Zukunftsperspektive: Autoritär-chauvinistischer Kapitalismus
(Voriger Artikel: Neoliberaler Kapitalismus)
Der autoritär-chauvinistische Kapitalismus unterscheidet sich vom neoliberalen durch eine andere Schwerpunktsetzung: Er schreibt der Politik, dem Staat die primäre Rolle dabei zu, die Dinge so einzurichten, wie sie sein sollen, während dem Neoliberalismus zufolge die Politik sich vornehm zurückzuhalten hat (zumindest in der Theorie), da weitestgehend unregulierte Märkte von sich aus für die beste aller Welten sorgen würden. Auch im autoritären Kapitalismus bestimmen Marktwirtschaft und Konkurrenz zwischen Firmen die wirtschaftlichen Verhältnisse, aber der Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes ist hier weniger ausgeprägt. Stattdessen greift die Politik ordnend und gestaltend ein und entsprechend wichtig ist es, die je eigenen Interessen gegenüber der Politik erfolgreich zu propagieren und als die wichtigsten durchzusetzen.
Denn genau wie der Neoliberalismus geht die autoritär-kapitalistische Weltanschauung davon aus, dass es notwendigerweise Gewinner und Verliererinnen geben müsse – eine Welt, in der es allen gut geht, ist nicht drin. Da aber der Glaube an den Markt als großen Schiedsrichter fehlt, verlagert sich die Konkurrenz stattdessen auf politisches Lobbying und staatliches Handeln. Die besten Gewinnchancen hat, wer den eigenen Staat auf seine Seite zieht, sofern dieser gewillt und in der Lage ist, die Interessen der protegierten Gruppen gegenüber allen anderen rücksichtslos durchzusetzen.
Doppelte Standards
So ist die „America First“-Doktrin der Trump-Regierung ein Ausdruck dieser Voranstellung der eigenen Interessen – was gut für das eigene Land bzw. die darin als wichtig geltenden Personengruppen ist, ist die richtige Politik, die es zu verfolgen gilt. Faire Spielregeln unter Konkurrenten – wie sie der Neoliberalismus will – sind hingegen kein politisches Ziel. Außer wenn es darum geht, die Politik der anderen zu beurteilen. Man könnte ja denken, dass der autoritäre Chauvinismus allen anderen zugesteht, ebenso chauvinistisch zu sein wie man selbst und so ebenfalls eine Politik des „Unser Land zuerst“ zu verfolgen. Davon kann aber keine Rede sein – die anderen sollen sich bitteschön an die Regeln halten, die für einen selber nicht gelten. Gerät beispielsweise China in eine Verdacht, durch seine Politik die eigene Wirtschaft zu begünstigen, ist das in den Augen Trumps und seiner Anhänger höchst unfair und muss bestraft werden. Hingegen gilt die möglichst weitgehende Förderung der Wirtschaft des eigenen Landes als patriotische Pflicht.
Solche doppelten Standards sind ein Kern des autoritär-chauvinistischen Kapitalismus, können aber nicht explizit eingestanden werden – stattdessen gilt die Begründung, dass die eigene Politik nur die „natürlichen“, objektiv richtigen Verhältnisse wiederherstelle und etwa Verzerrungen und „unfaire“ Verhaltensweisen der „anderen“ ausgleichen würde. Hinter Slogans wie „Make America Great Again“ steht die Idee einer „natürlichen“ Vorreiterrolle der USA in jeder Hinsicht – kulturell, wirtschaftlich, militärisch. Wo das eigene Land anderen auf Augenhöhe begegnet, wird diese natürliche Vorreiterrolle verletzt, und das gilt es zu heilen. Gleiche Standards für alle sind in dieser Sichtweise ein Fehler, weil Ungleiches ungleich behandelt werden muss.
