Kapitalismus – Tausch- oder Klassengesellschaft?
Zum Verhältnis von Exklusion, Klasse und Kapitalismus
Dieser Text ist Teil einer Reihe, welche sich mit Kritik an unserem Buch auseinandersetzt. Vielen Dank an alle Kritiker*innen 🙂
Bei einem Interview für die Jungle World letzte Woche wurde ich gefragt ob unsere Kritik des Kapitalismus nicht Produktionsverhältnisse und Ausbeutung vernachlässigt. In Annettes langer Kritik – vielen Dank dafür! Kritik stößt ja im bestenfalls an und hilft Positionen zu klären – wird uns eine „reduzierte Kapitalismuskritik“ vorgeworfen. Dieser Text will deutliche Positionen entwickeln, damit wir uns gut unterhalten können. Im Zentrum steht in diesem Text einige Thesen zum Verhältnis von Klasse und Kapitalismus. Ich glaube diese Debatte ist zusätzlich wichtig, weil sie auch die Haupt- und Nebenwiderspruchsdebatte berührt – in unseren Worten: das Verhältnis der verschiedenen Exklusionsmechanismen zueinander.
Aber zuerst mal Klarstellungen:
1. Ich will zwei Diskurse zu Klassen unterscheiden: Einerseits einen analytischen Klassendiskurs der bspw. fragt: Benötigt der Kapitalismus eine Unterscheidung zwischen Produktionsmitteleigner*innen und doppelt freien Lohnarbeiter*innen? Sind Klassenverhältnisse ein primäres, konstituierendes Element des Kapitalismus oder ein sekundäres (Folge-)Element? Gibt es einen Kapitalismus ohne Klassen? Andererseits gibt es einen transformatorischen Klassendiskurs der fragt: Hat das Proletariat auf Basis ihrer Klassenposition ein Interesse den Kapitalismus abzuschaffen? Vertritt es die menschlichen Allgemeininteressen? Ist der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ein kapitalismusimmanenter Widerspruch oder transzendiert es ihn? Welche Bedeutung hat die Klassenposition der Akteur*inne für eine Überwindung des Kapitalismus?
2. Um Scheingefechte zu vermeiden: Ich bin überzeugt, dass der Kapitalismus eine Vergesellschaftung über Arbeit ist und das Profit durch Aneignung des Mehrwerts vonstatten geht und nur sekundär aus einer „Praxis des Übervorteilens“ (Schlemm, 3.2.2.) entstehen. Wir haben die Arbeitswerttheorie in unserem Buch weggelassen, weil sie das ganze zu kompliziert gemacht hätte, aber bei Autoren vertreten sie.
Und jetzt: los geht’s 🙂
Getrennte Privatproduktion oder Klassenverhältnis – das grundlegende soziale Verhältnis des Kapitalismus
Wenn ich versuche die Dynamik des Kapitalismus zu erklären (so haben wir es im Buch dargestellt), beginne ich mit dem sozialen Verhältnis der Produzent*innen, welches ich (mit Marx) als getrennte Privatproduktion von Eigentum bei gegenseitiger Bezogenheit darstelle, falls es einen befriedenden Staat gibt bekomme ich das Eigentum anderer nur durch Tausch, dies führt zur notwendigen Vermittlung über Geld und zu Konkurrenz, damit zu Kapital und Verwertungszwang und der Verselbständigung der Verhältnisse gegenüber den Menschen. Der Kapitalismus ist für mich dann eine Tauschgesellschaft, weil sein grundlegendes soziales Verhältnis das der getrennten Privatproduktion ist. Der Kapitalismus ist eine Re/Produktionsweise und gehört mit dem Feudalismus und anderen Re/Produktionsweisen zur Gruppe der Exklusionsgesellschaften, in welchen die Exklusionslogik bestimmend ist.
Annette Schlemm schreibt „Der Grund des Kapitalismus sind soziale Verhältnisse, bei der ‚doppelt freie Lohnarbeitende‘ (die persönlich frei und frei vom Eigentum an Produktionsmittel sind) ihre Arbeitskraft an Produktionsmitteleigentümer (egal ob das Menschen oder Institutionen sind oder Finanzfonds, die ihre eigene Rente finanzieren sollen …) verkaufen müssen“. Der Kapitalismus ist eine Klassengesellschaft, weil sein grundlegendes soziales Verhältnis ein Verhältnis der Klassen(herrschaft) ist.
