Zukunftsperspektive: Neoliberaler Kapitalismus

Friedrich August von Hayek, einer der wichtigsten Vordenker des Neoliberalismus (Foto der LSE Library, gemeinfrei)Anschließend an die Vorüberlegungen möchte ich in diesem Artikel zunächst kurz eine Reihe möglicher Zukünfte benennen, die ich für die mittelfristige Zukunft für besonders relevant halte – entweder weil sie eine relativ hohe Chance haben, Realität zu werden, oder weil in heutigen Debatten eine größere Rolle spielen. Ohne irgendeine (klarerweise unmögliche) Vollständigkeit anzustreben, scheinen mir hier zunächst sechs Zukunftsszenarien bedeutsam:

  1. Neoliberaler Kapitalismus

  2. Autoritär-chauvinistischer Kapitalismus

  3. Autoritär-kooperative Gesellschaften

  4. Egalitär-kooperative Gesellschaften

  5. Vollautomatische Post-Scarcity-Gesellschaft

  6. Zerfall in unzählige parallel existierende Mikrogesellschaften

Bei einigen dieser Szenarien handelt es sich wiederum um ganze Familien möglicher Zukünfte, die noch genauer auszudifferenzieren sind. Von den genannten Szenarien sind die ersten beiden als Weiterentwicklungen oder Mutationen des kapitalistischen Status quo einzustufen; leider dürften es auch die wahrscheinlichsten Szenarien sein. Bei den anderen würde es sich Gesellschaften handeln, in denen die kapitalistische Produktionsweise nicht mehr dominant ist, also um Postkapitalismen. Nr. 5, die Post-Scarcity-Gesellschaft, würde ich allerdings eher als Postpostkapitalismus einstufen, da ich davon ausgehe, dass sich eine solche Gesellschaft – wenn überhaupt – nicht direkt aus dem Kapitalismus heraus entwickeln kann. Dies wird später zu diskutieren sein, zunächst möchte ich auf die kapitalistischen Zukünfte eingehen, die ich für (leider) relativ plausibel halte.

Zukunftsperspektive: Neoliberaler Kapitalismus

Varianten eines mehr oder weniger stark neoliberal geprägten Kapitalismus sind heute der Status quo in Europa, Nord- und Südamerika, Japan, Indien, Südkorea und vielen anderen Ländern. Grundsätzlich ist der Kapitalismus eine Gesellschaft, in der sich die meisten wirtschaftlichen Prozesse um Kapitalverwertung drehen: Zumindest eine der beteiligten Parteien will Geld in mehr Geld verwandeln. (Geld, das durch Einsatz im wirtschaftlichen Prozess vermehrt werden soll, wird „Kapital“ genannt.)

Während der kapitalistischen Ideologie zufolge praktisch jeder die Chance hat, durch Fleiß, Talent und gute Ideen erfolgreich und damit reich zu werden („American Dream“), sind die meisten kapitalistischen Gesellschaften durch starke gesellschaftliche Ungleichheit geprägt, die in den letzten Jahrzehnten angestiegen ist und in Zukunft noch weiter steigen dürfte. Das steht auch nicht im Widerspruch zur kapitalistischen Ideologie, da diese davon ausgeht, dass die Armen eben faul oder dumm sind und deswegen nicht weiterkommen, während sich die Reichen ihren Erfolg redlich verdient haben und ihn deshalb verdienen. Darin steckt gelegentlich ein kleines bisschen Wahrheit – es ist zumindest nicht ganz unmöglich, sich aus prekären Umständen mit Talent und Glück zur erfolgreichen Unternehmerin hochzuarbeiten, und wer fleißig und schlau ist, wird es im Kapitalismus im Durchschnitt weiterbringen als wem beides fehlt – aber zum größten Teil hängt der Status, den eine Person zum Lebensende erreicht haben wird, doch von ihrem Status und ihrer Situation zum Zeitpunkt ihrer Geburt ab.

