Freie Quellen oder wie die Produktion zur Nebensache wurde (Teil 1)

Titelbild „Etwas fehlt“[This article is also available in English.]

[Mein Beitrag zum neuen Sammelband „Etwas fehlt“ – Utopie, Kritik und Glücksversprechen der jour fixe initiative berlin (Hg.), erschienen bei edition assemblage (Münster 2013); Lizenz: CC-BY-SA. Der komplette Artikel ist auch als PDF und EPUB verfügbar.]

Küchenfabrikation

Produziert wird in der Küche oder im Badezimmer. In den meisten Haushalten stehen produktive Automaten. Beliebt ist die 3D-Druckerfräse, die einen 3D-Drucker mit einer computergesteuerten Fräsmaschine kombiniert. 3D-Drucker stellen dreidimensionale Gegenstände her, indem sie viele Schichten Bioplastik, Metall oder Keramik übereinander drucken, bis das gewünschte Objekt fertig ist. Typische Haushalts-3D-Drucker können so innerhalb einiger Stunden Gegenstände bis zu einer Größe von 50 mal 40 mal 30 Zentimetern herstellen. Das ist eine ganze Menge; ein Großteil der im Haushalt benötigten langlebigen Dinge lässt sich so fertigen, ob Geschirr, Besteck, Spiele und Spielzeug, oder Werkzeuge. Auch elektrische und elektronische Geräte und Lampen lassen sich produzieren, bis auf die Elektronik und die Leuchten selbst. Ebenso Ersatzteile, wenn etwas kaputtgeht oder nicht passt.

Möbel und andere große Dinge, die sich nicht auf einmal ausdrucken lassen, werden in Teilen hergestellt, die man dann nur noch zusammenschrauben oder zusammenstecken muss. Häufig werden auch vorgefertigte Metall- oder Holzplatten und -stäbe integriert, um Produktionszeit zu sparen und rasch große, solide Gegenstände zusammenzubauen. Die vorgefertigten Teile werden per computergesteuerter (kurz: CNC) Fräse zurechtgeschnitten. Fräsen können auch die Oberfläche des Materials gestalten, Bohrlöcher und andere Aussparungen schneiden und Aufschriften oder Bilder eingravieren.

3D-Drucker brauchen weniger Energie als fast alle früher üblichen Herstellungsverfahren, da sie das benötigte Material nur kurz erhitzen müssen, um es zu verflüssigen. (Dazu kommt die Vorverarbeitung, wo das Bioplastik in die Form eines langen Drahts gepresst und aufgerollt wird, was aber auch nicht viel Energie erfordert.) Sie gehen sehr sparsam mit dem Material um – alles landet im Endprodukt, nichts wird verschwendet oder für Formen gebraucht. Fräsen sind etwas verschwenderischer, da sie einen Teil des Materials entfernen, der aber häufig wiederverwendet werden kann. Da der grundlegende Aufbau von 3D-Druckern und Fräsmaschinen ähnlich ist, werden beide gern in einem Gerät vereint, um Platz zu sparen.

Wer etwas herstellen will, ob für den Eigenbedarf oder als Geschenk, sucht im Netz nach passenden Vorlagen. Oft wird dafür das Programm „thing-get“ genutzt, das fast alle Vorlagen kennt und die flexible Suche nach Stichwörtern und nach Kriterien für Material, Größe, Beliebtheit und so weiter erlaubt. Alle Vorlagen sind quellfrei, das heißt jedir1 kann sie nicht nur verwenden, sondern auch den eigenen Vorstellungen gemäß anpassen und an andere weitergeben. Die meisten Vorlagen sind parametrisierbar, man kann also bestimmte Parameter einstellen, um Größe, Material, Farbe und andere Eigenschaften des gewünschten Objekts zu verändern. So lässt sich aus der gigantischen Menge im Intermesh verfügbarer Vorlagen ein den eigenen Bedürfnissen entsprechender Gegenstand machen.

