Über rechtsfreie Räume und andere Scheidewege
Die Debatten um die Gestaltung der digitalen Zukunft werden schärfer. Man kriegt den Eindruck die alten Eliten merken erst jetzt so langsam, was da auf sie zu rollt. Deswegen ist ihr zwar nicht mehr ganz so neuer Schlachtruf, der der Netzgemeinde nun aus allen Ecken entgegenschallt:
„Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein!“
Die nachvollziehbare Reaktion aus dem Netz lautet meist in tausendfacher Variation:
„So ein Unsinn! Hier gibt es jede Menge Gesetze die zu beachten sind!“
und vielleicht dann auch noch mit einem defensiven
„Das Internet darf kein bürgerrechtsfreier Raum sein!“
So weit so richtig. Jedem der sich mal mit Publizieren im Netz beschäftigt hat wird mulmig bei dem zu beachtenden Dschungel an Lizenzen und AGBs, Impressumpflichten und Störerhaftung, Datenschutz und Urheberrechten. Jedoch meinen die alten Eliten im Grunde etwas anderes und zu anderen Gelegenheiten ist das der Netzgemeinde auch völlig bewußt: Im Kern ist das Netz unkontrollierbar, oder wie es John Gilmore schon 1993 so treffend und tausendfach zitiert sagte:
„The Net interprets censorship as damage and routes around it.“
Meistens werden in diesen Diskussionen um irgendein Feld im Netz, das es zu kontrollieren gilt, dann jede Menge Vergleiche aus der analogen Welt bemüht. Meistens kommen Zäune und Diebe drin vor und der gute Schutzmann von der Wache um die Ecke. Diese Vergleiche sind meist Unsinn weil sie die zentrale Eigenschaft der digitalen Welt außer Acht lassen: Die fast kostenlose digitale Kopie. Das bedeutet nämlich, dass es nur einem Dieb auf der ganzen Welt gelingen muss über irgendeinen Zaun zu klettern ohne dass er erwischt wird und schon können alle anderen davon profitieren.
Das bedeutet nicht, dass der Kampf um ein freies Internet schon gewonnen ist. Es bedeutet aber, dass, wenn er verloren geht, der nette Schutzmann von Nebenan sich in eine ziemlich unangenehme Horde Schnüffler und Schläger verwandeln muss. Oder anders gesagt: Mit dem Umgang mit der digitalen Welt steht unsere Gesellschaft auch vor einer digitalen Wahl: Polizeistaat oder Völlige Freigabe aller Information. Es mag ein paar Jahre des Lavierens geben in denen alle möglichen Regulierungen und Stoppschilder eingeführt werden. Aber jede einzelne dieser Maßnahmen wird auf Grund der Natur der digitalen Kopie nach relativ kurzer Zeit entweder komplett wirkungslos oder verschärft, es gibt also nur die beiden genannten Attraktoren. Entweder man lässt der digitalen Kopie freien Lauf oder man schränkt sie ein und setzt das durch zunehmend martialische Polizeimaßnahmen durch. Im Iran sehen wir gerade, wie das aussieht. Dort ist es die Kritik an der Regierung die in erster Linie verfolgt wird, bei uns wird es wohl eher auf Verletzungen an Eigentumsrechten im digitalen Raum hinauslaufen, die massiv verfolgt werden (oder eben zugelassen).
Bis hierhin hat das alles im Grunde Kristian Köhntopp schon einmal viel schöner beschrieben.
Was bedeutet das aber für uns die wir nicht nur den Status Quo einer halbwegs liberalen Gesellschaft erhalten sondern darüber hinaus eine erreichen wollen in der Markt und Staat nicht mehr die hegemoniale Rolle wie heute spielen und am besten ganz verschwinden? Wenn etwas klar geworden sein sollte in all den Jahren in denen wir uns jetzt mit der Frage der Transformierbarkeit beschäftigen, dann ja wohl, dass die Möglichkeiten der digitalen Kopie vielleicht keine hinreichende aber doch zumindestens heute notwendige Bedingung zur Erreichung unserer Ziele sind. Erst letztens wieder habe ich gelernt wie wichtig Kommunikation und Information für die Commons schon immer waren. Deswegen ist auch meine Wahl klar, wenn auch aus anderen Gründen als bei Kristian: Für die digitale Kopie! Für die Commons!
Annette hat letztens ausgeführt, dass es einen ähnlichen Bifurkationspunkt auch in der Frage des Klimas gibt. Auch dort entscheidet sich in den nächsten Jahren sehr viel in der Infrastruktur und es werden Weichen für lange Zeit gestellt. Die Situation ist also bei den materiellen Commons ganz ähnlich wie bei den immateriellen.