Annettes erste Kritik ist, dass wir die „Besonderheit der Ware Arbeitskraft“ als mehrwertschaffende Ware übersehen, und somit Profit nur als „Praxis des Übervorteilens“ in der Zirkulation erklären können.1 Ich kann diese Kritik auf Basis des Buches verstehen, aber wir würden auch sagen, dass Mehrwert durch Ausbeutung und Aneignung der Mehrarbeit entsteht und nur als Extraprofit in der Zirkulation.
Ich will mich der Debatte nun mit einer Frage nähern: Kann es einen Kapitalismus ohne Klassen geben? Das kommt darauf an wie man Klassen begreift. Ich glaube ja: Kapitalismus ist logisch möglich, wenn es nicht eine Gruppe von Produktionsmitteleigentümer*innen und eine Gruppe ohne Produktionsmittel gibt (siehe dieser Text). Solch ein Kapitalimus wäre bspw. ein Genossenschaftskapitalismus, in welchem alle Menschen Lohnarbeiter*innen sind, aber gleichzeitig auch Eigentümer*innen der Produktionsmittel. Dieser Kapitalismus wäre durch die gleiche Dynamiken von Exklusion, Verwertungszwang, Wert, Fetisch etc. gekennzeichnet – und auch von Ausbeutung. Das Klassenverhältnis wäre nicht mehr personalisiert in bestimmten Gruppen, sondern in die Individuen hineingewandert. Obwohl die Individuen über die Produktionsmittel verfügen, können sie nur innerhalb des sozialen Verhältnis der getrennten Privatproduktion darüber verfügen und müssen sich selbst ausbeuten und die Produktionsmittel zum Zwecke der Kapitalverwertung einsetzen. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube Annette spielt mit ihrer nicht-personalen Definition von Produktionsmitteleigentümer*innen („Menschen oder Institutionen sind oder Finanzfonds“) eben auf diese Möglichkeit an. Dann würden wir hier näher beisammen liegen. Ich würde es so zusammenfassen: Ja, es kann Kapitalismus ohne personalisierte Klassenverhältnisse geben. Nein, es kann keinen Kapitalismus ohne Ausbeutung und Klassenverhältnis geben. Vielleicht noch eine polemische Spitze: Deshalb glaube ich, dass getrennte Privatproduktion das grundlegende soziale Verhältnis ist, nicht das Klassenverhältnis in welchem es „zweierlei verschiedne Sorten von Warenbesitzer [gibt] […] einerseits Eigner von Geld, Produktions und Lebensmittel […] andererseits freie Arbeiter“ (Marx MEW 23: 742). Die Dynamik der getrennten Privatproduktion und damit Tausch, Konkurrenz, Verwertung erzeugt Verhältnisse in welchen personalisierte Klassenstrukturen leicht entstehen können und Verhältnisse unter denen es immer Menschen gibt, die sich wie Kapitalist*innen verhalten müssen, auch wenn sie dies in ihrer eigenen Genossenschaft tun müssen.
Weiter geht’s mit Teil 2.
„Deshalb glaube ich, dass getrennte Privatproduktion das grundlegende soziale Verhältnis ist, nicht das Klassenverhältnis in welchem es „zweierlei verschiedne Sorten von Warenbesitzer [gibt] […] einerseits Eigner von Geld, Produktions und Lebensmittel […] andererseits freie Arbeiter“ (Marx MEW 23: 742).
Wenn ich das Kapital von Marx richtig verstanden habe, dann leitet er das Klassenverhältnis von Lohnarbeit und Kapital aus der Geldform ab, die den Schatzbildner, der Geld als Kaufmittel festhalten kann, zum Ausbeuter der Mehrarbeit eines Arbeiters macht, der keine Schätze bilden kann, weil ihm Geld nur als Verkäufer seiner Arbeitskraft, also nur als Zahlungsmittel zur Verfügung steht. Und von daher ist das Klassenverhältnis durchaus ein Ausdruck „der Sorte des Warenbesitzes“.