Hat man Sonderwünsche, für die es noch nichts Passendes gibt, ist es meistens möglich, eine als Ausgangspunkt geeignete Vorlage zu finden und weiterzuentwickeln. Im nächsten Dezentrum oder per Intermesh findet man oft auch Menschen, die einim bei der Entwicklung helfen, weil sie selbst so etwas haben möchten, weil sie die Herausforderung reizt oder sie sich nützlich machen wollen. Die meisten Vorlagen sind, wie Software und andere Werke auch, kollektive Kreationen. Sobald eine neue oder verbesserte Vorlage fertig ist, veröffentlicht man sie, damit auch andere etwas davon haben.

Seltsamerweise galt der Haushalt früher scheinbar als unproduktiver Bereich, wo nur das familiäre Leben und sogenannte reproduktive Arbeiten wie Kochen, Putzen, Kinder betreuen, Alte pflegen stattfanden. Letztere wurden oft den Frauen aufgedrückt, während sich die Männer auf dem Sofa lümmelten oder in die Fabrik oder ins Büro flüchteten. Heute würden sich die Frauen so etwas nicht mehr gefallen lassen.

Das Putzen wird mittlerweile von Haushaltsrobotern erledigt, die langsam durch alle Zimmer krabbeln und klettern, um alle Oberflächen von Staub, Schmutz und Keimen zu befreien. Zum Essen sind vorgekochte Mahlzeiten beliebt, die man oft noch nach eigenen Vorlieben würzt und mit Soßen und anderen Kleinigkeiten anreichert, ansonsten aber nur noch warm machen muss. Um die Kinder und die Alten kümmern sich alle, aber das findet nicht speziell im einzelnen Haushalt statt. Und schon gar nicht in abgetrennten Institutionen, wie es sie früher gegeben haben soll („Kindergärten“, „Schulen“ oder „Altersheime“ genannt). Dort kamen die Kinder stundenlang und die Alten sogar jahrelang fast nur mit ihresgleichen und professionellen Betreuirn zusammen; vom Rest des Lebens waren sie abgeschnitten.

In jedem größeren Haus oder Wohnzusammenhang leben alte Menschen und die anderen Bewohnirn kümmern sich um sie, soweit dies nötig ist. Das ist Gemeinschaftssache, nicht Aufgabe Einzelner, schließlich will jedir weiter teilhaben können, wenn sei irgendwann Pflege braucht, und nicht aus seisen Zusammenhängen herausgerissen werden. Kinder werden nicht nur von ihren Eltern, sondern auch von älteren Kindern und Erwachsenen in der Nachbarschaft betreut. Diese nehmen sie in ihre Projekte mit, wo sie vor Ort lernen können, was die Älteren machen, und sich Fähigkeiten und Kenntnisse aneignen. Oft nehmen Mentorein die Neuen an die Hand, egal ob es Erwachsene sind oder Kinder, die nur mal reinschnuppern wollen.

Daneben gibt es Lernknoten, wo sich Leute gezielt zum Lernen und zum Fähigkeitserwerb zusammenfinden. Die unterscheiden sich aber deutlich von den Schulen von einst, wo es nicht darum ging, dass sich Leute gleich welchen Alters mit dem auseinandersetzen, was sie interessiert, sondern wo Kinder zur Beschäftigung mit Themen, auf die sie keinen Einfluss hatten, gezwungen wurden. Dass die Motivation und damit die Freiwilligkeit einer der wichtigsten Faktoren für den Lernerfolg ist, war den Menschen damals wohl nicht klar. Sie scheinen gedacht zu haben, dass Kinder nicht schreiben und nicht rechnen lernen würden, wenn man sie nicht dazu zwingt. Dabei lernten sie doch immer schon und ohne Zwang sprechen, was sicher nicht einfacher ist!

Gartenfarmen und Knotenorte

Essen baut man nicht zuhause an, das wächst in Gartenfarmen. Früher haben die Menschen unterschieden zwischen Gärten und Parks, die in erster Linie der Erholung dienten und Farmen, auf denen Agrikultur und Viehzucht betrieben wurden. Heute fällt das zusammen. Alle Gartenfarmen sind allgemein zugänglich. Sie versorgen die Menschen mit Lebensmitteln und erneuerbaren Rohstoffen, sind aber auch Orte der Erholung und Entspannung. Felder, Beete und Gehege werden durch Spielflächen und Badestellen ergänzt.