Klassen im Kapitalismus

Grob würde ich im modernen Kapitalismus vier Klassen von Personen unterscheiden:

  1. Die Kapitalisten – Leute, die so viel Geld haben, dass sie in erster Linie von der Arbeit anderer statt von der eigenen Arbeit leben. Männer wie Steve Jobs, Larry Page und Sergey Brin, Bill Gates, Jeff Bezos sowie Mark Zuckerberg (die Gründer von Apple, Google, Microsoft, Amazon und Facebook, den derzeit wertvollsten Unternehmen der Welt) haben ihre Milliarden nicht durch eigene Hand- oder Kopfarbeit verdient, sondern Unternehmen gegründet, in denen Zehntausende anderer Frauen und Männer den Reichtum erwirtschaften, den die Gründer und andere Kapitalistinnen zu einem Gutteil einkassieren. Auch die (wiederum meistens männlichen) Manager, die erfolgsabhängig bezahlt werden, gehören zu dieser Klasse – zwar arbeiten sie (wie auch die meisten Firmengründer) selber mit, doch kommt es für den Erfolg und damit ihre Einnahmen weniger auf ihre eigenen Arbeit an als auf die Arbeit ihrer Untergebenen, die sie antreiben und „motivieren“ müssen. Diese Klasse ist klein, aber wohlhabend – sie ist das eine Prozent, dem mehr als die Hälfte des weltweiten Reichtums gehört.

  2. Die für das Kapital Nützlichen: Hierzu gehören die genannten Zehntausende von Mitarbeiterinnen großer Konzerne und ebenso alle anderen, die eine feste Stelle in einem kapitalistischen Unternehmen ergattert haben. Wer zu dieser Klasse gehört, wird zwar selten superreich, lebt aber ganz gut und ohne materiellen Mangel. Allerdings ist die Zeit lebenslanger Jobs, die man bis zur Rente sicher ausüben konnte, in der Privatwirtschaft inzwischen vorbei (nur für Beamtinnen und andere Staatsangestellte gibt es sie bisweilen noch), weshalb sich Mitglieder dieser Klasse selten ganz sicher sein können, diesen Status bis an ihr Lebensende erhalten zu können. Das Risiko, den Job zu verlieren, ohne einen vergleichbaren Ersatz zu finden, und damit in die Klasse der Prekären oder Abgehängten abzusteigen, hängt heute als Damoklesschwert über den meisten Mitgliedern der nützlichen Klasse.

  3. Die nur gelegentlich oder marginal Nützlichen und deshalb prekär Lebenden: Wer zu dieser Klasse gehört, arbeitet zwar für ein kapitalistisches Unternehmen (oder für den Staat), hat jedoch keine unbefristete Vollzeitstelle inne. Deshalb ist die Bezahlung meist relativ bescheiden und vor allem fehlt es an Planungssicherheit für die kommenden Monate oder Jahre. Mit der Verbreitung der Internet- und App-Ökonomie ist diese Klasse stark gewachsen (und dürfte das in Zukunft noch weiter tun); so beschäftigen Lieferdienste wie Deliveroo und Taxidienste wie Uber ihre Fahrer meist auf Auftragsbasis. Je mehr es zu tun gibt, desto mehr können sie verdienen; ist wenig los, gehen sie leer aus. Anderswo bekommen Mitarbeiterinnen zwar feste Stellen, die aber befristet sind – wie es danach weitergehen wird, wissen sie nicht. So geht es etwa den meisten wissenschaftlichen Mitarbeiter zumindest an den deutschen Universitäten. Auch wer sich als kleine Selbständige ohne festen Arbeitsvertrag und ohne sichere Einkommensperspektiven durchschlägt, gehört normalerweise zu dieser prekären Klasse. In vielen Entwicklungsländern arbeitet ein Großteil der Bevölkerung im informellen Sektor (etwa als Taxifahrer oder Straßenhändlerin) ohne jegliche Absicherung und mit minimalen Einnahmen. In Industrieländern gehören deutlich mehr Frauen als Männer zur prekären Klasse, da unbefristete, gut bezahlte Vollzeitstellen immer noch ein Stück weit als männliches Privileg gelten können.