Auf der selben oben zitierten Seite steht es auch genauer, als hier belegt wurde:
„Geld und Ware sind nicht von vornherein Kapital, so wenig wie Produktions- und Lebensmittel. Sie bedürfen der Verwandlung in Kapital. Diese Verwandlung selbst aber kann nur unter bestimmten Umständen vorgehen, die sich dahin zusammenspitzen: Zweierlei sehr verschiedene Sorten von Warenbesitzern müssen sich gegenüber und in Kontakt treten, einerseits Eigner von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, denen es gilt, die von ihnen besessene Wertsumme zu verwerten durch Ankauf fremder Arbeitskraft; andererseits freie Arbeiter, Verkäufer der eigenen Arbeitskraft und daher Verkäufer von Arbeit. Freie Arbeiter in dem Doppelsinn, dass sie weder selbst unmittelbar zu den Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leibeigene usw., noch auch die Produktionsmittel ihnen gehören, wie beim selbst wirtschaftenden Bauern usw., sie davon vielmehr frei, los und ledig sind.
Mit dieser Polarisation des Warenmarkts sind die Grundbedingungen der kapitalistischen Produktion gegeben.
Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus. Sobald die kapitalistische Produktion einmal auf eigenen Füßen steht, erhält sie nicht nur jene Scheidung, sondern reproduziert sie auf stets wachsender Stufenleiter.
Der Prozess, der das Kapitalverhältnis schafft, kann also nichts anderes sein als der Scheidungsprozess des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozess, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsbedingungen in Kapital verwandelt, andererseits die unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter.“ (Marx MEW 23: 742)
Dazu mehr siehe auch Klassengegensaetze.
Danke, Simon, dass Du gleich versuchst, so produktiv auf die kritische Ergänzung von mir einzugehen…
Wenn Du „getrennte Privatproduktion“ als den wesentlichen Kern des Kapitalismus ansiehst, dann entsteht das Problem: Getrennte Privatproduktion gab es lange vorher (denn es stimmt ja nicht wirklich, dass im Feudalismus alle gemeinsam in Commons gewirtschaftet hätten). Ich nehme an, Du nimmst dann als Spezifikum für den Kapitalismus (gegenüber dem Feudalismus) mit Wood noch an, dass im Kapitalismus die Menschen gezwungen seien, sich durch Märkte zu vergesellschaften (während vorher eher Subsistenzproduktion vorgeherrscht hätte).
Aber auch das begründet die spezielle Dynamik des Kapitalismus noch nicht. Das hängt aber eben auch mit unseren „Definitionen“ von Kapitalismus ab. Wenn Du von vornherein die „Wert-Vergesellschaftung“ als Hauptbestimmung des Kapitalismus hast, dann brauchst Du bei jeder Erklärung auch nur dort herauskommen. Bei Marx jedoch ist das Kapitel 24 im 1. Band ganz wesentlich, weil dort eine „große Menschenmenge plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert wird“ (MEW 23: 744). Ohne diese historische Voraussetzung (die später, bei voll ausgebildetem Kapitalismus immer wieder eproduziert wird), ist m.E. (und zumindest mit Marx) kein wirklicher Kapitalismus möglich. Es hängt wirklich alles an der Kapitalismus-Definition.
Deinen „Genossenschaftskapitalismus“ kann ich wirklich nicht nachvollziehen. Letztlich müsste es eine Aneignung von Mehrwert von einer Gruppe durch eine andere geben, die alleine über deren Verwendung bestimmt und die der Produktionszweck wäre… Wenn es das gibt, ist es dann auch keine Genossenschaft mehr…
Wenn man nur die Wert-Vergesellschaftung als Kapitalismus ansieht – so ist das für mich, als würde man auf der Erde eine „Menschheit“ sehen, ohne dass es Menschen geben müsste.
@ Wolfram: „Dann leitet er das Klassenverhältnis von Lohnarbeit und Kapital aus der Geldform ab“ – nein, das leitet er nicht ab, sondern setzt es als historische Voraussetzung hinzu (Kapitel 24). Erst bei voll ausgebildetem Kapitalismus erzeugt er seine eigenen Voraussetzungen dann auch selbst und damit auch immer wieder dieses Klassenverhältnis. Das zitierst Du ja selbst auch („nur unter bestimmten Umständen…“).
@Annette:
„nein, das leitet er nicht ab, sondern setzt es als historische Voraussetzung hinzu“.