Je nach Präferenz der Betreiberprojekte werden die unterschiedlichsten landwirtschaftlichen Methoden eingesetzt. Beliebt sind Permakultur sowie Verfahren, die auf hohe Erträge selbst bei kleinen Flächen ausgelegt sind, etwa die biointensive Methode und Hügelkultur. Ebenfalls weit verbreitet, weil arbeitssparend und sehr ertragreich, ist die Pflanzenzucht in anorganischen Nährböden statt in Erde (Hydrokultur). Bei der Aquaponik wird dies mit Fischzucht in Behältern oder offenen Teichen kombiniert. Die Pflanzenbetten werden gelegentlich mit dem nährstoffreichen Wasser aus den Fischbecken getränkt, so dass auf künstliche Nährlösungen verzichtet werden kann.

Zur Verteilung ihrer Produkte wenden die Gartenfarmen das Pub/Sub-Verfahren an. Sie kündigen an, was sie produzieren wollen („publish“). Wer in einer Gegend wohnt oder sich längere Zeit aufhält, abonniert („subscribe“) das Programm einer nahe gelegenen Gartenfarm und wird von dieser dann regelmäßig mit frischen Produkten versorgt. Dabei gibt man an, was man gerne mag und was man nicht essen will oder kann (viele Leute essen kein Fleisch). Wenn man mehr braucht, weil Besuchirn kommen oder für ein Fest, sagt man am besten ein paar Tage vorher Bescheid, damit sich die Farm darauf einstellen kann. Ebenso wenn man verreist und das Abo unterbricht.

Anhand der Abos können Gartenfarmen den Bedarf nach ihren Produkten abschätzen und entsprechend produzieren. Wenn mehr nachgefragt wird, als eine Farm produzieren kann, und es nahe gelegene ungenutzte Ländereien gibt, kann sie die Produktion aufstocken und dies dem Ressourcenrat melden. Andernfalls verweist sie die zusätzlichen Abonnentein an Gartenfarmen in der Umgebung.

Die meisten Gartenfarmen haben Koch/Backfabriken auf ihrem Gelände, wo sie Brot backen, Marmeladen und andere Aufstriche vorbereiten und Mahlzeiten vorkochen. Alle Gartenfarmen sind Teil des Gartennetzes, das für das überregionale Teilen von Pflanzen, die nur in bestimmten Klimazonen gedeihen, entwickelt wurde. Jede Farm meldet ihren Bedarf für (in ihrer Gegend) „exotische“ Pflanzen an. Die Farmen in den passenden Klimazonen teilen diese zusätzlichen Bedürfnisse unbürokratisch untereinander auf und produzieren entsprechend mehr. Dieses weltweite Nehmen und Geben ist für die Beteiligten weniger aufwendig als „exotische“ Pflanzen in Gewächshäusern zu züchten (obwohl auch das vorkommt), und angenehmer, als ganz darauf zu verzichten. Auch bei lokalen Engpässen oder Überschüssen springt das Gartennetz ein.

Weitere Anlaufstellen für die Re/produktion werden als Knotenorte oder Dezentren bezeichnet. Hier finden Dinge statt, die sich nicht gut so stark dezentralisieren lassen wie die häusliche Küchenfabrikation, doch genau wie letztere basieren sie auf den Ideen der Kopierbarkeit und Adaptierbarkeit. Alles wird offengelegt, damit Leute, die passende Knotenorte in ihrer Nähe vermissen oder mit den vorhandenen unzufrieden sind, die anderswo funktionierenden Konzepte aufgreifen und nach eigenen Wünschen anpassen können. Der Sammelbegriff „Knotenort“ steht für ganz unterschiedliche Orte, die mal zusammen, mal räumlich getrennt anzutreffen sind – Lern- und Forschungsknoten, Heil- und Pflegeknoten, Vitaminfabriken, Fabhubs, Community-Cafés und anderes. All diese Orte werden von Freiwilligen betrieben, die sich zusammentun, um sie aufzubauen und in Betrieb zu halten.