  4. Die Abgehängten: Menschen, die nicht nur derzeit ohne feste Beschäftigung sind, sondern auch für die Zukunft nur minimale Chancen auf eine feste Stelle haben. Dazu gehören etwa die meisten „Langzeitarbeitslosen“, da fast alle kapitalistischen Unternehmen davon ausgehen, dass wer schon jahrelang nicht mehr gearbeitet hat, es entweder nicht mehr kann oder nicht will – wer schon lange arbeitslos ist, bleibt es deshalb meistens auch.

Zu den Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung gehört es, dass Unternehmen ihre Unkosten – etwa für bezahlte Mitarbeiterinnen – möglichst weit zu reduzieren versuchen, um so ihre Profite zu steigern oder ihren Marktanteil zu vergrößern. Gehälter sind für die meisten Unternehmen der größte Kostenfaktor überhaupt; entsprechend groß ist die Versuchung, ihre Kosten zu senken, indem etwa menschliche Arbeit durch Maschinen ersetzt wird oder Arbeitskräfte „nach Bedarf“ bezahlt werden. Wer nur noch „nach Bedarf“ angefragt und bezahlt wird, steigt in die prekäre Klasse ab – die künftigen Arbeitseinnahmen sinken und jegliche Planungssicherheit geht verloren. Und wenn der eigene Job durch Automatisierung ganz eingespart wird, sind die Chancen, eine andere unbefristete Vollzeitstelle als Ersatz zu finden, oft schlecht; schnell landet man stattdessen in der Klasse der Prekären oder ganz Abgehängten. In Deutschland ist die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse in den letzten 20 Jahren um 70 Prozent gestiegen; in der Europäischen Union hat sich die Zahl der ganz abgehängten Langzeitarbeitslosen in den letzten knapp 10 Jahren fast verdoppelt.

Nun gibt es auch im Kapitalismus durchaus unterschiedliche Möglichkeiten zur Ausgestaltung der Lebensverhältnisse; staatliche Gesetze und Eingriffe, aber auch soziale Konventionen können einen großen Unterschied machen. Das größte staatliche Programm zur Umverteilung „von oben nach unten“ war vermutlich Roosevelts New Deal aus den 1930er Jahren. Im Kontext dieses Programms schuf die USA staatliche Beschäftigungsprogramme für Millionen von Menschen, die so aus der Klasse der Prekären oder Abgehängten zumindest strukturell in die der „Nützlichen“ (mit langfristigen Vollzeitstellen) aufstiegen; gleichzeitig wurden die Steuern auf Unternehmensgewinne und privaten Reichtum erhöht (der Spitzensteuersatz für reiche Individuen stieg auf 79 Prozent). Zudem können Gesetze etwa die Einrichtung prekärer Arbeitsverhältnisse und die Umwandlung von unbefristeten Vollzeitstellen in prekäre Jobs verhindern oder erschweren. Frankreich ist ein bekanntes Beispiel für detaillierte staatliche Regelungen, die aus kapitalistischer Sicht „schädlich“ sind, jedoch viele „Nützliche“ vor dem Abstieg ins Prekariat schützen oder geschützt haben.