Wir haben da offensichtlich ein unterschiedliches Verständnis von begrifflicher und historischer Entwicklung. Der „voll ausgebildete Kapitalismus“ enthält doch wohl auch alle Elemente des „noch nicht vollständig ausgebildeten Kapitalismus“. Und ich sehe weder den Tauschwert, noch den Gebrauchswert noch den Wert der Arbeitskraft u.a. als eine absolute Größe, die es vor 300 Jahren noch nicht gegeben haben kann, weil es da noch keinen „vollständig ausgebildeten Kapitalismus“ gegeben hat. Es waren doch gerade die einzelnen Notwendigkeiten gesellschaftlicher Verhältnisse, die auch begrifflich schon durch die vereinzelte Form ihrer Substanz angelegt waren, auch wenn das darin geborene abstrakt Allgemeine noch nicht wirklich abstrakt allgemein (z.B. als Wert) entwickelt war.
Von daher halte ich es umgekehrt für falsch, die „vorgeschichtlichen“ Einzelarbeiten schon als Privatarbeiten zu bezeichnen. Denn Privatarbeit kann man doch überhaupt nur als Beziehung zu einer gesellschaftlichen Arbeit formulieren. Auch genossenschaftliche Arbeit bleibt solange noch eine Gemeinform der Privatarbeit, wie nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse als Gesellschaft von Arbeit und Bedürfnis existieren können.
Aber es steht doch auch frei, damit schon mal was bewirken zu wollen. Die Erfahrungen haben aber gezeigt, dass das bisher meistens nach hinten losging, gerade, weil sich das abstrakt Allgemeine der Gesellschaft als Geldform (z.B. als Kredit) ziemlich schnell dazwischen gedrängt hat. Ähnliche Gefahren gibt es auch mit früheren Keimformtheorien in der alternativen Bewegung der 70/80er Jahre.
Es sind halt „nur“ Erfahrungen, sonst nichts.
„Von daher halte ich es umgekehrt für falsch, die „vorgeschichtlichen“ Einzelarbeiten schon als Privatarbeiten zu bezeichnen.“
Tatsächlich, sie sind nicht „Privatarbeiten“ wie jene innerhalb der kapitalistischen Totalität (das ist wie mit den Begriffen von „Ware“ und „Gebrauchswert“…). Dann ist aber die Bedeutung der „Privatarbeit“ an die Bedeutung aller Kategorien gebunden, die den Kapitalismus charakterisieren. Und ich sehe sie nicht als die Fundamentalkategorie, aus der z.B. die Ausbeutung und die Klassen nur noch „abgeleitet“ werden, sondern als eine Kategorie zur Bezeichnung der Vereinzelung der Unternehmen gegeneinander, die die bedeutsame Polarisierung zwischen den Klassen eher verdeckt als entschlüsseln hilft.
@Annette:
„Dann ist aber die Bedeutung der „Privatarbeit“ an die Bedeutung aller Kategorien gebunden, die den Kapitalismus charakterisieren. Und ich sehe sie nicht als die Fundamentalkategorie, aus der z.B. die Ausbeutung und die Klassen nur noch „abgeleitet“ werden, sondern als eine Kategorie zur Bezeichnung der Vereinzelung der Unternehmen gegeneinander, die die bedeutsame Polarisierung zwischen den Klassen eher verdeckt als entschlüsseln hilft.“
Ja, das sehe ich auch so. Die Polarisierung entsteht durch das Verhältnis von Wert und Preis der Arbeitskraft. Der Widerspruch von Privatform und Gesellschaftsform, den Marx schon in seinen ersten Schriften zum Thema eingeführt bzw. übernommen hatte ist erst mit der Entfaltung der Wertform erklärt, worin das Verhältnis der Waren als Wertdinge ausgeführt wurde. Allerdings eben nur, weil jede einzelne Ware eine private und eine gesellschaftliche Beziehung enthält und verwirklicht und deshalb Wert hat und Wertform ist.
Historisch war die Trennung der Menschen von ihren Produktionsmitteln schon vorgängig… (erst wenn der Kapitalismus voll ausgebildet ist, erzeugt er diese Voraussetzung dann auch selbst immer wieder).
Und mit Klassenkampf hatte das auch zu tun (siehe Brenner zum Unterschied der Klassenbeziehungen und Resultate der Klassenkämpfe im vorkapitalistischen England und Frankreich).