Lern- und Forschungsknoten kommen oft zusammen vor – in ersteren wird gelernt, in letzteren geforscht und Wissenschaft betrieben. In Heilknoten werden Kranke und Unfallopfer behandelt, Operationen durchgeführt und Kinder zur Welt gebracht; hier bekommt man Medikamente und findet Ärzte, die sich um Zähne, Augen und andere bedürftige Körperteile kümmern. Pflegeknoten widmen sich der Körperpflege und dem körperlich/geistigen Wohlbefinden – ob Haare schneiden oder Massage. Heil- und Pflegeknoten haben normalerweise auch Teams von mobilen Pflegirn, die sich um besonders pflegebedürftige Kranke und Alte kümmern, und mobile Rettungsteams, die im Notfall erste Hilfe leisten.

In Vitaminfabriken werden keine Nahrungsmittel hergestellt, dafür gibt es ja Gartenfarmen. „Vitamine“ sind die Zubehörteile für Küchenfabrikation und Fabhubs, die sich nicht effizient dezentraler herstellen lassen – insbesondere elektrische und elektronische Bauteile wie Motoren, Leuchtdioden und Mikrochips. Mikrochips, das Herz jedes Computers, ließen sich bis vor einigen Jahren nur in extrem aufwendig zu errichtenden Halbleiter-Fabs (Fabrikationsanlagen) herstellen, von denen es weltweit nur einige Dutzend gab. Manche Leute fürchteten, dass die Betreiberprojekte dieser Fabs zu mächtig werden könnten – dass sie sich zusammentun und den Rest der Welt erpressen könnten mit der Drohung, ihnen sonst den Zugang zur Chips und damit die Teilhabe an der modernen Welt zu verweigern. Diese Sorge war unbegründet, allein schon weil die Fab-Betreibirn ihrerseits ja auch viel zu abhängig von Gartenfarmen und anderen Projekten waren, als dass sie sich gegen alle anderen hätten stellen können – zumal nie so recht klar wurde, was sie mit einer Erpressung letztlich hätten erreichen können.

Inzwischen ist die Gedruckte Elektronik so leistungsfähig geworden, dass sie auch zur Herstellung von Mikrochips sinnvoll eingesetzt werden kann. Elektrodrucker funktionieren ähnlich wie Tintenstrahldrucker, arbeiten aber mit deutlich höherer Auflösung und verdrucken anstelle von Tinte verflüssigte elektronische Funktionsmaterialien (leitfähige Polymere, Silber-Partikel, Kohlenstoff). Für komplexe elektronische Elemente werden mehrere Funktionsschichten übereinander gedruckt. Da es die nötigen Geräte in den meisten Fabhubs gibt, sind die hochspezialisierten Halbleiter-Fabs heute Auslaufmodelle.

Fabhubs ergänzen die häusliche Küchenfabrikation um Maschinen, die größer und vielseitiger sind als das, was man normalerweise zuhause herumstehen hat, und die allen Menschen in ihrer Umgebung zur freien Verfügung stehen. Zur typischen Ausstattung gehört neben großen und schnellen CNC-Fräsmaschinen und 3D-Druckern eine Laserschneidmaschine, die mittels eines starken Laserstrahls beliebige Formen in Metall- und andere Platten schneiden sowie Beschriftungen und Bilder eingravieren kann. Dazu kommen die erwähnten Elektrodrucker sowie Bestückungsautomaten, die elektronische Bauelemente programmgesteuert auf Platinen platzieren und verlöten. Die Platinen selbst werden per CNC-Fräse hergestellt.