Staatenkonkurrenz im Neoliberalismus

Derzeit sind solche Politiken eines zumindest minimalen Ausgleichs zwischen den Klassen aber unter Beschuss zum einen durch eine „neoliberale“ Ideologie, die fast alle Staatseingriffe (außer solchen, die der kapitalistischen Klasse nutzen) als schädliches Teufelszeug ablehnt. Womit sie die Sichtweise der kapitalistischen Klasse, die durch solche Eingriffe ihre Gewinnmöglichkeiten geschmälert sieht, direkt übernimmt, sich aber als gesamtgesellschaftlich sinnvoll ausgibt. Zum anderen werden Staatseingriffe zugunsten der unteren Klassen aber auch durch die weltweite Freizügigkeit von Kapitalflüssen, die seit den 1970er Jahren durchgesetzt wurde, real erschwert. Während Menschen nur sehr eingeschränkt in andere Staaten migrieren können – in erster Linie nur dann, wenn sie ihre Nützlichkeit für dortige Unternehmen erfolgreich demonstrieren können – halten es Kapitalisten inzwischen für ein selbstverständliches und unverhandelbares Recht, ihr Kapital in dem Staat zu investieren, der ihnen die besten Bedingungen bietet. Weil die Staaten auf Investitionen angewiesen sind – diese sorgen für Steuereinnahmen und Arbeitsplätze –, sind sie gezwungen, sich einen Unterbietungswettbewerb um möglichst gute Kapitalverwertungsbedingungen zu liefern.

Im neoliberalen Szenario der künftigen kapitalistischen Entwicklung – es ist nicht die einzige mögliche kapitalistische Zukunft – geben die Staaten in diesem Unterbietungswettbewerb weitgehend nach und liefern sich ein „race to the bottom“; dabei setzen sie das neoliberale Programm einer möglichst konsequenten Abschaffung jeglicher Verwertungshindernisse weitgehend um. Die Folge wäre eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in einerseits zwei Klassen, denen es sehr oder ziemlich gut geht – die reichen bis superreichen Kapitalistinnen und die schrumpfende und unter Zukunftsängsten leidende, aber zumindest für den Moment noch ganz gut lebende Klasse der „Nützlichen“ – sowie andererseits den immer größer werdenden Rest der Prekären und Abgehängten.

Ungleichheit und das Schrumpfen der „nützlichen“ Klasse

Wie sich das im Alltag anfühlen würde, lässt sich heute schon in Ländern mit extremer gesellschaftlicher Ungleichheit wie etwa Brasilien feststellen: Die Wohlhabenderen ziehen sich in Gated Communities zurück, zu denen nur sie selbst sowie persönlich eingeladene Gäste Zutritt erhalten. Den Armen bleibt nur das Leben in Slums oder mehr und mehr verlotternden Vierteln, aus denen sich der Staat weitgehend zurückzieht – Straßen verfallen; Parks, Schwimmbäder und andere öffentliche Einrichtungen gibt es nicht oder nicht mehr; Rettungsdienste und Polizei kommen bestenfalls Stunden, nachdem sie gerufen wurden.

Nun ergibt sich die gesellschaftliche Spaltung in eine kleiner werdende Oberschicht der Kapitalistinnen und der „Nützlichen“ und eine wachsende Unterschied der Prekären und Abgehängten nicht nur aus staatlichen Entscheidungen zum Abbau von schützenden Regulierungen und staatlichen Hilfsprogrammen gemäß des neoliberalen Programms. Solch ein neoliberaler Umbau der Gesellschaft verstärkt nur Tendenzen, die sich aus der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung selbst ergeben, nämlich dass mit immer weniger Arbeitskräften immer mehr und bessere Produkte hergestellt werden können.

Diejenigen, deren Stelle wegautomatisiert wurden, sind für die Kapitalisten entbehrlich – und das dürfte in absehbarer Zukunft noch deutlich mehr Menschen betreffen als heute schon. Auch als Konsumenten werden sie nicht gebraucht – für erfolgreiche Kapitalverwertung spielt es keine Rolle, ob eine kleine Oberschicht viel Geld hat und ausgibt oder ob viele Menschen wenig Geld haben und ausgeben, es kommt nur auf die für Konsumzwecke ausgegebene Gesamtsumme an. Wer nicht mehr als Arbeitskraft gebraucht wird, ist aus Sicht der kapitalistischen Klasse daher nur unnützer Kostenfaktor, solange es einen steuerfinanzierten Sozialstaat gibt, der den Abgehängten etwa Sozialhilfe und den Prekären gegebenenfalls Zuschüsse zahlt.