So pauschal lässt sich das nicht bestimmen. Und was man von der Geschichte „kennt“, hängt auch sehr davon ab, ob man sich frühzeitig auf eine bestimmte Konzeption festlegt, oder sich erst mal weiter und breiter umschaut.
Es gab z.B. entscheidende regionale Unterschiede beim Übergang vom Feudalismus in den Kapitalismus hinein (Preußen und Japan anders als Westeuropa …). Z.B. gab es auch in Flandern im Hochmittelalter eine hochproduktive, marktorientierte Landwirtschaft, aus der kein Kapitalismus hervorging. Um 1500 war die agrarische Produktivität in Belgien und Holland noch größer als in England.
Wichtige Besonderheiten in England waren z.B. die Klassenkräfteverhältnisse (z.B. durch den Aufstand unter Wat Typer 1381), wodurch lange Zeit eine direkte Besteuerung der englischen Bauern durch den König verhindert wurde, was auch dazu führte, dass die feudale Rente bald als Geldrente geleistet wurde. Andere Faktoren waren, dass es oft die früheren Leibeigenen selbst waren, die durch Arbeitsproduktivitätssteigerung den von ihnen bearbeiten Boden kaufen konnten und zur Yeomantry aufsteigen und jene, die keinen Erfolg hatten, als Lohnarbeiter bei sich beschäftigen konnten. Es war dann auch eher ein glücklicher Zufall, dass zur gleichen Zeit Textilrohstoffe nicht mehr nur exportiert wurden, sondern zu einer eigenen Tuchproduktion übergegangen wurde… (was auch mit gleichzeitigen Problemen im Fernhandel zu tun hatte). Das alles ist nicht vollständig, sondern zählt nur einiges auf, was ich mindestens zusätzlich in Betracht ziehen würde…
Was Du erwähnst, Benni, der Versuch der Hinderung der Landflucht, war in England nur kurze Zeit erfolgreich (ca. 2 Jahrzehnte). Wichtiger für die Verfügbarkeit von Arbeitskräften war die Festlegung der Löhne (im 16. Jhd.), was wiederum mit Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen zusammenhing.
Die Einhegungen des 15. Jhd. hatten noch mal eine spezielle Vorgeschichte (Bevölkerungsrückgang im 14.Jhd., Verfall der Renten und Domänenpacht, gleichzeitig hohe Wollpreise).
Das ist alles ein weites Feld der Forschung und die wichtigsten Vernderungen sind grundsätzlich multifaktoriell begründet, wobei es dann fast Glaubenssache ist, welche der zeitlichen Korrelation man als Kausalbeziehung interpretiert…
Ich habe da im Moment gar keine feste Meinung, „wie es wirklich war“; aber ich kenne viele sehr stimmige Erklärungen von Zusammenhängen, dass ich zumindest bei Behauptungen, die sehr einseitig klingen (dazu gehört auch Wood, die die Vorgeschichte der rechtlichen Regelungen, die in England so besonders waren, einfach nicht weiter thematisiert), stutzig werde…
@annette ich sehe nicht, wieso das meiner auffassung widerspricht, dass sich klassen- und tauschverhältnisse gegenseitig bedingen auch historisch. im gegenteil bestätigst du das ja eher. darum gings doch.
Benni, ich bezog mich auf den Kommentar direkt vorher, wo Du den Agrarkapitalismus mit „erst“ vorangestellt hast…
ja, hab ich schon verstanden. naja, wir reden aneinander vorbei. macht ja nix, vielleicht ein ander mal 🙂
@Benni8: Magst du das ausführen? Ich versuch ja im obigen Text eine Unterscheidung aufzumachen zwischen einem personalisierten Klassenverhältnis und dem Klassenverhältnis an sich, als eine notwendige Trennung der Interessen der Arbeiter*innen und des Unternehmensinteressen, was dann genauso in Genossenschaften gilt. Hiermit würde ich aber sagen, dass das Klassenverhältnis und Ausbeutung ein Produkt von Tauschverhältnissen ist. Historisch sieht das nochmal anders aus, weil personalisierte „Klassen“/Eigentumsverhältnisse im Feudalismus existieren und diese sich in den Kapitalismus hinein verändern.
