Die stigmergische Zukunft
[Erschienen am 11.04.2015 im neues deutschland.]
3D-Drucker in der Küche und eine Welt ohne Geld: über das Potenzial neuer Technologien für die Revolutionierung der Produktionsverhältnisse.
«Tea. Earl Grey. Hot». So lautete das Kommando, mit dem Captain Jean-Luc Picard in Raumschiff Enterprise regelmäßig seinen Tee bei einem sogenannten Replikator bestellte. Dieses schrankhohe Gerät war eine Art Kopiermaschine. Es konnte jeden in seiner atomaren Struktur vorher erfassten Gegenstand herstellen. Wenn nicht gerade aufgrund eines Systemfehlers eine Orchidee statt einer dampfenden Teetasse aus dem Replikator plumpste, stand da binnen weniger Sekunden das Lieblingsheißgetränk des Captains.
Mit der Entwicklung von 3D-Druckern scheinen uns Replikatoren heutzutage nicht mehr ganz so fiktional wie noch in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Im Gegenteil: Auf dem Videoportal youtube finden sich zahlreiche Filme, die zeigen, wie 3D-Drucker dreidimensionale Gegenstände schichtweise aufbauen: von Gipsfiguren über Kunststoff-Trillerpfeifen bis hin zu Pizza oder gestrickten Schals – es wird eifrig mit diesen Geräten experimentiert. Aber kann man damit auch eine neue Gesellschaft ausdrucken?
In der politischen Debatte haben die Möglichkeiten dieser neuen Technologie noch kaum Spuren hinterlassen. Welches Potenzial darin für die Revolutionierung der Produktionsverhältnisse liegt, bzw. liegen könnte, darüber wird hingegen seit einigen Jahren in einer kleinen Netzcommunity diskutiert. Sie ist an der Schnittstelle von Computertechnologie und Gesellschaftstheorie zu Hause und misst den zeitgenössischen technologischen Entwicklungen, wie unter anderem 3D-Druckern, ein radikales gesellschaftsveränderndes Potenzial zu.
Einer der Protagonisten dieser Debatte ist der Softwareentwickler Christian Siefkes. In seiner Publikation «Freie Quellen oder wie die Produktion zur Nebensache wurde» malt er unter anderem aus, wie 3D-Drucker in der Zukunft im Alltag zum Einsatz kommen könnten. Als Science Fiction will er das aber nicht verstanden wissen: «Technisch bin ich bewusst ausgesprochen zurückhaltend gewesen – ich beschreibe im Wesentlichen nur Technologien, die es schon gibt, und nehme nur eine bescheidene Weiterentwicklung an», so der Autor.
Produziert wird in der künftigen Welt in der Küche oder im Badezimmer. Dort würde es dann so aussehen: «In den meisten Haushalten stehen produktive Automaten. Beliebt ist die 3D-Druckerfräse, die einen 3D-Drucker mit einer computergesteuerten Fräsmaschine kombiniert. 3D-Drucker stellen dreidimensionale Gegenstände her, indem sie viele Schichten Bioplastik, Metall oder Keramik übereinander drucken, bis das gewünschte Objekt fertig ist. Typische Haushalts-3D-Drucker können so innerhalb einiger Stunden Gegenstände bis zu einer Größe von 50 mal 40 mal 30 Zentimetern herstellen.»
Ein Großteil der im Haushalt benötigten langlebigen Dinge ließe sich so fertigen, führt Siefkes aus, ob Geschirr, Besteck, Spiele und Spielzeug, oder Werkzeuge. Fällt mir also meine Lieblingstasse runter und zerspringt in tausend Scherben, druck ich sie mir einfach nochmal aus.
Aber auch elektrische und elektronische Geräte und Lampen könne man produzieren, wobei Möbel und andere große Dinge, die sich nicht auf einmal ausdrucken lassen, in Teilen hergestellt werden könnten. Man müsse sie dann nur noch zusammenschrauben oder zusammenstecken. Eine Herausforderung, die die Ikea-sozialisierte Inbusgeneration mittlerweile mit links beherrschen sollte.
Mit der autonomen Herstellung der im Haushalt benötigten Dinge wandelt sich der Mensch vom reinen Konsumenten zum viel zitierten «Prosumenten» (= Produzent + Konsument). Auch die Prosumer-Welt benötigt übrigens Rohstoffe und Energie. Die produktiven Maschinen würden in dieser Zukunft laut Siefkes weniger Energie verbrauchen als fast alle früher üblichen Herstellungsverfahren, da sie das benötigte Material nur kurz erhitzen müssen, um es zu verflüssigen. Außerdem gingen die produktiven Maschinen sehr sparsam mit dem Material um: «Alles landet im Endprodukt, nichts wird verschwendet oder für Formen gebraucht», so der Autor.