Was machen wir mit dieser Situation? Müssen wir jetzt Parteiarbeit – sei es bei den Piraten oder den Grünen oder den Linken – machen weil nur so zeitnah Einfluss genommen werden kann auf wichtige staatliche Prozesse? Ich hoffe wir finden einen anderen Weg. Ich hab eine Parteiallergie und Hyposensibilisierung dauert bekanntlich mindestens drei Jahre. Vorschläge?
Absolut guter Artikel. Aber die Kernfrage zu lösen scheint schwierig, da alles im Partei-Gehaule hängen bleibt und fähige Outsider immer in den Allerwertesten getreten werden.
Einen Endkampf zwischen totaler Kontrolle (alte Eliten, der Staat) und totaler Freiheit (neue Eliten, das Netz) sehe ich nicht. Vielmehr scheint mir die allgemeine Aufgeregtheit damit zu tun zu haben, dass der alte Kompromiss der Kalifornischen Ideologie (freie Information und freie Maerkte) in den verschiedenen Finanzkrisen zerbrochen ist.
Recht wahrscheinlich ist in so einer Situation ein technokratischer Kompromiss zwischen Verfechtern eines starken Wohltaeterstaates und den Digitalisierern. Das technische Filtern geht ja schonmal in diese Richtung. Damit koennen die neuen Eliten weiterhin tun und lassen was sie wollen in ihrem Netz und der Rest wird technokratisch vor seinem eigenen Schaden geschuetzt.
@Thomas: Den Zusammenhang zwischen Zerbrechen des Kompromisses der kalifornischen Ideologie und der Finanzkrise würd ich gerne etwas genauer haben. Ist der denn wirklich zerbrochen? Sind die vorpreschenden Zensurprovider der Beleg dafür? Und was hat die Finanzkrise damit zu tun?
Nach einem Kompromiss sieht es aber zur Zeit so gar nicht aus. Das Netz kocht politisch wie noch nie meiner Wahrnehmung nach.
In der Kalifornischen Ideologie haben sich Hippielibertaere und Neoliberale auf das Netz als kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt. Als Musterbeispiel dafuer hier bei uns in Europa warb der hardcore-neoliberale Bangemann Report fuer Internet koste es was es wolle. Die Freiheit der Information schien damals noch das ideale Werkzeug um den idealen Markt zu verwirklichen. Und der wiederum galt als der einzig moegliche Garant fuer „Wettbewerbsfaehigkeit“ und „Wohlstand fuer alle“. Das setzte auch voraus, dass sich staatliche Akteure erstmal hauptsaechlich damit beschaeftigten sich ueberfluessig zu machen.
Das hat sich nun seit dem letzten Jahr veraendert. Der neoliberale Teil des Kalifornischen Kompromisses ist unter Legitimationsdruck. Staatliche Akteure gefallen sich jetzt in der Retterpose und dazu passt gut dass sie sich berufen fuehlen auch in anderen Bereichen den beschuetzenden Staat zu spielen – z.B. in unseren Kommunikationsinfrastrukturen.
Mein Argument im letzen Kommentar war, dass ein Kompromiss zwischen Vaterstaat und aufmuepfigen Bloggern ebenso moeglich ist wie er zwischen Hippies und Neoliberalen moeglich war. Ich habe deinen Beitrag gelesen als wuerde er eine Unvereinbarkeit der Pole behaupten. Ich aber vermute der Kompromiss wird im Kern admistrativ-technokratisch sein, ein effizienter technological fix „zu unser aller besten“ mit ein paar unauffaelligen Extraprivilegien („api keys“) fuer die, die damit was anfangen koennen. Aber das ist nur meine zugegeben nicht besonders originelle Spekulation. Mal sehn.
@Thomas: Aber der Clou ist doch, dass aufgrund der Natur der digitalen Kopie es reicht wenn einer den Api-Key hat, damit alle was davon haben. Es müssen nicht alle technikgeeks sein. Ein solches Bündnis würde voraussetzen, dass die Geeks einem DRM-Chip in allen Rechnern zustimmen und das werden sie aus Eigeninteresse nie tun und solange es den nicht gibt wird es kein kontrolliertes Netz geben können.
@benni Du hast recht, der Chip wuerde alle gleich einschraenken, auch die Digeratis, deshalb ist er nicht aktuell. Eine differenzierte Herausgabe eines Software-Schluessels schraenkt viel differenzierter ein. An den Schluessel koennen vom Herausgeber differenzierte Bedingungen geknuepft werden und immer ist ein gewisses Vorwissen Bedingung fuer die Benutzung. Wichtiger aber: Den Schluessel zu bekommen und ihn zu benutzen ist dann lange nicht gleichbedeutend damit, ihn zu benutzen um der Allgemeinheit zu nutzen. Einige der Bediungen fuer diese Nutzung habe ich in meinen Kommentaren zu beschreiben versucht.