@Annette: Zuerst das analytische:
Ich glaube ich hab einen spezifischen Begriff von getrennter Privatproduktion (wie ich mir insgesamt unsicher bin wie weit der Begriff inhaltlich gefüllt ist?). Ich glaub zur Unterscheidung macht es vielleicht der Vergleich zwischen römischen Reich und Kapitalismus deutlicher als jener mit Feudalismus. Im römischen Reich wurde Massenwaren (Wein, Olivenöl, Fischsauce, Töpferwaren etc.) per Handel getauscht. Aber trotzdem würde ich nicht von getrennter Privatproduktion sprechen, da die Austauschbeziehungen noch sehr deutlich politisch reglementiert waren, es kam selten zu einer Konkurrenz verschiedener Produktionsstandorte (vgl. Tchernia 2016). Getrennte Privatproduktion ist für mich ein Verhältnis von Produzent*innen welche tatsächlich getrennt sind, dass heißt ihre Produktion füreinander wird nicht durch politische, religiöse, familiäre o.ä. Institutionen reglementiert. Erst dann nimmt ihr Austausch eine bestimmend ökonomische Form an (natürlich sind sie weiter bspw. politisch verbunden, aber eher durch einen Handlungsrahmen, als Handlungsanweisungen).
Was meinst du damit?
Ich versuche mit dem Bsp. des Genossenschaftskapitalismus eine nicht-personalisiertes Klassenverhältnis aufzuzeigen. Die Menschen in der Genossenschaft besitzen die Produktionsmittel und gleichzeitig sind sie Lohnarbeiter*innen in der Genossenschaft. Es gibt also keine personalisierte „Gruppe“, welche sich den Mehrwert aneignet. Es gibt höchstwahrscheinliche eine funktionale Differenzierung in der Genossenschaft, einige Lohnarbeiter*innen welche sich um die Unternehmensinteressen kümmern müssen und mit den anderen dann die Richtung des Genossenschaftsunternehmens diskutieren müssen. Aber es gibt keine Kapitalist*innen mehr welche sich den Mehrwert aneignen und überlegen ob sie reinvestieren oder den MW „verknuspern“.
Historisch: Ich bin mir noch nicht sicher wie es gut geht historische Auseinandersetzungen zu führen, aber wir können es ja mal versuchen:
Ich kann zuerst mal nur für die englische Agrargeschichte reden, weil ich mich mit der am ehersten auskenne (mit der römisch-antiken :)): Ich habe ja in der Hausarbeit versucht Brenner-Woods-These mit der Empirie abzugleichen und ich würde sagen: das funktioniert weitgehend. Tatsächlich scheint es so als sei die Herausbildung eines produktionsmittellosen Proletariats Produkt einer Durchsetzung von Leasehold (ökonomische Pachtverträge) auf dem Land. Diese Durchsetzung geht zusammen mit Einhegungen als Durchsetzung von Privateigentum auf dem Land. Und ja „Klassen“verhältnisse sind hierfür auch wichtig: der englische Adel kontrolliert sehr viel Land direkt.
Die Yeomen sind ganz schön umstritten. Wood pp geht davon aus, dass sie eigentlich die reicheren Pachtbäuer*innen sind, also die kapitalistischen Agarunternehmerinnen. Bruce Cambpell und Mark Overtone gehen davon aus, dass die Yeomen selbständige Bäuerinnen sind, welche den Agrarkapitalismus weniger durch Pachtzwänge als durch Eigenmotivation und Profitsteigerung auf den Weg bringen. Dagegen sprecher aber tatsächlich ihre eigenen Zahlen wenn Overtone feststellt, dass am Anfang des 19. Jh. 75-80% des englischen Landes über Leasehold vergeben wird.
PS: Das die Besteuerung durch den König verhindert wurde ist spannend, weil das ja Frankreichs Weg aus der „Revenue Crisis“ des Adels ist: die direkte Besteuerung und Unterwerfung der Bäuerinnen unter einen absolutistischen Staat. Hast du die Quelle dafür?
„Das die Besteuerung durch den König verhindert wurde ist spannend…“ – steht u.a. bei Gerstenberger, Heide (1990/2017): Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung der bürgerlichen Staatsgewalt. Münster: Westfälisches Dampfboot. S. 32. Ähnlich argumentiert J. Kuczynski im Vergleich England-Deutschland über die Bedeutung der Aufstände in England.
