Kritik und Keimform braucht Dialektik
Marx hätte ohne Hegel die »Kritik der politischen Ökonomie« — so der Untertitel des »Kapital« — nicht schreiben können. Zu Lebzeiten hat sich Marx stets von Hegel abgesetzt, hat solche häufig zitierten Phrasen wie »vom Kopf auf die Füsse stellen« geprägt. Damit war für viele nachfolgende Generationen der Fall klar: Marx war der »Materialist«, Hegel der »Idealist«, Marx wollte »die Welt verändern«, Hegel nur »interpretieren«, Marx war der reifere Denker, Hegel der frühere und damit unreifere Philosoph. Kurz: Mit Hegel zu beschäftigen lohnt nicht, lieber gleich den Marx nehmen — oder keinen von beiden.
Das wird Hegel in keiner Weise gerecht. Marx hat die Hegelsche Philosophie ernst genommen, und zwar zu einer Zeit als Hegel schon als »toter Hund« (Marx im Vorwort zum »Kapital«) behandelt wurde. Nun sind sozusagen beide »tote Hunde«, und wer beide in die Schublade »totalitäre Denker« steckt, hat den Beifall auf seiner Seite. Wer jedoch den Kapitalismus nicht für das letzte Wort der Geschichte hält, kommt an beiden nicht vorbei. Und wer wissen will, wo das mit der »Keimform« philosophisch herkommt, schon erst recht nicht.
Im folgenden seien zwei Einstiege empfohlen. Ich habe sie recht zufällig gefunden. Bei der ersten Empfehlung handelt es sich um ein Referat von »Biene Baumeister«, gehalten bei einem »Negativen Nachmittag« des »Seltsamen Zusammenschluss« mit dem Titel »Kritik und Dialektik – Versuch einer einführenden Annäherung an „dialektische Kritik“ und „kritische Dialektik“«. Der Referent stellt sich die grundlegende Frage, was Kritik ist und wie sich ein Standpunkt von Kritik begründen kann, wenn dieser Standpunkt doch selbst kritisiert werden soll. Eine Lösung dieses »Henne-Ei-Problems« wird mit Hilfe von Hegel entwickelt. Da die Sache, um die es hier geht, nicht trivial ist, empfiehlt es sich das Manuskript zum Vortrag vorzunehmen und dazu parallel den Audio-Vortrag anzuhören. Wer das Referat wiederum kritisch befragen will, dem sei der Kommentar zum Referat empfohlen, der allerdings auch nicht gerade einfach zu verstehen ist.
Die zweite Empfehlung ist völlig anders gelagert. Es handelt sich um einen Vortrag von Annette Schlemm mit dem Titel »Gesellschaft als dialektisches System«, gehalten bei der Tagung »Kybernetik – Systemtheorie – Dialektik« im November 2007 in Berlin. Die Tagung muss als wichtiger Hintergrund des Referats mitbedacht werden, fühlen sich doch Kybernetik (Variante Ost) und Systemtheorie (Variante West) gewissermaßen berufen, legitime Nachfolger der »Dialektik« zu sein. In sehr freundlichen Worten erklärt Annette den versammelten (Ex-)Profs, dass das eher von der Dialektik wegführt. Die richtet den Fokus auf die Unterscheidung von »Abstrakt-Allgemeinem« und »Konkret-Allgemeinem«, was nun wiederum auch als philosophischer Kommentar zum »Ums-Ganze-Kongress« aufgefasst werden kann. Hier Annettes Vortrag als SlideCast (Online-Präsentation mit synchronisierter Audiospur):
Das empfinde ich als ausgrenzend. Es gibt sicherlich auch noch andere Zugänge zum Keimformdenken als Deinen oder den von Annette. Und es gibt auch andere Entwicklungstheorien als die Hegelsche.
An Annettes Vortrag stört mich auch dieses abfällige Gerede über „die Postmoderne“ und „die jungen Leute“. Ich weiß echt nicht wozu ihr solche Abgrenzungsrituale immer nötig habt, dass hinterlässt bei mir (und sicher nicht nur bei mir) einfach immer den Eindruck, dass ihr an einer wirklichen Verständigung mit anderen Weltsichten nicht interessiert seid 🙁
… das Referat hab ich noch nicht gelesen, drucks mir grade aus.
Aber trotz allem zum Inhalt (das wäre jetzt eigentlich eine Frage an Annette, aber ich weiss nicht ob die mitliest): Hab ich das richtig verstanden, dass bei Hegel „Totalität“ eigentlich das Selbe ist wie ein „Begriff“? Oder wo ist da der Unterschied?
@Benni:
Ich hoffe doch. Doch auch die kommen nicht an Marx und Hegel vorbei. Mindestens sollten sie begründen, warum Marx/Hegel nicht hinreichen oder nicht angemessen sind.
Annette kann vielleicht selbst nochmal was schreiben, aber mein Eindruck bei ihrem Vortrag war nicht „abfällig“ und „abgrenzend“, sondern sie hat beschrieben, wie sie das erlebt hat. „Postmoderne“ ist ja keine Theorie, sondern bei vielen nurmehr eine Haltung, die Verbindlichkeit, Nachvollziehbarkeit und Wissenschaftlichkeit ablehnt. Das nervt mich allerdings auch ziemlich. Damit sind nicht postmoderne Theorien gemeint, sondern das, was davon noch übrig bleibt. Das ist ähnlich doof, wie wenn vom Marxismus nur der „böse Kapitalist“ übrigbleibt oder vom Hegel der „Totalitarist“. — Also, vielleicht solltest du dich an dieser Stelle locker machen (und ansonsten Annette und mich bitte nicht „ihrzen“).