Und: Information verschleisst immer schneller, die Faehigkeit Information zu erzeugen ist daher die wichtigere Faehigkeit. Vielleicht sollte mans analog zu Foucault’s Biomacht sagen: Die Machtbasis des alten Souveraen war Leben zu gewaehren und Leben zu nehmen, der neue Souveraen hingegen basiert seine Macht darauf dass Leben selbst zu regulieren. Uebertragen auf Information: Der alte Souveraen gab und nahm Information (Propaganda und Geheimhaltung), der neue produziert und steuert Information. Diesen Souveraen sehe ich derzeit eher in Google als im Staat. Ok, jetzt habe ich gaenzlich ein neues Fass aufgemacht.
@Thomas: Es ist nicht gleichbedeutend aber es reicht wenn es einer tut.
Informationen erzeugen hängt immer mehr von der Fähigkeit zum Remixen und Mashupen ab.
Das mit Google ist tatsächlich ein anderes Fass das hatten wir hier an anderer Stelle auch schon, vielleicht da. Oder am Besten Du schreibst einen Artikel dazu 🙂
Die Frage war eindeutig: „Vorschläge?“
Parteiarbeit? Welche objektiven Beweggründe gegen Parteiarbeit gibt es? Vermutlich haufenweise.
Dennoch ist der Staat das Ergebnis gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse – als solcher ist er auch einen Blick wert. Möglich, dass innerhalb von Parteiarbeit Kräfteverhältnisse verschoben werden können – wichtig sind aber die auch finanziellen Vorteile, die sich aus den „linken“ Parteien und ihrem Einfluss ergeben.
Zentral ist aber vielleicht etwas anderes: Im repräsentativen Staatsgebilde dominieren traditionelle Hegemonien, die nur durch konkrete Kämpfe immer wieder durchbrochen werden können. Diese Kämpfe finden statt, ob Intellektuelle sie wahrnehmen oder nicht. Meistens finden die Kämpfe auf basisdemokratischer Ebene, nur einzeln mit herkömmlichen Strukturen verbandelt statt. Seit mehreren Jahren scheinen die Kämpfe vielfältiger zu werden, verschiedene Bewegungen einzuschließen und trotz unterschiedlicher Interessenlagen eine gemeinsame (wenn auch schwammige) Zielvorstellung zu begreifen. Möglicherweise ist diese Zielvorstellung auf den bloßen Satz „eine andere Welt ist möglich“ (und damit gegenhegemonial) einschränkbar – es gibt aber Vorstellungen, wie Kämpfe auch im weiteren (positiven) Sinne (zusammen) fassbar werden: „Globale Soziale Rechte“ oder „Antikapitalismus/Kommunismus/Anarchismus“. Gemeingüter/Commons sind in diesen Kämpfen nichts Neues, sondern etwas neu Aufzugreifendes. Eine Entwicklung, die schon früh theoretisch gefasst wurde (Marx/Luxemburg?) und traditionell (z.B. Wälder) wie gewerkschaftlich (z.B. Genossenschaften) wichtig ist. Das Internet etc. entfaltet eine neue Dimension, die den bisherigen Kämpfen vielleicht neue Kräfte und Innovationen zuwachsen lassen könnte.
Marx, Gramsci, kritische Theorie und Foucault (auch ein bisschen Poulantzas und Bourdieu) helfen weiter, glaube ich. Auch Hardt/Negri sollten Ansätze liefern: Eine „Multitude“, die konkrete Missstände zum Anlass nimmt, aber immer antikapitalistisch ausgerichtet ist, kann Kämpfen weitere Energien verleihen.
Das ist sehr verkürzt und unkonkret – im Gegensatz zur schönen Parteienlogik. Ansätze müssen aber trotz immer wieder schwieriger Situationen gefunden und verwirklicht werden – gerade im Versuch, aus dem Alten Neues zu extrahieren (was das schöne an diesem Blog ist, nebenbei bemerkt). Welche Ansätze die Subjekte innerhalb des Kapitalismus wählen, muss der eigenen gegenhegemonialen Logik überlassen bleiben – ohne weitere dogmatische Mainstreaming-Versuche.
Sehr schön bei Marcos heißt es: Der Kampf ist wie ein Zirkel, er fängt an einem Punkt an und findet danach kein Ende mehr. Wenn also die Frage nach konkreten Vorschlägen kommt, dann müsste die Antwort lauten: Fangt an euch selbst zu organisieren!
Propagandistisch:
Haltet Eure Augen und Ohren auf!
Löst euch aus der Lethargie!