Meist gibt es auch einige Geräte zur Anfertigung von Kleidung und anderen Textilien, am beliebtesten sind Strick- und Nähmaschinen. Per CNC-Strickmaschine lassen sich Stoffe der gewünschten Größe und Form herstellen. Dank des zu Beginn der kapitalistischen Industrialisierung erfundenen Jacquard-Verfahrens können diese beliebige Muster aufweisen. Anschließend werden sie per Nähmaschine vollautomatisch zusammengenäht. Manche Leute haben kleinere Varianten dieser Maschinen zuhause, aber die meisten gehen dafür in den nächsten Fabhub.

Stigmergische Selbstauswahl

Hinter jeder Gartenfarm und jedem Knotenort steht ein Team von Kümmerirn, von Leuten, die sich um den Ort kümmern und ihn am Laufen halten. Diese Teams finden sich per Selbstauswahl – jedir entscheidet selbst gemäß den eigenen Vorlieben und Interessen, ob, wo und wie sei sich einbringt. Dabei folgt man meist Zeichen, die andere hinterlassen als Hinweis auf Aufgaben, die sie angefangen, aber nicht abgeschlossen haben, oder deren Erledigung sie sich wünschen. Knoten und Farmen sammeln ihre offenen Aufgaben in öffentlich sichtbaren Wunschzetteln und To-do-Listen, die vor allem den Nutzirn des Orts sehr präsent sind und manche von ihnen zum Handeln motivieren, etwa weil ihnen die entsprechende Aktivität Spaß macht oder sie sie erlernen wollen. Oder um Abhilfe zu schaffen, weil sie andernfalls auf etwas verzichten müssten, das ihnen wichtig ist – etwa weil im Fabhub bestimmte Maschinen fehlen oder ausgefallen sind oder weil in der Gartenfarm niemand mehr Marmelade macht.

Oft wird man so von Nutzir eines Orts zu Beitragendir, die selbst einen gelegentlichen Beitrag zum Funktionieren des Projekts leistet – vielleicht nur einmal für ein paar Stunden, vielleicht immer mal wieder, vielleicht auch regelmäßig und intensiv, wenn man an dem Projekt, der Aufgabe oder den Leuten Gefallen gefunden hat. Aber natürlich muss man etwas nicht nutzen, um dazu beitragen zu können – das beliebte Programm „task-list“ sammelt etwa alle Hinweise, die Projekte irgendwo in der Welt hinterlassen, so dass man per Schlagwort oder per Filterung nach Region, Aufgabenart, Projektart nach spannenden Aktivitäten suchen kann.

Diese Art der dezentralen Aufgabenaufteilung wird als „Stigmergie“ bezeichnet, nach dem griechischen Wort stigma, das „Markierung“ oder „Hinweis“ bedeuten kann. Stigmergie gibt es auch in der Tierwelt, so organisieren sich Ameisen und Termiten auf diese Weise. Aber während Insekten rein instinktiv handeln, beruht die stigmergische Selbstorganisation der Menschheit auf jeder Menge bewusster Entscheidungen, ob es einim individuell sinnvoll vorkommt, bestimmte Hinweise zu hinterlassen oder aufzugreifen. Dass dabei alle ihre eigenen Wünsche, Vorstellungen und Möglichkeiten einbeziehen, sorgt für eine Priorisierung der offenen Aufgaben: Was vielen Menschen ziemlich oder einigen sehr wichtig ist, wird eher erledigt als Dinge, die überall nur Achselzucken hervorrufen. Und weil sich jedir selbst aussucht, wo und wie sei sich einbringt, sind alle motiviert und die unterschiedlichen Stärken und Fertigkeiten der Menschen kommen voll zur Geltung.

Das gilt freilich nur dann, wenn sich jedir frei gemäß den eigenen Präferenzen und individuellen Stärken einbringen kann, ohne durch gesellschaftliche Erwartungen oder fehlende Lernmöglichkeiten eingeschränkt zu werden. Früher war die Vorstellung weitverbreitet, dass bestimmte Dinge eher Frauen, andere eher Männern liegen. Solche Klischees waren selbstverstärkend, weil sie es insbesondere Frauen erschwerten, sich in „Männerbereichen“ zu betätigen, und weil die, die sich davon nicht abhalten ließen, große Widerstände überwinden mussten, bevor ihre Beiträge als ebenbürtig wahrgenommen wurden. Und umgekehrt wollten sich viele Männer mit bestimmten Dingen nicht abgeben, weil sie sie für „Frauensache“ hielten. Heute achten wir sehr darauf, solchen gesellschaftlichen Zuschreibungen, wenn sie irgendwo noch auftreten, entgegenzuwirken und es allen gleichermaßen zu ermöglichen, sich in den unterschiedlichsten Bereichen zu erproben und zu entfalten.