Nationale Champions und andere Marktmanipulationen
Grundsätzlich basiert der autoritär-chauvinistische Kapitalismus auf den gleichen Prinzipien der unerbittlichen Marktkonkurrenz wie der neoliberale – Firmen wie Individuen müssen sich am Markt bewähren, um über die Runden zu kommen. Doch wo die neoliberale Ideologie den Anspruch hat, einen „fairen“ Wettkampf aller gegen alle sicherzustellen, geht es in der autoritären Variante immer darum, die eigenen Ausgangsbedingung möglichst zu verbessern – ohne dass das jemals offen ausgesprochen würde, denn eine unkritische Akzeptanz des Marktes und der Konkurrenz ist auch hier Teil des „offiziellen“ Konzepts. Aber Ausländerinnen, die abgeschoben oder gar nicht erst ins Land gelassen werden, können „uns“ nicht die Arbeitsplätze wegnehmen; wenn sich Frauen wieder mehr zu Hause um die Kinder kümmern (wie es die AfD fordert), bleiben mehr Jobs für die Männer; und eine Wirtschaftspolitik à la Trump zielt darauf ab, die eigenen Firmen zugunsten ausländischer zu stärken.
Ein weiteres Element dieser Strategie, den Markt zwar grundsätzlich zu akzeptieren, andererseits aber zum eigenen Vorteil zu manipulieren, ist die gezielte Förderung „nationaler Champions“ [EN]. Im Gegensatz zum neoliberalen Anspruch, wonach der Staat als unparteiischer „Schiedsrichter“ gleiche Regeln für alle durchzusetzen habe, werden hier einzelne große inländische Firmen besonders gefördert und im Falle von Ungemach (Krisen, Klagen, Enthüllungen, drohende Vorschriften) besonders geschützt. Diese vorteilhafte Ungleichbehandlung kommt Unternehmen zugute, die besonders viele Steuereinnahmen generieren, besonders viele Arbeitsplätze bereitstellen und manchmal auch zum Teil in Staatsbesitz sind – in Deutschland etwa die großen Autobauer (BMW, Daimler, Volkswagen), die Deutsche Bank und die Lufthansa; in Frankreich Öl- und Energiekonzerne wie Total, Engie und EDF; in Russland größtenteils dem Staat gehörende Unternehmen wie Gazprom, Rosneft und Transneft (Öl und Gas) sowie Sberbank und VTB (Banken). Die Marktkonkurrenz greift hier grundsätzlich weiterhin, aber einige der größten Mitspieler sind „gleicher als die anderen“ und können sich darauf verlassen, dass ihnen „ihr“ Staat bei Bedarf wohlwollend zu Hilfe kommt.
Staatliche Härte gegenüber Schwachen und Benachteiligten
Während in den bisher diskutierten Fällen der autoritäre Kapitalismus den Markt zwar theoretisch akzeptiert, praktisch aber zum eigenen Vorteil zu manipulieren versucht, erweisen sich seine Vertreter in anderen Situationen als noch markt-unkritischer als selbst in Neoliberalismus üblich. Von der AfD werden etwa Quoten zur Förderung von Frauen oder Minderheiten abgelehnt, weil diese gegen die „Gleichheit vor dem Gesetz“ verstießen; ebenso Antidiskriminierungsgesetze, weil diese gegen die „Vertragsfreiheit“ verstießen; Gleichstellungsbeauftragte seien unnötig und abzuschaffen (AfD-Wahlprogramm 2017 [PDF], S. 12, 41).
Abgelehnt wird auch die Berechtigung des Staates, umverteilend einzugreifen und so dem normalen Wirken des Marktes entgegenzuwirken. So ist die AfD gegen eine Wiedereinführung der Vermögensteuer und für die Abschaffung der Erbschaftsteuer mit der Begründung: „Die Übergabe von Vermögen […] ist Privatangelegenheit und darf nicht dem Staatszugriff ausgesetzt werden“ (AfD-Wahlprogramm, 51).