Das Schrumpfen des Sozialstaats …

Je mehr Prekäre und Abgehängte es gibt, desto mehr Geld müsste der Sozialstaat eigentlich ausgeben, um seinen Namen noch zu verdienen; gleichzeitig ist staatliche Unterstützung für Arme aus neoliberaler Sicht nur ein Störfaktor, der die erwünschte „Eigenverantwortung“ behindert (dass die Prekären und Abgehängten keineswegs allesamt zu „Nützlichen“ werden können, weil nicht sie, sondern die kapitalistische Klasse deren Stellen einrichtet und finanziert, wird dabei geflissentlich ignoriert). Dauerhafte staatliche Zahlungen etwa für Langzeitarbeitslose gibt es sowieso nur in manchen Industrie- und Schwellenländern; andere wie die USA wollen sich eine derartige „Umverteilung nach unten“ nicht leisten, und Entwicklungsländer können sie sich in aller Regel nicht leisten.

Bei fortgesetzter Entwicklung in neoliberale Richtung dürften derartige Programme eingeschränkt und bisweilen ganz abgeschafft werden, um so die Kapitalistinnen und die „Nützlichen“ auf Kosten der Unterschicht zu entlasten. Wo sich ihre Streichung nicht durchsetzen lässt, dürfte der Trend dahin gehen, sie an schikanöse Bedingungen zu knüpfen, in der Hoffnung, dass möglichst viele Empfangsberechtigte nicht gewillt oder in der Lage sind, diese Bedingungen zu erfüllen (z.B. die Ausübung sinnloser und erniedrigender „Ein-Euro-Jobs“ oder der Nachweis, mindestens einmal im Monat zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden – was die Betroffenen gar nicht selbst in der Hand haben). Weitere Trends dürften die Umstellung von Geldzahlungen auf Sachleistungen sein, die den Betroffenen die letzten noch verbleibenden Wahlmöglichkeiten nimmt; sowie das „Aushungern“ finanzieller Hilfsleistungen, indem diese nicht an die Inflation angepasst und so inflationsbereinigt immer weiter reduziert werden.

Während es andererseits der kleiner werdenden Klasse der „Nützlichen“ im neoliberalen Kapitalismus noch vergleichsweise gut geht, geht der wachsende Druck auch an ihnen nicht spurlos vorbei. „Nützlich“ zu sein ist ein Privileg, und alle Nützlichen wissen, dass ihnen dieses Privileg jederzeit genommen werden kann, wenn sie nicht spurten. Entsprechend arbeiten die „Nützlichen“ länger fürs selbe oder für weniger Geld und gehen auch dann zur Arbeit, wenn sie eigentlich krank im Bett bleiben müssten. Der neoliberale Anspruch, möglichst alle Regelungen, die die Kapitalverwertung erschweren könnten, zu beseitigen, dürfte zudem früh oder später die gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitszeit abschwächen (wie in Österreich gerade beschlossen) oder ganz abschaffen, was diesen Trend noch verstärkt. In der Folge verteilt sich die für die Kapitalisten nützliche Arbeit auf weniger Köpfe und kostet sie weniger Geld; die Klasse der „Nützlichen“ schrumpft weiter zusammen.

Auch die Debatten um die Erhöhung des Rentenalter dienen dazu, die anfallende Arbeit auf weniger Schultern zu verteilen und so die Unkosten für die Kapitalistinnen zu senken. Absehbarer Weise wird das Rentenalter steigen, mit dem Effekt, dass die „Nützlichen“ länger arbeiten müssen und später für kürzere Zeit Rentenzahlungen bekommen; die Zahl der Prekären und Abgehängten, die keinen festen Arbeitsplatz finden können, steigt auf diese Weise weiter. Setzt sich die neoliberale Programmatik ganz durch, dürfte die verpflichtende Rentenversicherung früher oder später ganz abgeschafft werden, freilich ohne dass die Gehälter der Nützlichen so stark ansteigen, dass sie die verpflichtende gesetzliche durch eine vergleichbare private Rentenversicherung ersetzen könnten. Deshalb werden sich nur noch wenige (besonders Sparsame oder besonders gut Verdienende) eine halbwegs ausreichende Altersversorgung leisten können. Damit stellen sich auch für die „Nützlichen“ wieder frühkapitalistische Zustände her: Die meisten von ihnen müssen arbeiten, bis sie umfallen, oder hoffen, später durch ihre Kinder mitversorgt zu werden.