Reissen wir die Mauern ein, die uns trennen!
Wir haben nichts zu verlieren außer unsere Angst!
Kommt zusammen Leute, lernt euch kennen!
Zusammen Kämpfen! Zusammen Siegen!
Klasse gegen Klasse!
Nachtrag: Womöglich ist es die Logik dieses Staates, auf eine Phase des relativen Liberalismus im Internet nun eine Phase weiter ausgebauter autokratischer Herrschaft folgen zu lassen.
Dann stellt sich aber doch mal die Frage: What would it mean to win?!
@benni
Zwischen Erzeugen und Remixen ist fuer mich schon lange kein Unterschied mehr und das meinte ich auch.
Und wenn „es einer tut“ (naemlich die Information frei zu setzen), dann reicht das eben nicht, denn die blosse Existenz einer Information (und sei sie noch so massenhaft) ist nicht gleichbedeutend mit ihrem Gebrauch zum Nutzen der Allgemeinheit. Da koennen wir doch nicht uneinig sein, oder? Wir leben eben nicht mehr in einer Welt, in der ein Wikileak schon einen Fruehling macht. Stattdessen leben wir zunehmend in einer Welt des mit allen Wassern gewaschenen Publikums und der konkurrierenden Verschwoerungstheorien.
Zu Google (als Beispiel fuer eine neue Art von Informationsmacht) habe ich hier unsere etwas aeltere Diskussion fortgesetzt.
@Thomas: Wenn Erzeugen immer Remixen ist, dann ist die digitale Kopie Bedingung für Produktion. Zusätzlich wird das Remixen immer besser je mehr mitmachen. Selbst wenn es also eine Informationserzeugerkaste gibt, ist sie schon aus Eigeninteresse an ihrer Ausweitung interessiert. Und deswegen auch an einer Universalität der digitalen Kopie und nicht bloß an einer eingeschränkten Universalität für die eigene Kaste. Das ist nicht bloß eine theoretische Überlegung sondern lässt sich genau so beobachten zur Zeit.
Das Informationsfreiheit alleine noch keine Revolution oder auch nur bloß Reform macht: Geschenkt. Davon sprach ich ja aber auch nicht. Ich sagte nur, dass es eine Wahl zwischen Informationsfreiheit und Polizeistaat gibt und das ersteres eine notwendige aber natürlich alles andere als hinreichende Bedingung für Veränderungen in unserem Sinne ist.
@benni zwei Nachfragen zu deinem Remixbegriff:
Warum ist die analoge Kopie (z.B. das gute alte Zitat aus einem Buch) grundsaetzlich ungeeignet fuers Remixen (=Produzieren) von Information?
Und: Gibt es nicht unterschiedliche Grade der Beteiligung in und Kontrolle ueber einen Remix?
@Thomas: Die analoge Kopie ist nicht grundsätzlich ungeeignet, nur halt nicht so gut geeigent. Das zeigt doch der Remixboom in den letzten Jahren.
Und: Ja, es gibt unterschiedliche Grade von Beteiligung und Kontrolle. Hab ich was anderes behauptet?
@Jonas: Danke dafür, dass Du als einziger versuchst meine Frage zu beantworten. Das mit dem Kämpfen wird hier allerdings gerne mal ein bisschen kritischer gesehen.
Anonsten geht es ja nicht so sehr um die Frage ob man sich organisiert (das scheinst Du mit Deinem Appell zu unterstellen), sondern eher wie. Dazu steht dann leider auch bei Dir nicht allzu viel. Nun, uns wird schon noch was einfallen (müssen).
@benni#14: Wenn es deiner Meinung nach auch analoge Kopien das Remixen ermoeglichen dann wundert mich, dass du schreibst dass die digitale Kopie Voraussetzung aller Informationsproduktion (=Remix) ist (vielleicht nur ein Missverstaendnis?).
Und wenn es unschiedliche Grade von Beiteiligung und Kontrolle des Remixens gibt, dann ist es nicht so wesentlich, ob so viele wie moeglich beim Remixen beteiligt werden. Alle machen mit, aber einige (die Digerati und ihre Freunde) kontrollieren.
@Thomas: Ok, das war unscharf ausgedrückt. Die digitale Kopie erleichtert den Remixprozess so sehr, dass eine neue Stufe der Produktivität erreicht wird.
Und zu Beteiligung und Kontrolle: Das stimmt schon. Interessant ist dabei aber nicht wie es ist, sondern der Prozeß. Da immer einer reicht um einen Prozeß zu öffnen ist die Richtung der Entwicklung nicht beliebig. Ohne staatliche Eingriffe wird in relative kurzer Prozeß der Offenheits-Attraktor erreicht.