Die persönliche Freiheit wird aber nicht überall hochgehalten. So negiert die AfD das Recht von Frauen, selbst zu entscheiden, ob sie abtreiben („Auch ungeborene Kinder haben ein Recht auf Leben“ – Wahlprogramm, 39) und spricht sich für eine strenge Drogenpolitik und gegen die Freigabe von Cannabis aus (Wahlprogramm, 63). Im chauvinistischen Staatsverständnis ist die Autorität des Staates nur dann schlecht, wenn sie Firmen zusätzliche Regeln auferlegt (etwa zum Schutz der Umwelt oder der Arbeiterinnen) oder das Privileg der Reichen, über ihren Reichtum nach eigenem Gutdünken verfügen zu können, in Frage stellt. Gegenüber Frauen, Minderheiten, Ausländern und Menschen, die selbstbestimmt und genussorientiert leben möchten, wird staatliche Härte hingegen begrüßt.
Diese Doppelgesichtigkeit des autoritären Kapitalismus ist ein deutlicher Vorteil gegenüber dem Neoliberalismus, der in seinen konsequentesten Ausprägungen eine Politik des „leben und leben lassen“ verfolgt. Studien zeigen, dass Menschen, die das Gefühl hat, wenig Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben oder die fürchten, die Kontrolle zu verlieren, eher für autoritäre Politiker stimmen – in der Hoffnung, dass diese die Dinge wieder in Ordnung bringen. Wer arbeitslos ist, hat in der Tat wenig Kontrolle über das eigene Leben und in Regionen mit höheren Arbeitslosenzahlen steigt auch bei den bislang verschont Gebliebenen die Angst, bald selbst von Arbeitslosigkeit und Kontrollverlust betroffen zu sein.
Nun sorgt, wie im vorigen Teil thematisiert, die Entwicklung des Kapitalismus im steigenden Maß für Arbeitslosigkeit, Prekarisierung und unsichere Zukunftsperspektiven. Dem Neoliberalismus bleibt hier wenig außer auf die Selbstheilungskräfte des Marktes und Trickle-down-Effekte zu verweisen – Versprechen, die sich längst als hohl erwiesen haben. Die Autoritären hingegen können Entschlossenheit demonstrieren und auf ihr erbarmungsloses staatliches Durchgreifen verweisen – auch wenn das die wirtschaftliche Situation der meisten ihrer Wählerinnen höchstens minimal verbessern dürfte, wirkt diese staatliche Entschlossenheit zumindest als Placebo im Vergleich zur offenen Kapitulation des Neoliberalismus gegenüber den Marktkräften.
Grundsätzlich können die Autoritären dort hart durchgreifen, wo sie es für richtig halten, und sich auf diese Weise bei ihren Wählerinnen beliebt machen. Dafür suchen sie sich im Allgemeinen ein paar Gruppen von Spezialfeinden heraus, die in ihrem Land generell wenig beliebt sind und keine starke Lobby haben. In Ägypten unter General as-Sisi wird die Kriminalisierung des Atheismus vorangetrieben; in den Philippinen betreibt Präsident Duterte eine massenmörderische Kampagne gegen Drogendealer und -nutzerinnen; in Russland wurde unter Putin praktisch jegliche positive Äußerung über Homosexualität verboten; in Ungarn hetzt die Orbán-Regierung gegen Flüchtlinge; in Polen wurden die Unabhängigkeit der Presse und der Justiz von der regierenden PiS-Partei stark eingeschränkt; in der Türkei verfolgt die Erdoğan-Regierung neben den Kurdinnen im In- und Ausland alles, was nach Opposition oder unabhängiger Presse riecht.
Theoretisch können autoritäre Regierungen durchaus auch entschieden gegen reale, marktgemachte Probleme wie den Klimawandel vorgehen, da sie im Unterschied zu den Neoliberalen nicht generell an die Selbstregulierungskraft von Märkten glauben. Bisweilen geschieht dies auch, so kümmert sich China entschlossen um den Umstieg auf erneuerbare Energien und Elektroautos. Generell wird der Klimawandel von autoritären Regierungen und Parteien aber eher vernachlässigt oder gleich ganz geleugnet (etwa im AfD-Wahlprogramm, 65), vermutlich weil sie sich auf diese Weise als Gegenkraft zu einem vermeintlichen linksliberalen „Mainstream“ stilisieren können und weil das Thema zu kontrovers und komplex ist, als dass sie durch klimaschützende Maßnahmen bei ihren Wählern Punkten könnten.