Zur Geschichte: Ich habe es immer noch nicht geschafft, die Brenner-Debatte zur Entstehung des Kapitalismus zu exzerpieren. Simon, mich würde sehr interessieren, wie aktuell das heutzutage noch ist, denn mich überzeugt das Meiste von ihm sehr (aber immer gemessen an den damaligen Gegenkonzepten, die aktuelle Position dazu kenne ich nicht).
Diese auch von Wood zitierten Texte sind ja ein Hintergrund von Wood, ohne den m.E. ein Verweis auf Wood auch zu kurz greift. Wir hatten dazu schon mal kurz gesprochen. Für die anderen: Wood setzt Ergebnisse von Brenner voraus, die sie selbst nicht noch mal thematisiert. Das ist ja legitim – aber wenn wir was daraus lernen wollen, müssen wir das nicht mit Genannte selbst auch kennen und ernst nehmen. Bei Brenner ist das z.B. der Verweis auf die jeweilige Spezifik der klassenbezogenen Kräfteverhältnisse in England im Vergleich zu Frankreich.
„Ich versuche mit dem Bsp. des Genossenschaftskapitalismus eine nicht-personalisiertes Klassenverhältnis aufzuzeigen.“
Ich würde dann erst mal klären, was Klassen sind. Du hattest es nach Meinung von Stefan, wie ich seine Kritik an dir aufgefasst habe, eher mit soziologischen Klassifizierunge versucht (personifizierende Zuschreibung wer wo dazu gehört), was Du hier nicht mehr machst. Stefan hatte dann geschrieben, dass Klassen eher funktional zu bestimmen wären (nach ihrer Funktion in der Gesellschaft, wobei beide Hauptklassen funktional für den Kapitalismus seien) – ich denke dagegen, Klassen sind Verhältnisbegriffe, die gemeinsame strukturelle Interessenkonstellationen in Bezug auf die Produktion, Aneignung und Verwendung des Mehrprodukts beschreiben. „Verhältnisse“, das ist immer etwas, wo sich Etwas auf sich selbst bezieht, aber in Bezug zu etwas Anderem. Beide, das „Etwas“ wie das „Andere“ sind nicht substantiell festgelegt, sie sind auch nicht identisch mit Personen, sondern die Verhältnisse können sich ändern und sich auch innerhalb von Personen „aufteilen“…
Was Du beschreibst mit dem „Genossenschaftskapitalismus“ – das wäre für mich kein Kapitalismus mehr… (siehe die Kapitalismusbestimmungsdiskussion bei dem anderen Beitrag).
Bei Marx hat der Klassenbegriff ja noch etwas mit gegensätzlichen Lebensbedingungen zu tun:
„Die Eigentümer von bloßer Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital und die Grundeigentümer, deren respektive Einkommensquellen Arbeitslohn, Profit und Grundrente sind, also Lohnarbeiter, Kapitalisten und Grundeigentümer, bilden die drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft.“ (K. Marx, Kapital III, MEW 25, 892)
Ist das für heute genommen falsch?
Ich hatte geschrieben: “ Klassen sind Verhältnisbegriffe, die gemeinsame strukturelle
Interessenkonstellationen in Bezug auf die Produktion, Aneignung und
Verwendung des Mehrprodukts „
Tatsächlich habe ich dabei die Entgegengerichtetheit der strukturellen Interessenkonstellationen da nicht erwähnt, die ich aber für Klassengesellschaften voraussetze.
Ich denke, das gilt auch heute noch. Denn gesellschaftlich gesehen sind Menschen nicht nur Individuen mit diesen oder jenen individuellen Handlungsgründen (wie es Simon und Stefan im Buch sehen), sondern durch ihre Stellung im Produktionsprozess, bezüglich des Eigentums an Produktionsmitteln etc. gibt es m.E. eine weitere Ebene, auf denen die strukturell unterschiedlichen und entgegengesetzten Interessen thematisiert werden müssen und auf der ist es nicht nur eine Frage der individuellen Entscheidung über Handlungsgründe und Handlungsmöglichkeiten, sondern sie thematisiert gerade die Grenzen der Möglichkeiten unter den gegebenen Verhältnissen…
Und obwohl heute wie zu Marxens Zeiten die Zuordnungen zu Klassen eben nicht einfach soziologistisch geschehen kann, ist es heute wie zu Marxens Zeiten nicht trivial, über Klassen zu sprechen, aber m.E. genau so notwendig.
