer gleich oder zumindest sehr ähnlich sein.
Die (An-)Erkenntnis, dass es sich bei dem Fünfschritt nicht um ein mechanisch-deterministisches Modell handelt, ist sehr wichtig. Man kann das ganze Modell auch runterkochen und sich einfach klar machen, das (a) jedes Neue irgendwann erstmals aufgetreten sein muss, (b) dass es sich ausgedehnt haben muss und (c) dass es sich schließlich durchgesetzt hat. Das klingt schon fast banal. Der Rest sind logische Überlegungen (Krise, doppelte Funktionalität im Funktionswechsel, Systemrekonfigurierung am Ende).
Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass man solche Abläufe dann tatsächlich immer wieder findet. Allerdings muss man sich auch hier vor einem plattem Mapping hüten, sondern jeweils am Material begründen, wie der Prozess der Herausbildung und Durchsetzung des Neuen ablief.
Beim Psychischen (dem originalen Gegenstand von Holzkamp) war es zum Beispiel so, dass nicht eine neue Funktion komplett neu per Mutation als Keimform auftrat, sondern die neue Funktion (Sensibilität/Psychisches) entstand aus einem Zusammenschluss zweier vorhandener, vorher getrennter Funktionen (Reizbarkeit, ungerichtete Bewegung) — vgl. im Detail hier.
Bei der Diskussion um die commons-basierte Peer-Produktion müssen wir also genau und kreativ sein anstatt schematisch. Irrtümer kann es immer geben. Der Hauptstreitpunkt scheint mir jedoch gar nicht so sehr »modellimmanent« zu liegen, sondern sich um die Frage zu drehen, ob gesellschaftliche Formwechsel überhaupt so gedacht werden dürfen. Wenn man das nämlich akzeptiert, dann sind die traditionellen »politischen« Revolutions- oder auch Reformmodelle hinfällig was ihre Potenz für einen qualitativen Wechsel angeht.
Aber das können wir gleich anhand der FAQ diskutieren. Ich hoffe, ich bekomme den Artikel jetzt mal endlich fertig…
Hallo Stefan,
klasse Artikel, der viel Lichtins Dunkel der Keimform bringt. Ich habe mir wieder erlaubt, ihn komplett auf meinem, Blog zu verwenden. Denn bei mir schauen viele vorbei, die sich fragen, wie wir denn die Welt geändert bekommen könnten. Das hier ist schon mal ein guter Anfang!
Liebe Grüße, Martin
http://faszinationmensch.wordpress.com/2011/07/15/keimform-funf-schritte-wie-wir-wieder-von-einer-waren-zu-einer-guterproduktion-kommen/
Danke, Martin!
Mir fällt grad ein wesentlicher Unterschied zwischen Holzkamps Fünfschritt und Deiner Übertragung auf Gesellschaft auf:
Bei Holzkamp ist das „System“, dass sich ändert, ja eine Art, die in evolutionärer Konkurrenz zu anderen Arten steht. Nicht-psychische Arten bleiben auch nach der „Erfindung“ des Psychischen weiter bestehen. Du betrachtest ja aber ein „System“ von dem es heute nur noch eines gibt, nämlich die globale Weltgesellschaft. Kann das dann überhaupt noch so funktionieren. Die evolutionäre Dynamik fällt ja weg. Sie kann sich nur noch innerhalb des Systems in Teilsystemen entfalten, aber das ist ja was anderes. Beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus war das ja noch anders, da gab es ja viel mehr als heute einzelne getrennte Gesellschaften, oder? Oder gibt es die immer noch und im nächsten Weltkrieg treten dann Peer-Production und Kapitalismus gegeneinander an?
Also: Wo kommt das evolutionäre Umfeld her? Oder braucht es das doch nicht? Seht ihr den Unterschied, den ich meine? Ist der wichtig?
Naja, vielleicht läuft es auf die alte Frage raus, ob man erst den Kommunismus oder erst die Eroberung des Weltraums braucht.
@Benni: Deine Beobachtung trifft zu, hat aber im engeren Sinne nichts mit dem Fünfschritt zu tun, sondern mit der inhaltlichen Besonderheit des jeweils betrachteten Systems. Der Fünfschritt ist kein Schema, dass immer gleich »funktioniert« oder gar überall genutzt werden kann.
Psyche und Gesellschaft sind zwar beides sich historisch entfaltende Systeme, aber die Entwicklungsmotoren sind sehr grundsätzlich unterschiedlich: Das Psychische entwickelt sich evolutionär im Organismus-Umwelt-Verhältnis in Relation zu einem »Außen«, während es so ein »Außen« bei der gesellschaftlichen Entwicklung nicht gibt. Hier stellen die Menschen die Bedingungen, unter denen sie leben, selbst her. Entwicklung ist hier nicht mehr durch die Auseinandersetzung mit der Natur bestimmt (obwohl der Stoffwechsel mit der Natur allem zugrunde liegt), sondern primär in Auseinandersetzung mit uns selbst: In allen Gesellschaften stellen Menschen ihre Lebensbedingungen her, aber wie sie das tun, unterscheidet sich in der Geschichte qualitativ voneinander. So ein Entwicklungprozess kann, wie du auch sagst, nicht evolutionär verstanden werden, bzw. es wäre ein Fehler, den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess auf Mechanismen der Evolution herunterzubrechen (wie etwa auch alles auf Quantenprozesse zu reduzieren etc.).