Das Staat bestimmt, was gut und was schlecht ist
Gut zu autoritären Regierungen passt hingegen eine patriarchal-bevormundende Überwachung und Bewertung der gesamten Bevölkerung zum Durchsetzen von als gewünscht geltenden Verhaltensweisen und zum Abstrafen von unerwünschten. Auch hierin setzen sie sich von der neoliberalen Ideologie ab, die sich zumindest theoretisch für ein umfassendes Laissez-faire im Sinne von „leben und leben lassen“ ausspricht, sofern dadurch die Eigentumsordnung nicht in Frage gestellt wird. Die autoritär-bevormundende Alternative wird dagegen am derzeit konsequentesten von der chinesischen Regierung vorgemacht: Im Sozialkredit-System werden zahlreiche Verhaltensweise von (in naher Zukunft) allen Bürgern erfasst und mit Plus- oder Minuspunkten bewertet.
Was als gut oder schlecht gilt, entscheidet die Regierung dabei selbst. Abzüge bekommt etwa, wer mit dem Gesetz in Konflikt kommt oder gegen die Straßenverkehrsordnung verstößt, Kredite oder Rechnungen nicht rechtzeitig (zurück)zahlt, im Internet mit regierungskritischen oder anderen unerwünschten Äußerungen auffällt. Wer Geld spendet, sich ehrenamtlich engagiert oder bei der Arbeit positiv auffällt, bekommt dagegen Zusatzpunkte. Bei niedrigem Punktestand gibt es keine Beförderung (jedenfalls bei Staatsangestellten) und keine Bankkredite, weniger Sozialleistungen und keinen Zugang zu guten Schulen. Auch für Reisen per Flugzeug oder Schnellzug braucht es einen guten Punktestand – wer negativ aufgefallen ist, muss zu Hause bleiben. Bei besonders gutem Punktestand gibt es Ermäßigungen bei Heizungs- oder Wasserrechnungen. Auch potenzielle oder derzeitige Arbeitgeber, Heiratspartner und (mutmaßlich) Vermieter können sich den Punktestand zeigen lassen und in ihre Entscheidung, ob eine Kandidatin „die Richtige“ für sie ist, einfließen lassen.
Nicht nur Personen, sondern auch Unternehmen werden bewertet; ist der Punktestand zu schlecht, ist eine Bewerbung etwa auf öffentliche Aufträge aussichtslos. Neben dem offiziellen Sozialkredit-System gibt es ähnliche Bewertungssysteme von privaten Firmen, die teilweise noch weitere Faktoren einfließen lassen. Beim Sesame Credit des Internetgiganten Alibaba fließen etwa (ähnlich wie bei Googles PageRank) auch die Bewertungen der eigenen Kontakte in die berechnete Bewertung ein – wer sich mit kreditwürdigen Personen umgibt, wird selbst kreditwürdiger, und umgekehrt.
Die Klassenverhältnisse im autoritär-chauvinistischen Kapitalismus entsprechen grundsätzlich den neoliberalen: es gibt Kapitalisten, Nützliche, Prekäre und Abgehängte. Doch während im neoliberalen Kapitalismus die eigenen Chancen vor allem von der Klassenzugehörigkeit der Eltern sowie den eigenen Talenten und Fähigkeiten abhängen, spielen in autoritären Systemen ideologisch aufgeladene Kategorien wie Geschlecht, sexuelle Orientierung und Staatsangehörigkeit eine mindestens ebenso wichtige Rolle. Im Neoliberalismus haben talentierte und fleißige Frauen, Schwule und Ausländer theoretisch genau so gute Chancen, zu Nützlichen oder gar Kapitalistinnen zu werden wie alle anderen (in der Praxis sieht es allerdings anders aus, weil die neoliberale „Chancengleichheit“ oft ein weitgehend uneingelöster Anspruch bleibt). In autoritären Systemen kann hingegen von Chancengleichheit nicht mal theoretisch die Rede sein – je nach Details der herrschenden Ideologie wird solchen Personengruppen ein beruflicher Aufstieg oder eine „Selbstverwirklichung“ gemäß den eigenen Vorstellungen entweder ganz unmöglich gemacht oder jedenfalls stark erschwert.