Dass die Produktion auch beim Putzen zur Nebensache werden könnte, wird ebenso illustriert, und auch hier zeigt sich, dass das beschriebene Szenario von der Gegenwart gar nicht mehr weit entfernt ist: «Das Putzen wird mittlerweile von Haushaltsrobotern erledigt, die langsam durch alle Zimmer krabbeln und klettern, um alle Oberflächen von Staub, Schmutz und Keimen zu befreien.» Längst gibt es diese Roboter, wenn auch bislang nur in wenigen Haushalten.
Die von Siefkes so ausgemalte Zukunft macht allerdings nicht Halt bei den technologischen Potenzialen, die etwa 3D-Drucker für die Umwälzung der Produktionsverhältnisse haben könnten. Im Mittelpunkt dieser Zukunft steht vielmehr etwas, was Siefkes «Stigmergische Selbstauswahl» nennt. Damit wird erklärt, wie sich eine arbeitsteilige Gesellschaft organisieren könnte, wenn sie so aussähe, wie sie der bereits zitierte Captain Picard für seine Welt beschrieben hat: «Die Wirtschaft der Zukunft funktioniert ein bisschen anders. Sehen Sie, im 24. Jahrhundert gibt es kein Geld… Der Erwerb von Reichtum ist nicht mehr die treibende Kraft in unserem Leben. Wir arbeiten um uns selbst zu verbessern – und den Rest der Menschheit.» (Picard in Star Trek, «Der erste Kontakt», 1996). Auch in einer stigmergisch organisierten Welt gibt es kein Geld mehr.
Mit der Utopie einer geldlosen Gesellschaft wird ein Fass aufgemacht, das bei weitem größer ist, als die schlichte gedankliche Fortschreibung von technologischen Entwicklungen unter gegebenen, nämlich kapitalistischen Bedingungen. Unter diesen regiert nach wie vor das Geld die Welt. Neue Technologien werden sich hier nur dann durchsetzen, solange sie einen Profit abwerfen, solange es keine menschliche Arbeitskraft gibt, die billiger arbeitet als ein Computer. Oder sie werden sich nur für jene durchsetzen, die sie sich leisten können.
Geld ist nicht nur ein technisches Hilfsmittel, was den Tausch erleichtert. Es ist ein soziales Verhältnis und hängt eng zusammen mit Eigentum und Macht: Einige – im Vergleich wenige – Menschen können kraft ihres Eigentums an den Mitteln, mit denen Dinge und Dienstleistungen hergestellt werden, jene vielen anderen Menschen, die diese Mittel nicht haben, für sich arbeiten lassen. Diese wiederum stellen neuen Reichtum her, von dem sie nur einen Teil erhalten. Der Rest geht auf das Konto des Kapitalisten, vor allem und das ist zentraler – in die erneute Produktion. Arbeiten lassen die Produktionsmitteleigentümer mit der Absicht, aus verdientem oder geliehenem Geld mehr Geld zu machen. Zweck ist daher die Vermehrung von Reichtum um der Vermehrung willen – ein selbstzweckhafter Prozess, der auf Kosten von Mensch und Natur geht und kein Maß findet. Mit dem Geld, so schrieb Marx, trägt man diesen sozialen Zusammenhang in der Hosentasche mit sich herum.
In der stigmergischen Zukunft produzieren die Menschen dagegen nicht um der Vermehrung des Geldes oder überhaupt des Geldes wegen, sondern weil sie ein Interesse an dem Ergebnis der Arbeit selbst haben, weil sie es unmittelbar benötigen, weil ihnen der gesellschaftliche Nutzen einleuchtet, von dem auch sie entweder jetzt oder später mal profitieren. Sie arbeiten, weil es ihnen Spaß macht oder weil sie selbst wünschen, dass andere etwas herstellen, was sie brauchen, aber selbst nicht herstellen können. Die Unterscheidung von «Hobby» und «Arbeit» scheint hier aufgehoben.
Das Organisationsprinzip einer geldvermittelten, kapitalistischen Gesellschaft ist tief eingeschrieben in Alltagspraxen, in Institutionen, in das Denken, das Begehren, das Wollen, in das Werden und in den Tod, in alle Lebensbereiche des neuzeitlichen Menschen. Sich Geld wegzudenken? Unmöglich. Utopisch. Jedoch: Die stigmergische Zukunft einer geldlosen Gesellschaft bewegt sich nicht im völlig fiktiven Raum. Man erkennt rasch, welche Organisationsweise hier Modell gestanden hat: Die Erfahrungen bei der Produktion offener oder freier Software. Hier tun sich weltweit Programmierer für ein Softwareprojekt zusammen und entwickeln es gemeinsam. Das tun sie auch (wenn sie es sich leisten können), ohne dafür bezahlt zu werden, und sie tun es in der Regel dann, wenn sie die Software selbst brauchen oder nützlich finden. Sie stellen den Code offen allen anderen zur Verfügung, so dass andere das Projekt für eigene Zwecke ändern können. Linux ist so entstanden.