Aber auch die kapitalistische Klasse wird nicht ungeschoren davonkommen. Manche Investments zahlen sich nicht aus, Firmen gehen pleite und die Investoren in manchen Fällen gleich mit. In den sporadisch auftretenden Börsencrashs geht viel Kapital verloren. Manche der Investorinnen sind breit genug aufgestellt, um das zu überstehen, andere verlieren ihr Vermögen und werden gezwungen, sich eine nützliche Arbeit zu suchen (oder, so sie das nicht schaffen, zu Prekären oder Abgehängten zu werden). Auch Managerinnen aus dem ausführenden Teil der kapitalistischen Klasse werden durch Rationalisierungsmaßnahmen und Firmenpleiten auf die Straße gesetzt; manche von ihnen finden wieder eine vergleichbare Position, andere nicht. Natürlich kommt es auch vor, dass clevere Firmengründer oder Managerinnen den Aufstieg aus den unteren Klassen in die kapitalistische schaffen; doch im Vergleich zu denen, die von dieser Klasse ausgespuckt werden, dürfte deren Zahl gering sein. Insgesamt wächst der gesellschaftliche Reichtum weiter, aber die Zahl derer, denen er zum allergrößten Teil zugute kommt, schrumpft immer mehr.

… und der Demokratie

Mit dieser immer ungleicher werdenden Reichtumskonzentration gerät auch die repräsentative Demokratie, das einstige Erfolgsmodell unter den kapitalismuskompatiblen Regierungsformen, immer stärker unter Druck. Solange (fast) alle eine (Wahl-)Stimme haben, dürfte die Versuchung für die unteren Klassen und selbst die „Nützlichen“, dem neoliberalen Gesellschaftsmodell durch ihr Wahlverhalten eine Absage zu erteilen, immer stärker werden.

Natürlich hat die repräsentative Demokratie hier schon einige „Verteidigungsmechanismen“ eingebaut, die dazu beitragen, dass sich gewählte Politiker im Regelfall im Interesse der Wohlhabenden verhalten. Die wichtigsten Finanzquellen kapitalistischer Staaten sind Steuern für die es eine florierende Kapitalverwertung braucht, und unzufriedene Kapitalistinnen können ihre Investitionen ins Ausland verlagern sowie Kredite, die zum Großteil von Kapitaleigentümern gewährt werden müssen, wenn der Staat nicht pleite gehen soll. Zudem sind Parteien und Politikerinnen auf Spenden angewiesen, wenn sie im Wahlkampf eine Chance haben wollen, und wer am meisten Geld hat, kann am meisten spenden. Auch an der Meinung der wichtigsten Medien kommen Politiker kaum vorbei, und diese sind zum Großteil in kapitalistischer Hand (daran hat das Internet wenig geändert, denn auch der Betrieb großer und sichtbarer Websites braucht in der Regel viel Kapital – die Wikipedia ist eine Ausnahme, die aber in Wahlkämpfen kaum eine Rolle spielt).

Trotz dieser Verteidigungsmechanismen dürften sich bei allgemeinem Wahlrecht die heute schon feststellbaren Tendenzen, das System entweder nach rechts (in Richtung des chauvinistischen Kapitalismus, der noch zu diskutieren sein wird) oder nach links (in Richtung mehr sozialer Gleichheit und Umverteilung „nach unten“ – heute leider kaum feststellbar) umbauen zu wollen, verstärken. Setzt sich das neoliberale Programm trotzdem dauerhaft durch, dürfte das deshalb früher oder später Einschränkungen des Wahlrechts bedeuten. Schon in den Anfängen der repräsentativen Demokratie war es selbstverständlich, dass nicht alle wählen dürften, sondern nur wohlhabende weiße Männer (schätzungsweise waren in der Anfangszeit der USA mehr als die Hälfte der weißen Männer vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie zu arm waren; alle anderen hatten sowieso nichts zu melden).