Denen, die auf der „richtigen“ Seite der ideologischen Kategorien geboren wurden – am besten ergeht es dabei heterosexuellen Cismännern, die von Geburt an die Staatsangehörigkeit des Landes haben, in dem sie leben – bietet die autoritäre Ordnung hingegen Vorteile, weil sie die Konkurrenz um Arbeitsplätze, Aufstiegschancen und Machtpositionen reduziert und ihnen die Chance bietet, auf ideologisch abgewertete Gruppen herabzublicken. Gleichzeitig simuliert sie einen Aktionismus, der den Eindruck erweckt, dass die Einzelnen dem freien Spiel der Marktkräfte nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern ein mächtiger Staat für geordnete Verhältnisse sorgt. Obwohl das weitgehend Show ist – das Wirken von Marktmechanismen wird durch autoritäre Regierungen meist wenig angetastet, und wenn doch (etwa durch Förderung „nationaler Champions“) kommen solche Eingriff meist nur wenigen zugute – macht das den autoritär-chauvinistischen Kapitalismus in den Augen vieler attraktiver als den neoliberalen, dessen Glaube an das freie Spiel der Marktkräfte und die fast unbeschränkte Selbstregulierungsfähigkeit von Märkten sich inzwischen allzu offensichtlich blamiert hat. Das dürfte der wesentliche Grund dafür sein, dass sich autoritär-chauvinistische Kräfte heute weltweit auf dem Vormarsch befinden.
(Fortsetzung: Facette jeder möglichen Zukunft: der Klimawandel)
Ein paar Anmerkungen hierzu.
1. Bei telepolis gab es kürzlich einen Kommentar: Wie erfolgreich wäre doch ein linker Konservativismus! „Konservativ“ sollte dabei heissen die Position der extrem restriktiven Regulierung von Zuwanderung, „links“ hingegen eine Lafontaine/Wagenknecht-Sozialdemokratie; man darf demonstrative „identitäts-politische“ Indifferenz vermutlich zum Katalog der erwünschten Ideal-Programmpunkte der neuen „Volkspartei“ hinzudenken. „Autoritär-chauvinistische“ Abweichung vom Neoliberalismus hat unterschiedliche Gesichter in unterschiedlichen Ländern und (Wähler)Gruppen: In den USA werden zB fiscally und socially conservatives unterschieden – relativ homogene Verhältnisse, wenn man daran denkt, was alles an anti-(neo)liberalen Abweichungen in „progressive“ wie „konservative“ Richtung denkbar ist bzgl.: Frauen – Familienpolitik generell – Abtreibung – Drogenfreigabe – Identitäts+Minderheitenpolitik – („unregulierte“) Zuwanderung generell – „Islamisierungsgefahr“/Nationale Leitkultur – Sozialstaat – Verschuldung/Austerität – Freihandel – AntiDeregulierung/Privatisierung – „Bürokratie“ (zB Öko-Auflagen; Klimapolitik) – Interventionismus=Westhegemonie/“multipolare Weltordnung“ – Zionismus – „Isolationismus“ (zB Anti-EU, Anti-Euro) – „autoritärer“ Regierungsstil („governance“) – Pressefreiheit/zensur – Staatsmedien/Mediengleichschaltung – „innere Sicherheit“ (Polizei-Aufrüstung) – Überwachung – („legale“) Wahlverfälschung – Strafverschärfung.