Die stigmergische Organisation beschreibt eine daran angelehnte Art dezentraler Aufgabenteilung auch in der materiellen Welt. «Stigmergie» kommt vom griechischen Wort stigma, das «Markierung» oder Hinweis« bedeutet. Herzstück der Idee ist die Einsicht in alle laufenden Projekte, in deren Arbeitsstand, in Informationen darüber, wo noch jemand gebraucht wird. Projekte werden in diesem Sinne »markiert«, um anderen die Möglichkeit zu geben, sich einzubringen, dort, wo es gebraucht wird und wo die interessierten Personen durch ihre Mitarbeit ein dringendes Bedürfnis gestillt haben möchten: »Dass dabei alle ihre eigenen Wünsche, Vorstellungen und Möglichkeiten einbeziehen, sorgt für eine Priorisierung der offenen Aufgaben: Was vielen Menschen ziemlich oder einigen sehr wichtig ist, wird eher erledigt als Dinge, die überall nur Achselzucken hervorrufen,« so Siefkes.
»Projekte« gibt es in einer stigmergischen Gesellschaft zahlreich, mit zum Teil recht gewöhnungsbedürftigen Bezeichnungen. So ist die Rede von »Lernknoten«, wo sich Leute gezielt zum Lernen und zum Fähigkeitserwerb zusammen finden. Essen wächst in »Gartenfarmen«, die Unterscheidung von Gärten und Parks gibt es nicht mehr. Erholungsflächen, Flächen für Agrikultur und Viehzucht fallen in eins. Solche Gartenfarmen sind allgemein zugänglich und je nach Präferenz der Betreiber werden die unterschiedlichsten landwirtschaftlichen Methoden eingesetzt, wie zum Beispiel Permakultur, Hydrokultur oder Aquaponik.
Zur Verteilung der Produkte wenden die Gartenfarmen das »Pub/Sub«-Verfahren an. Sie kündigen an, was sie produzieren wollen (»publish«). Wer in einer Gegend wohnt oder sich längere Zeit aufhält, abonniert (»subscribe«) das Programm einer nahe gelegenen Gartenfarm und wird von dieser dann regelmäßig mit frischen Produkten versorgt. Anhand der Abos können Gartenfarmen den Bedarf nach ihren Produkten abschätzen und entsprechend produzieren. Wenn mehr nachgefragt wird, als eine Farm produzieren kann, und es nahe gelegene ungenutzte Ländereien gibt, kann sie die Produktion aufstocken und dies dem Ressourcenrat melden. Andernfalls verweist sie die zusätzlichen Abonnenten an Gartenfarmen in der Umgebung.
»Knotenort« steht für ganz unterschiedliche Orte, die mal zusammen, mal räumlich getrennt anzutreffen sind – Lern- und Forschungsknoten, Heil- und Pflegeknoten, Vitaminfabriken, Fabhubs, Community-Cafés und anderes. Fabhubs ergänzen die häusliche Küchenfabrikation um Maschinen, »die größer und vielseitiger sind als das, was man normalerweise zu Hause herumstehen hat.« In Vitaminfabriken wiederum werden keine Nahrungsmittel hergestellt. »Vitamine« sind vielmehr die Zubehörteile für Küchenfabrikation und Fabhubs, die sich nicht effizient dezentraler herstellen lassen – insbesondere elektrische und elektronische Bauteile wie Motoren, Leuchtdioden und Mikrochips.
Die hier längst nicht erschöpfend beschriebene stigmergische Organisation wird in etliche weitere Bereiche fortgeschrieben: Transportmittel, Netztechnologien, Wohnen. Nichts davon scheint abwegig. Bei allem Befremden gegenüber dem großen Vertrauen in die Freiwilligkeit beim Mittun: Die sozialen Verhältnisse werden nicht verherrlicht. Auch in dieser Utopie gibt es Auseinandersetzungen, sie werden in sogenannten Konflikträten bearbeitet.
Was die stigmergische Welt kennzeichnet, im Gegensatz zu vielen anderen utopischen Ansätzen, ist die radikale Infragestellung der existierenden kapitalistischen Vergesellschaftung durch Privateigentum und Geld – auf der Basis technologischer Entwicklungspotenziale. Sie wirft nichtsdestotrotz mehr (interessante) Fragen als Antworten auf. Einfach ausdrucken lässt sich diese Gesellschaft nicht, daher stellt sich auch die Frage: Wie von A nach B kommen?
Ansetzen lässt sich dabei zwar an bereits existierenden Nischenprojekten, wie beispielsweise Projekte der solidarischen Ökonomie, oder dann doch wieder die Entwicklung von Freier Software. Der spontane Alltagsverstand oder das herrschende Bewusstsein muss jedoch einen Riesensprung über sich selbst hinaus wagen können, um nicht ständig bei jeder stigmergischen Idee reflexartig zu reagieren mit: »So ist der Mensch doch gar nicht« – um damit die Welt, wie wir sie kennen, nur zu spiegeln.
Wir brauchen einfach einen Experimentalraum. Die sozialen Innovationen und die technischen Innovationen müssen gemeinsam wachsen und entwickelt werden können.