Zur neoliberalen Programmatik passt zwar keine Ausgrenzung von Frauen oder People of Color, grundsätzlich aber durchaus eine Beschränkung des Wahlrechts auf diejenigen, deren Vermögen oder Einnahmen eine bestimmte Grenze überschreiten und die so ihre „Leistungsfähigkeit“ erfolgreich demonstrieren (ganz zu schweigen von der Gnade der wohlhabenden Geburt). Andererseits ist die Vorstellung, dass alle erwachsenen „Inländer“ wahlberechtigt sind, heute so fest verankert, dass eine Vermögens-/Einkommenshürde schwer durchsetzbar sein könnte. Ebenfalls dem Paradigma der „Leistungsfähigkeit“ entsprechend und leichter durchsetzbar wäre vermutlich ein Ausschluss derjenigen, die staatliche Transferleistungen in Anspruch nehmen oder in den letzten Jahren genommen haben. So lange noch ein Minimum von Sozialstaat besteht, der den Abgehängten und Prekären zumindest von Zeit zu Zeit unter die Arme greifen muss, hätte dies weitgehend denselben Effekt – ein großer Teil dieser Klassen wäre effektiv vom Wahlrecht ausgeschlossen. Bei den Kapitalisten und auch den „Nützlichen“ ist hingegen eher damit zu rechnen, dass sie im Sinne der Aufrechterhaltung der neoliberalen Ordnung stimmen, weil sie sich mehr oder weniger zu den Gewinnern dieser Ordnung zählen können (jedenfalls im Vergleich zu anderen).

Auch bei einer Einschränkung des Wahlrechts bleibt ein Land nominell demokratisch. Wo sich dies zur Sicherung der neoliberalen Herrschaft nicht als ausreichend erweist, dürfte es zur temporären oder dauerhaften Abschaffung der demokratischen Strukturen durch eine Militärregierung kommen, die direkt ein neoliberales Programm umsetzen kann, ohne auf den Mehrheitswillen Rücksicht nehmen zu müssen. Der aus der Vergangenheit bekannteste Fall einer derartigen Entwicklung ist sicherlich der Sturz der demokratisch gewählten Regierung Salvador Allendes in Chile 1973, die den Umbau der Wirtschaft in Richtung Staatssozialismus angestrebt hatte. Danach kam es zur fast 20 Jahre andauernden Militärregierung des Generals Augusto Pinochet (die sich zudem ihren Einfluss durch die zum Ende ihrer Regierungszeit verabschiedete Verfassung noch für die kommenden Jahrzehnte sichern konnte), deren Wirtschaftspolitik den neoliberalen Vorstellungen der von Friedrich August von Hayek und Milton Friedman inspiriertenChicago Boysfolgte.

Ein anderes Beispiel ist Thailand, wo seit 2014 das Militär regiert. Insgesamt zweimal aus dem Amt geputscht wurde hier die gemäßigt linkspopulistische Regierung von Thaksin Shinawatra bzw. dessen Schwester. Diese hatte unter anderen den Zugang zur Gesundheitsversorgung für Arme verbessert, Kleinbauern durch ein Schuldenmoratorium und staatlich garantierte Mindestpreise für landwirtschaftliche Produkte unterstützt sowie kleinen Unternehmen und Existenzgründern staatliche Kredite gewährt. Außerdem hatte sie sich um eine demokratischere Zusammensetzung des Senats (eines der beiden Kammern des thailändischen Parlaments) bemüht. Das war Teilen des Establishments zu viel Unterstützung für Ärmere und zu viel Demokratisierung.