Deine Festlegung “ alle Menschen Lohnarbeiter*innen sind, aber gleichzeitig auch Eigentümer*innen der Produktionsmittel“ ist aber sowieso logisch unmöglich. Denn die Definition von „Lohnarbeiter*in“ beinhaltet, dass sie keine Pm besitzt und die Definition von „Eigentümer*in von Produktionsmitteln“, dass diese eben nicht in der vielleicht auch möglichen Mitarbeit betrachtet, sondern NUR in der Funktion als „Eigentümer*in von Produktionsmitteln“ betrachtet werden. Damit hast Du die Trennung in den Begriffen, die Du aber willkürlich aufheben willst.
Ansonsten versteh ichs immer noch nicht:“Solch ein Kapitalimus wäre bspw. ein Genossenschaftskapitalismus, in welchem alle Menschen Lohnarbeiter*innen sind, aber gleichzeitig auch Eigentümer*innen der Produktionsmittel. Dieser Kapitalismus wäre durch die gleiche Dynamiken von Exklusion, Verwertungszwang, Wert, Fetisch etc. gekennzeichnet – und auch von Ausbeutung.“
Ich formuliers mal so, dass der inhaltlich-logische Widerspruch nicht mehr drin ist: Dann ginge es um ein Verhältnis zwischen Gruppen mit jeweils gemeinsamem Gruppeneigentum, die gemeinsam arbeiten (Genossenschaften), die im Austausch mit anderen stehen…
Wieso wäre ein Verhältnis, in denen Gruppen von Menschen mit jeweils gemeinsamem Gruppeneigenum gemeinsam arbeiten und mit anderen Gruppen Güter oder was auch immer austauschen, durch „Exklusion, ,
Verwertungszwang, Wert, Fetisch etc. gekennzeichnet – und auch von Ausbeutung“ gekennzeichnet??? Da unterstellst Du kapitalistische Grundlagen, die du aber nicht mit explizierst…
Wenn solche Gruppen Produkte oder was auch immer einfach nur austauschen, passiert genau das, was beim adäquaten Austausch vorausgesetzt wird: das die Beteiligten Gleiche sind, dass sie einander zwar übervorteilen können, aber keinen Wert und keinen Mehrwert im kapitalistischen Sinne generieren… und damit auch nichts haben, um das sie konkurrieren könnten.
Die Ebene der Produktion mit der Ausbeutung ist deshalb GRUND, weil es ohne sie nichts zu tauschen gibt… Das ist bei Marx ja auch der Übergang der Argumentation, um von der Zirkulationsebene in die Produktionsebene zu wechseln.
Solange in unserer Gesellschaft ‚business as usual‘ läuft, bleiben die sozialen Brüche und Gewichtungen weitgehend unsichtbar. Falls es zu einem ungeordneten Brexit kommt, erleben wir quasi im „Reagenzglas“ eine europaweite politische Krise mit weitgehenden wirtschaftlichen Folgen.
Ein ungeordneter Brexit wird zur größten internationalen Notfallübung in Friedenszeiten. Damit wird deutlich, dass die Existenzmittel aller Lohnabhängigen nicht innerhalb ihrer Verfügungsgewalt stehen. Unsere Reproduktion ist im Kapitalismus von einem uns fremden Willen abhängig – von Kapitalisten und Regierungen.
Das Ansehen und die Legitimität von Regierungen und Unternehmern hängt in hohem Maße davon ab, wie gut oder schlecht sie die Versorgung von uns Lohnabhängigen mit Nahrung, Kleidung, Energie und Medikamenten händeln. Meistern die EU-Staaten und Großbritannien die kommende Brexit-Krise, dann bleibt der Brexit ohne große Folgen. Kommt es durch den Brexit zu schwerwiegenden Versorgungsengpässen für erhebliche Teile der Bevölkerung, dann beginnt eine neue Epoche mit sehr instabilen politischen Verhältnissen. Darauf sind weder ein Corbyn, noch die Linken in Europa vorbereitet.
Ich denke, wenn sich die Linken keine Gedanken über unsere Versorgung mit Lebensmitteln im weitesten Sinne machen, dann bleibt alles linke Gerede von Bedarfsproduktion leeres Geschwätz.