2. Verwirrend ist, dass der derzeitige westliche Mainstream-(Neo)Liberalismus seinerseits durchaus autoritäre Züge aufweist (Zensur, Überwachung, Militarismus, Initerventionismus, Propaganda, Hegemonial-Strategien; je nach Standpunkt würden zB in den USA Wahlverfälschung, Waffengesetze und Social security Programme dazugezählt werden). Noch verwirrender ist die Mehr-Dimensionalität oppositioneller Einstellungen: „Progressiv“ kann einmal heissen eine Kritik des Status quo vom Standpunkt radikalisierter liberaler Werte und Moralvorstellungen, in diese Richtung zielen klassische Sozialdemokratie (immer wieder neu herzustellende Chancengleichheit), und die SocialJusticeWarrior-Moral. Diese radikal-linksliberalen Programme müssen zu ihrer Durchsetzung auf Staat und Gewaltmonopol zurückgreifen (wenn nicht sogar „privatisierte“ („legitime“) Gewalt von „Betroffenen“). Progressiv in anderer Hinsicht ist aber auch das rechte wie linke staats-kritisch-libertäre Denken. Allein unter dem Titel „links, progressiv“ stehen sich hier somit mindestens drei völlig unterschiedlich orientierte Gruppen gegenüber (von den noch immer selten vertretenen, definitiv kollektivistischen libertären Orientierungen; erst recht von Alt-Lenin/(Stalin)isten (immerhin: Nordkorea, Chinesische KP) ganz zu schweigen). Auch die „Rechte“ zerfällt mindestens entlang dieser Bruchlinie „libertär/autoritär“, und hat darüberhinaus mindestens zwei weitere wichtige Differenz-Dimensionen: religiös(fundamentalistisch)-säkular, und kulturell national (wenn nicht regional)-„kosmopolitisch“ (oft anti-islam(ist)isch, anti-feministisch, hedonistisch, Alt-right-mässig – das verkörpern Figuren wie Broder, Wilders, Yiannopoulos). (Hier bleibt wiederum das alt-faschistische Setzen auf den bedingungslos nach aussen wie innen durchsetzungsfähigen (aber welchen?) Staat und der weisse (heute ev. auch asiatische?) oder Eliten-Rassismus („kalifornische Philosophie“) ausser Betracht).
3. Es wäre vielleicht die Frage aufzuwerfen, ob es sich hier (wie gern von Neolibcon-Kritikern mit Blick auf ihre „geopolitischen Rivalen“ betont) um zwei grundsätzlich verschiedene, ja entgegengesetzte „Systeme“ handelt, oder nicht vielmehr um kontinuierlich ineinander übergehende Varianten ein und desselben; wobei die „rein“ neoliberale Orientierung (die aber, vgl. die Bemerkung über autoritäre Elemente des westlichen Mainstream, derzeit kaum irgendwo „rein“ verkörpert ist) gewissermassen den reifen fortgeschrittenen, aktuellen Erfordernissen gerecht werdenden Stand der „Systemlogik“ verkörpert, die mehr oder weniger „autoritären“ oder, vielleicht ist dieser Ausdruck sogar der allgemeinere: „populistischen“ Anwandlungen (auch in „sozialdemokratische“ Richtung) hingegen Zugeständnisse darstellen an ein Publikum, das zur (neo)liberalen Systemlogik kulturell-mental noch nicht aufgeschlossen hat und/oder sich, zumindest in wodurch immer überforderten Schichten und Gruppen – deren Zumutungen (erst recht deren „sozialliberalen“ und „moralliberalen“ Zuspitzungen) regressiv-trotzig verweigert.