Ungebremster Klimawandel

Unter einem global dominierenden neoliberalen Modell dürfte der Klimawandel fast ungebremst voranschreiten. Grundsätzlich passen zum neoliberalen Paradigma zwar durchaus künstliche Märkte zur Verknappung und Versteigerung von Emissionsrechten, die bei konsequenter Umsetzung die weltweiten CO2-Emissionen stark reduzieren und den Klimawandel dadurch ausbremsen könnten. Jedoch fehlt es an einem hinreichend mächtigen Akteur, der solch ein Modell durchsetzen könnte – einzelne Nationalstaaten eignen sich dafür nicht, da es global oder nahezu global angewendet werden müsste, um wirkmächtig zu werden. Andernfalls werden die Unternehmen, die am meisten Emissionen erzeugen, nach Möglichkeit in Regionen abwandern, wo sie keine Emissionsrechte kaufen müssen.

Zwar könnten die anderen Staaten Produkte aus solchen Regionen mit so hohen Strafzahlungen belegen, dass die Abwanderung unattraktiv wird – das widerspräche aber dem neoliberalen Dogma, den Freihandel als eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften zu betrachten, und dürfte sich in diesem Szenario deshalb nicht durchsetzen. Dass sich aber (nahezu) alle Staaten auf einen wirklich einschränkenden und dadurch wirksamen Emissionsrechtehandel einigen könnten, ist nahezu ausgeschlossen – insbesondere die Staaten, in deren Wirtschaft Förderung oder Export von Erdöl oder Kohle eine wichtige Rolle spielen, werden sich darauf nicht einlassen, um „ihren“ Unternehmen (und damit ihrer eigenen Steuerbasis) nicht zu schaden. Die meisten anderen werden daraufhin ebenfalls einen Rückzieher machen, um im globalen Wettbewerb um die besten Kapitalverwertungsbedingungen nicht ins Hintertreffen zu geraten.

Aus neoliberaler Sicht ist die Existenz unabhängiger Nationalstaaten, die dem global beweglichen Kapital gegenüber um die besten Verwertungsbedingungen konkurrieren müssen, eine gute Sache: Sie erzeugt einen Markt für staatliche Regulierungen und Vorschriften, und Märkte sind im neoliberalen Verständnis praktisch immer von Vorteil. Ein unvermeidlicher Nebeneffekt ist allerdings, dass Probleme, die globale Einigkeit erfordern würden, nicht behandelt werden können, sofern nennenswerte Teile der kapitalistischen Klasse darunter leiden würden. Genau das ist beim Klimawandel der Fall.

Dass der Klimawandel im neoliberalen Kapitalismus also nicht zu stoppen ist, dürfte die heute schon bei manchen Akteuren (wie US-Präsident Trump und der AfD) ausgeprägte Tendenz verstärken, ihn zu einem Nicht-Problem oder alternativ zu einem nicht durch Menschen verursachten Problem zu erklären, nach dem Motto dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Schließlich führen Märkte im neoliberalen Denken fast immer zu optimalen Ergebnissen, weshalb ein derartig gravierender Fall von „Marktversagen“ nur eine bösartige Fehlinformation oder ein tragisches Missverständnis sein kann!

Allerdings werden die Auswirkungen des ungebremsten Klimawandels nach ein paar Jahrzehnten so spürbar sein, dass solche Vorstellungen nach und nach unhaltbar werden dürften. Am Fortschreiten des Klimawandels wird das allerdings nichts ändern, wobei seine Konsequenzen vor allem von der Unterschicht sowie den „Nützlichen“ in der kapitalistischen Peripherie (die, obwohl am wenigsten Verursacher, am stärksten betroffen ist) ausgebadet werden müssen, weniger von den kapitalistischen Eliten und den wohlhabenderen „Nützlichen“ in den Industriestaaten. Wer sich gut klimatisierte Häuser und Fahrzeuge, den Wegzug aus besonders überschwemmungsgefährdeten Gebieten und hohe Versicherungsprämien etwa gegen Sturmschäden leisten kann, dürfte vergleichsweise gut davonkommen; für alle anderen wird es unangenehm.

(Fortsetzung: Autoritär-chauvinistischer Kapitalismus)

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