Viele der Fragen, die Annette aufwirft, koennen mit sehr marginalem Bezug auf Marx (und ohne Hegel) behandelt werden. Ob besser, ist eine andere Frage. Das, was dann als ‚die jungen Leute‘ und ‚die Postmoderne‘ verworfen wird, ist voll von alternativen Entwuerfen der Suche nach einer anderen Rationalitaet – so man sie sehen will und sie nicht stets mit der wahren Tiefe der 2 Meister misst. Auch eine „Haltung, die Verbindlichkeit, Nachvollziehbarkeit und Wissenschaftlichkeit ablehnt“, verwirft nicht notwendigwerweise den Traum von einer endlich befreienden/befreiten Rationalitaet in Bausch und Bogen. Aber da sind wir wahrscheinlich uneinig?
Ich finde es toll, dass Stefan jetzt wieder eine offene Diskussion zur Dialektik, die versucht tiefer als bisher von Hegel zu lernen, in die Auseinandersetzung um die Keimformen bringt.
Wenn mensch die „Grundrisse“ von Marx liest, also nicht „nur“ das „Kapital“, muss einem die ständige Anlehnung an die Hegelsche Sprache auffallen. Im „Kapital“ hatte Marx sich wieder mehr zu eigem Ausdruck weiterentwickelt…
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Ohne ein tieferes Verständnis von Dialektik kann m.E. der Kapitalismus in seinen grundlegenden Funktionen gar nicht verstanden und von nicht-wertförmigen Keimformen abgegrenzt werden.
Beispiel : die im Kapitalismus vorherrschende Einheit von Gebrauchswert und Tauschwert in allen fast zahllosen Warenaustausch-Transaktionen.
Mit Hegel ist dieses Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert als NEGATIVE EINHEIT von zwei Momenten bestimmbar und weiter ausdifferenzierbar. Die beiden Momente sind zwar fest aneinander gekettet, aber ständig aus ihrer inneren Entwicklung heraus miteinander im Konflikt liegen…. Viele Dinge sind aktuell als Waren zwar noch nützlich, sie liegen häufig in Keller oder Boden jahrelang rum, haben aber als waren kaum noch einen Wert….
Unser Vorschlag des Umsonstladens setzte bewusst daran an, die negative Einheit zunächst praktisch- spielerisch dadurch zu durchbrechen, die Dinge nicht mehr als Waren, sondern als nützliche Dinge zu behandeln…. Natürlich kann das nur EIN Anfang sein.
Über Annette Schlemms Schriften zum Thema hinaus, die ich als Einleitungen auch hilfreich finde, kann ich folgendes Buch empfehlen:
Thomas Collmer, „Hegels Dialektik der Negativität, Untersuchungen für eine selbst-kritische Theorie der Dialektik“ .
Das hab ich mehrmals gelesen und meine, dass eine kritisch -offene Dialektik-Diskussion nicht hinter das dort von Thomas Collmer erreichte Reflektionsniveau zurückfallen sollte …
Einen lieben Gruß an Stefan und an alle
von Hilmar (Arebitskreis Lokale Ökonomie )aus HH
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P.S.: Besteht Interesse an einem Bericht von einem ersten praktisch-wertkritischen Seminar in Niederkaufungen vomletzten Wochenende ??
@Hilmar: Ohje, noch ein Hegelianer 😉
Klar! Erstell den Artikel einfach, einer von uns schaltet ihn dann frei.
Grüße, Benni
@benni: ich finde es gut so, dass Hegel nicht mehr als „toter Hund“ behandelt wird und im Keimform-Blog mehr und mehr geschätzt wird. Auch hinsichtlich der „Postmoderne“ kann ich StefanMz nur zustimmen.
Falls es interessiert: Bezüglich der Kritik von Hector an meinem Vortrag »Kritik und Dialektik« liegt nun eine Replik meinerseits vor.
Grüße auch vom Seltsamen Zusammenschluss,
Biene Baumeister
Hallo,
lieber Benni, meine Abgrenzung gegenüber „den Postmodernisten“ erfolgt in geschriebenen Texten inhaltlich bestimmter als im Vortrag, wo ich mich auf Vor- und Mitredner (auch von der wenige Tage zuvor abgehaltenen Blochtagung) und eine Debatte dabei bezog. Leider hab ich den geschriebenen Text zu diesem Vortrag noch nicht fertig. Ansonsten würde ich anderen nur im Notfall ein emanzipatives Anliegen absprechen… allerdings frage ich mich natürlich immer, ob die jeweils verwendeten Denk-Mittel dem entsprechen. Zu Foucault betone ich z.B. sicher zu Recht die befreiende Wirkung seiner Orientierung auf freie Individualität und Sexualität – gleichzeitig muss ich zu bedenken geben, dass seine Abwendung von Fragen der Ökonomie/Produktion (womit er seine Abwendung von Hegel/Marx auch begründet) für mich fragwürdig ist. Ähnlich würde ich zu den Postmodernen differenzieren, wenn ich mir die Zeit zu langen Texten dazu nehmen würde…
Ahoi Annette
Hallo,
die Webseiten zu meinen Foucaultbemerkungen sind:
http://www.thur.de/philo/lh/foucault1.htm
http://www.thur.de/philo/notizen/diskurs.htm
Außerdem habe ich jetzt den Vortrag zu „Dialektik und Entwicklung“ fertig gemacht, der steht unter:
http://www.thur.de/philo/hegel/hegelvortrag2.htm
Beste Grüße von Annette