4. Sorgfältig unterschieden werden muss zwischen den letzt-genannten regressiven Reaktionsbildungen gegenüber „reifen“ neoliberalen (oder aktuell unrealisierbaren, aber kulturell darüber hinaus fortgeschrittenen) Vergesellschaftungskonzepten (bzw deren Umsetzung), und solchen, die – auf welcher Grundlage immer – auf ihrerseits nicht ausgereifte, quasi primär-(neo)konservative Zielsetzungen massgeblicher Staats-Akteure in den Industriestaaten reagieren; in diese Rubrik gehört ua. das derzeitige „geopolitisch“ aggressiv-chauvinistische („exceptionalism“, „the indispensable nation“ etc) Auftreten grosser Teile von US-Eliten und ihrer in- wie ausländischen Gefolgschaften.
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Erneut korrekturbedürftig:
„Denn genau wie der Neoliberalismus geht die autoritär-kapitalistische Weltanschauung davon aus, dass es notwendigerweise Gewinner(-?) und Verliererinnen geben müsse.“
Zumindest die (neo)liberale Ideologie sieht Marktwirtschaft grundsätzlich als Gewinn (insofern win-win-, nicht win-lose) für (beinah) ALLE Beteiligte, und zwar gerade auch dann, wenn sie schlechter wegkommen als die eigentlichen Gewinnerinnen. Die Resultate einer durch Konkurrenz (angeblich) entfesselten bzw erzwungenen, motivierten Leistungsbereitschaft, Ausschöpfung aller vorhandenen Talente, sparsamen Ressourcennutzung und optimalen Ressourcen-Verteilung kommen demnach ALLEN zugute, und zwar in einem Mass (so wird behauptet), das jeder Form politisch erzwungener Gleichverteilung weit überlegen ist.
@franziska:
Ja, das stimmt, ich habe den Neoliberalismus durch die Betonung eines grundsätzlichen Laissez-faire in allen Lebensbereichen da etwas idealisiert — zwar gibt es, etwa in der FDP, gewisse (neo)liberale Tendenzen, die in diese Richtung gehen und deshalb skeptisch gegenüber Überwachung, strenger Drogenpolitik und anderen staatlichen Kontroll- und Bevormundungsinstrumenten sind. Überall wo real neoliberale Politik gemacht wird, kann davon aber kaum die Rede sein, stattdessen mischt sich dort ein wirtschaftliches recht weitgehendes Laissez-faire mit autoritär-bevormundend-überwachenden Programmen wie dem „war on drugs“, einer generellen Härte gegen (Kleinst)Kriminalität gemäß der Broken-Windows-Theorie und einer umfassenden Ausspionierung der Bevölkerung.
Also der real existierende Neoliberalismus war und ist tatsächlich nie einem allumfassenden Laissez-faire verpflichtet gewesen, sondern hatte immer schon autoritäre Tendenzen. Vielleicht auch ein Grund, warum autoritär-chauvinistische Parteien und Politiker_innen heute solche Erfolge feiern — sie können argumentieren, dass sie „konsequent“ durchgreifen, wo Neoliberale wie Merkel und Bush (und, mit gewissen sozialdemokratischen Relativierungen, Obama) noch viel zu „halbherzig“ waren.
Das stimmt, aber da sehe ich keinen Fehler in meinem Text, sondern einen realen Widerspruch im neoliberalen Denken — einerseits wird dort tatsächlich argumentiert, dass die „Marktwirtschaft“ (lies: der Kapitalismus) allen nutzt, weil sie andernfalls noch schlechter dran wären. Andererseits gehen Neoliberale wie Milton Friedman aber etwa davon aus, dass es eine „natürliche Arbeitslosenquote“ in nicht genau quantifizierter, aber nicht allzu kleiner Höhe gibt — Vollbeschäftigung wäre ihrer Theorie nach also ein „unnatürlicher“ Zustand, der sich in einer funktionierenden Marktwirtschaft niemals einstellen wird. Und dass es Arbeitslosen, ob mit geringer sozialstaatlicher Absicherung oder ganz ohne, nicht gerade gut geht und sie sicher nicht zu den Gewinner_innen der kapitalistischen Ordnung zählen, kann ihnen schwerlich verborgen bleiben.