Noch mal schlichter: Das Organismus-Umwelt-Verhältnis stellt sich her, während das Mensch-Welt-Verhältnis von den Menschen selbst hergestellt wird.
@Stefan: Äh, ja das meinte ich 🙂 Bin immer noch nicht wieder ganz fit, deswegen meine noch mehr verwirrenden Äußerungen, als Du es von mir gewohnt bist. Worauf ich hinaus wollte: Bei evolutionären Prozessen verstehe ich wieso der Fünfschritt ein Fünfschritt ist. Bei gesellschaftlichen noch nicht. Ist das nicht erklärungsbedürftig? Postulierst Du das einfach so? Oder reduziert er sich auf eine einfache Analogie?
Umgekehrt: Gibt es nicht auch bei gesellschaftlichen Veränderungsprozessen Ähnlichkeiten mit evolutionären Prozessen, weil eben auch in Subsystemen neues erst mal ausprobiert wird? Der Witz am 5-Schritt ist ja im Grunde, dass er erklärt, dass Gesellschaft zwar von Menschen gemacht wird, aber eben nicht beliebig (wie bei den Revolutionsromantikern), sondern es einen Transformationsprozess geben muss, der erklärt, wie aus altem neues werden kann. Darin liegt ja auch ein Moment des hergestellt-werdens, oder?
@Benni: Ist der Fünfschritt bei gesellschaftlichen Prozessen nutzbar oder nicht? — fragst du zu recht. Diese Frage muss man immer stellen, also auch bei evolutionären Prozessen. Auch dort ist nicht ohne weiteres klar, dass der dort eingesetzt werden kann, sondern jeder Gegenstand verlangt, dass die Methoden seiner Untersuchung diesem angemessen sein müssen.
Im Artikel schrieb ich:
Das ist meine Begründung, deswegen geht’s beim Psychischen und bei der Gesellschaft: Bei beiden bilden in der Entwicklung/Differenzierung qualitativ neue Formen aus, die nicht bloß als quantitative Zunahme von Strukturierung, Differenzierung und Komplexität gefasst werden können, sondern als Entwicklungsprünge begriffen werden müssen. Die Frage wird damit also verschoben: Geht’s um das Begreifen der historischen Entstehung von neuen Qualitäten oder nicht?
Damit wird auch eine Grenze klar: Der Fünfschritt passt nur auf historische Prozesse. Man kann zwar die historische Herausbildung des Kapitalismus mit dem Fünfschritt fassen, aber erst dann, wenn man bereits einen Begriff vom Kapitalismus hat. Den Begriff Kapitalismus kann man mit dem Fünfschritt nicht gewinnen.
Neulich sagte mir jemand, dass der Fünfschritt nicht wirklich was besonderes sei, denn auch die traditionelle Wissenschaft fasse ja Qualitätssprünge, und zwar mit dem Begriff der Emergenz. Das stimmt, ist meine Antwort, nur deckt der Emergenzbegriff eher das zu, was es aufzuklären gilt, nämlich wie der Prozess der Herausbildung des Neuen aus dem Alten sich tatsächlich vollzieht.
Ähnlichkeiten, also Analogien, zwischen Evolution und Gesellschaftsgeschichte gibt’s sicher immer irgendwie, aber ich halte die für nicht wirklich aussagekräftig. Analogien betreffen immer nur die Oberfläche, ob sie tatsächlich Wesensähnlichkeiten zeigen, muss eigenständig untersucht werden.
Und ja: Der Witz des Fünfschritts besteht darin, Dialektiken denkbar zu machen. Also eben nicht auf die Seite des Geschichtsdeterminismus (Automatismus) oder des Geschichtsvoluntarismus (Beliebigkeit) zu kippen. Aber letztlich ist es nur ein Denkmittel, man kann den Inhalt sicher auch anders denken. Der Fünfschritt ist keine Konstruktion der Dialektik in der Erkenntnis, sondern die Dialektik ist wirkliche Dialektik der Sache, die wir mit dem Fünfschritt möglicherweise aufklären können. Mehr nicht.
Wenn wir also die Freie Gesellschaft denken wollen, dann brauchen wir einen Begriff davon. Den gewinnen wir nicht durch den Fünfschritt. Wir können den Fünfschritt aber als Unit-Test benutzen, wenn wir eine Hypothese für einen Begriff der Freien Gesellschaft entwickelt haben — nämlich: kommt man da irgendwie plausibel nachvollziehbar auch hin. Die alten Transformationskonzepte (AK-Machtergreifung etc.) scheitern daran zum Beispiel.