Früher dachten die Menschen anscheinend, dass die Gesellschaft ohne Zwang nicht funktionieren könnte, weil dann niemand etwas für andere Nützliches machen würde. Zwang wurde in verschiedenen Formen ausgeübt, am häufigsten wohl in Form von „Geld“. Geld war so etwas wie Spielchips. Was wir nur aus Spielen kennen, brauchte man damals zum Überleben. Die meisten konnten es nur als Belohnung für Arbeit bekommen, und wer nicht genug von diesen Geld-Chips hatte, war vom gesellschaftlich produzierten Reichtum ganz oder großteils ausgeschlossen. Das ging so weit, dass immer wieder Menschen verhungert sind, weil es ihnen an Geld fehlte!

Heute machen wir uns da keine Sorgen mehr. Für die meisten Aktivitäten finden sich ohne Weiteres genug Freiwillige zusammen. Wo das nicht der Fall ist, liegt es meist daran, dass die Sache nicht genügend Leuten wichtig ist, sondern nur eine vage Idee, bei der sich niemand hinreichend stark für die Umsetzung begeistern kann, oder Steckenpferd einiger weniger. Dann müssen die Leute, denen es wichtig ist, zusehen wie sie mit weniger Unterstützung über die Runden kommen, oder ganz verzichten. Das ist manchmal ärgerlich, wenn man viel Energie in eine Sache steckt, aus der dann nichts wird, hat aber noch niemand ernsthaft geschadet.

Dass es bei vielen wichtigen Dingen fast nie an Freiwilligen mangelt, hat auch damit zu tun, dass wir so vieles den Maschinen überlassen. Das fing schon früher, im Kapitalismus an, aber damals war es zwiespältig, weil die Leute eben Geld verdienen mussten, und wenn Maschinen ihre Tätigkeiten übernahmen, ging das nicht mehr. Heute haben wir dieses Problem nicht mehr und setzen noch viel stärker auf Automatisierung als damals. Wenn sich für eine Sache nicht genug Freiwillige finden (was früher öfter der Fall war), sind meist schnell Teams von Automatisierirn zur Stelle, die sich damit beschäftigten, wie sich die Aktivität so ummodeln lässt, dass sie ganz oder teilweise computergesteuerten Geräten anvertraut werden kann. Oft reicht es schon, bestimmte gefährliche, langweilige, übelriechende oder sonst wie unangenehme Seiten einer Tätigkeit auszumerzen, um die Sache für Freiwillige attraktiv zu machen.

Außerdem ist unsere Gesellschaft viel effizienter geworden, was das Volumen an benötigter Arbeit weiter reduziert. Im Kapitalismus war das Ziel ja gar nicht, die benötigten Dinge mit möglichst wenig Aufwand herzustellen, sondern alles drehte sich ums Geld. Der Gelderwerb funktionierte dabei wie ein Wettrennen – man musste sich gegen andere durchsetzen, die dasselbe wollten; je schlechter es den anderen ging, um so größere Chancen für einir selbst. Heute teilen wir Wissen, Software und Neuerungen, weil so alle besser vorankommen und weil die anderen oft ihrerseits weitere Verbesserungen oder Erweiterungen einbringen, auf die man selbst nicht gekommen wäre. Damals hat jedir seis Wissen, so gut es ging, geheimgehalten und sich dagegen gewehrt, dass die anderen es ebenfalls nutzen, um so vor den anderen ins Ziel zu kommen. Das hat zu unheimlich viel Mehrarbeit und Reibungsverlusten geführt.

Zudem haben die Firmen (Firmen waren etwas Ähnliches wie Projekte, aber ganz anders organisiert) versucht, den Leuten einzureden, sie würden die von ihnen hergestellten Dinge unbedingt brauchen, um so mehr Geld verdienen zu können. Und wenn Dinge kaputt gingen, oder manchmal auch schon vorher, wurden sie oft einfach weggeworfen und durch neue ersetzt. Heute setzen wir auf das Baukastenprinzip: Wenn ein Teil kaputt geht oder nicht mehr passt, muss bloß dieses Teil ersetzt oder angepasst werden.

Dass die Arbeit damals in Firmen organisiert war statt in Projekten, ist sicher auch ein Grund dafür, dass sich die Leute nicht verstellen konnten, dass es ohne Zwang gehen könnte. Bei Firmen gab es eine Leitungsebene, die sagte wo es lang ging, und alle anderen mussten folgen. Dass das tödlich für die Motivation war, ist klar. Man konnte vielleicht mit Glück eine andere Firma finden, die einir aufnahm, aber dann war man wieder in derselben Situation.

Dass sich die Projekte heute am Prinzip des „rough consensus and running code“ orientieren, ist gerade die Konsequenz daraus, dass sie Freiwillige organisieren und niemand zwangsverpflichten oder durch Geld bestechen können. Oft gibt es ein Kernteam oder einige Maintainer, die das Projekt gegründet haben oder per Wahl oder Kooptierung bestimmt werden. Diese koordinieren das Ganze, müssen sich aber bei allen wichtigen Entscheidungen rückversichern, dass der Großteil der Beteiligten – nicht nur aktiv Beitragende, sondern auch Nutzirn – einverstanden sind. Ohne diesen groben Konsens wird ein Projekt es nicht weit bringen, weil ihm die Freiwilligen weglaufen. Das zweite Ziel, „lauffähigen Code“ zu produzieren, erleichtert die Strukturierung der nötigen Debatten. Es geht um das Finden von Lösungen, die sich in der Praxis bewähren, nicht einfach um individuelle Präferenzen.

Anscheinend fanden die Menschen die Arbeit auch deshalb schlimm, weil sie so viel davon hatten. Die Aufteilung hat offenbar gar nicht funktioniert – einige hatten gar keine Arbeit und deshalb auch kein Geld, andere hatten zu viel Arbeit und deshalb keine Zeit. Heute haben wir alle viel Muße, zum Schlummern, Schlemmen, Spielen, Lesen, Lieben, Forschen, Filme gucken, Baden, in der Sonne liegen oder wonach uns sonst der Sinn steht. Das ist schön, aber den meisten reicht es noch nicht. Sie wollen, wenigstens ein paar Stunden pro Tag oder alle paar Tage mal, etwas machen, was auch anderen nutzt. Sie wollen mit anpacken an der Reproduktion des Alltagslebens; sie wollen etwas für die anderen, für die Community tun, weil andere so viel für sie tun. Sie wollen etwas lernen oder etwas Befriedigendes und zugleich Nützliches tun. Oder sie beteiligen sich an der Produktion eines Guts, das sie selbst gern hätten – „scratching an itch“, sich da kratzen, wo es juckt, nannte das Eric Raymond, einer der Pioniere der quellfreien Software (er sagte damals „Open Source“ dazu).

Gut funktionierende Projekte sind so eingerichtet, dass sie dies erleichtern. Sie heißen alle Neulinge willkommen und greifen ihnen bei Bedarf unter die Arme, sie integrieren Beiträge, die in die richtige Richtung gehen, und bemühen sich dort nachzuhelfen, wo es noch nicht passt. Deshalb läuft die Re/produktion heute, ohne dass wir irgendwelche Zwangsmaßnahmen brauchen. Und wenn es mal hakt, reden wir drüber und überlegen uns, wie wir mit der Situation umgehen können.

Ein Lösungsansatz für Schwierigkeiten mit der Aufgabenaufteilung sind die in vielen Gemeinden und in manchen Projekten geführten „Weiße Listen“. Dort kann jedir anonym Aufgaben eintragen, die mangels Freiwilligen immer wieder liegen bleiben oder mit denen die Freiwilligen, die sich darum kümmern, unglücklich sind. Natürlich ist niemand verpflichtet, etwas Bestimmtes zu tun, aber im Nachhinein aus einmal übernommenen Aufgaben wieder herauszukommen, fällt nicht jedim leicht, weil man vielleicht Angst hat, andere zu enttäuschen oder eine schmerzliche Lücke zu hinterlassen. Diese Aufgaben werden bei den wöchentlichen oder monatlichen Versammlungen diskutiert und wenn ein größerer Teil der Beteiligten der Meinung ist, dass sie zu Recht auf der Liste stehen, greift das Rundherum-Verfahren (round robin): Ab sofort sind alle erwachsenen Gemeindemitglieder, alle Projektbeteiligten für diese Aufgaben zuständig. Jedir sollte hin und wieder einen kleinen Teil davon übernehmen, damit sie nicht an Einzelnen hängen bleiben. Oft wird dabei ausgelost, wer wann was macht. Es gibt keine direkten Sanktionen, wenn man die Teilnahme an der Rundherum-Aufteilung verweigert, aber in der Praxis kommt das kaum vor.

Schwieriger wird es, wenn die unbeliebten Aufgaben besondere Fähigkeiten erfordern, die man sich nicht in relativ kurzer Zeit aneignen kann, doch ist das eher selten der Fall. Jedenfalls ist das Ziel, die Weißen Listen möglichst kurz werden zu lassen (am besten ganz leer, also „weiß“), indem die Aufgaben automatisiert oder so umorganisiert werden, dass sie wieder jemand Spaß machen. Oft klappt das gut. Dass die Leute früher oft unglücklich mit dem waren, was sie tun mussten, lag sicher mit daran, dass sie wenig Einfluss auf die Rahmenbedingungen und oft auch wenig Wahlmöglichkeiten hatten. Das ist heute anders.

* * *

Anhang (1): Geschlechtsneutrale Formen

männlich weiblich neutral
Nominativ er sie sei
Genitiv sein ihr seis
Dativ ihm ihr seim
Akkusativ ihn sie sei
männlich weiblich neutral
Nominativ jeder Einzelne jede Einzelne jedir Einzelne
Genitiv jedes Einzelnen jeder Einzelnen jedis Einzelnen
Dativ jedem Einzelnen jeder Einzelnen jedim Einzelnen
Akkusativ jeden Einzelnen jede Einzelnen jedir Einzelnen
männlich weiblich neutral
Nominativ der mobile Pfleger die mobile Pflegerin die mobile Pflegir
die mobilen Pfleger die mobilen Pflegerinnen die mobilen Pflegirn
Genitiv des mobilen Pflegers der mobilen Pflegerin der mobilen Pflegir
der mobilen Pfleger der mobilen Pflegerinnen der mobilen Pflegirn
Dativ dem mobilen Pfleger der mobilen Pflegerin der mobilen Pflegir
den mobilen Pflegern den mobilen Pflegerinnen den mobilen Pflegirn
Akkusativ den mobilen Pfleger die mobile Pflegerin die mobile Pflegir
die mobilen Pfleger die mobilen Pflegerinnen die mobilen Pflegirn
männlich weiblich neutral
Nominativ der nette Nachbar die nette Nachbarin die nette Nachbarei
die netten Nachbarn die netten Nachbarinnen die netten Nachbarein
Genitiv des netten Nachbars der netten Nachbarin der netten Nachbarei
der netten Nachbarn der netten Nachbarinnen der netten Nachbarein
Dativ dem netten Nachbarn der netten Nachbarin der netten Nachbarei
den netten Nachbarn den netten Nachbarinnen den netten Nachbarein
Akkusativ den netten Nachbarn die nette Nachbarin die nette Nachbarei
die netten Nachbarn die netten Nachbarinnen die netten Nachbarein
  1. Siehe die Tabelle geschlechtsneutraler Formen im Anhang dieses Texts.

[Teil 2]

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