Bedürfnisse und Interessen

Guido fragt in einem Kommentar zum Artikel »SOPA, ACTA, Urheberrecht = Marktwirtschaft«, warum sich denn nicht eine politische Partei, etwa die Partei Die Linke (PDL) finden sollte, die für das freie Tauschen eintritt, was einem Ende des Urheberrechts gleichkäme: »Es ist doch im Interesse der User, unbehelligt alles tauschen zu können«. Eine gute Frage, wie ich finde. Sie lässt sich nicht so einfach beantworten, deswegen versuche ich es (mal wieder) grundsätzlicher.

Ich finde es wichtig, zwischen Bedürfnissen und Interessen zu unterscheiden.

In der alltäglichen Redeweise werden Bedürfnisse und Interessen meistens synonym verwendet. »Ich habe Interesse an…« oder »Ich interessiere mich für…« drückt einen ganz persönlichen Wunsch aus, etwas kennenzulernen, zu bekommen, zu erleben oder was auch immer. Die Alltagsrede ist das eine, die begriffliche Unterscheidung das andere. Das kennen wir von anderen Begriffen. »Wert« kann als individuelle Wertschätzung verstanden werden oder begrifflich als gesellschaftliches Verhältnis beim Warentausch. »Geld« kann als neutraler Vermittler aufgefasst werden oder begrifflich als dingliche Inkarnation des Werts. Das gleiche finden wir nun auch beim Interesse. Das zeige ich gleich. Hilfreich ist es, wenn man einfach mal die Verschiedenheit von Bedürfnissen und Interessen für gesetzt hält und nun wissen möchte, worin sie besteht. Nach dem Durchgang komme ich am Ende auf die Ausgangsfrage der Politik zurück.

Zunächst zu den Bedürfnissen. Menschliche Bedürfnisse lassen sich in zwei große Gruppen einteilen, die in einem engen Verhältnis zueinander stehen (ich orientiere mich an der Kritischen Psychologie, Quelle ist ein Glossar, das von mir stammt):

  • Sinnlich-vitale Bedürfnisse: Das sind auf die individuelle Lebenssicherung und die Fortpflanzung bezogene Bedürfnisse, deren Befriedigungsqualität vom Grad der Realisierung der produktiven Bedürfnisse abhängt.
  • Produktive Bedürfnisse: Das sind auf die Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess der Re-/Produktion der Lebensbedingungen bezogene Bedürfnisse als Voraussetzung zur Befriedigung der sinnlich-vitalen Bedürfnisse.

Ganz verkürzt gesagt nimmt die Befriedigung sinnlich-vitaler Bedürfnisse im Kapitalismus die Form des »Konsums« an und die Befriedigung produktiver Bedürfnisse die Form der »Arbeit« (entweder Verkauf oder Verwertung von Arbeitskraft). Essen, Trinken, Sex, Wohnen, Geborgenheit usw. brauchen — direkt oder indirekt — Voraussetzungen, die in der Regel per Kauf erworben werden müssen. Um an das Geld zu kommen, muss entweder die eigene Arbeitskraft verkauft oder die Arbeitskraft anderer gekauft und verwertet werden. Allerdings hat Ver-/Kauf und Verwertung von Arbeit nicht nur den nackten Geldzweck im Hintergrund, sondern Arbeit bedeutet immer auch, an der »Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess« teilzuhaben, wie entfremdet auch immer es der Kapitalismus eben ermöglicht.

Entsprechend der Spaltungen in der Gesellschaft — und die Klassenspaltung ist nicht die einzige — werden so auch die Bedürfnisse auseinandergerissen. Am Rande bemerkt besteht eine wesentliche Qualität der commonsbasierten Peerproduktion darin, diese Trennung wieder aufzuheben. Das ist jetzt aber hier nicht das Thema.

Was sind nun Interessen, wenn sie nicht mit Bedürfnissen identisch sind?

Interesse fasse ich als Ausrichtung von Handlungen von Individuen oder Kollektiven auf Dinge, Vorgänge, Ziele oder andere Handlungen. Es sind folglich Mittel, um Bedürfnisse zu realisieren, wobei die Vermittlungsstrecke bis zur angestrebten Bedürfnisbefriedigung unterschiedlich lang sein kann. Bedürfnisse müssen dann Interessenform annehmen, wenn sich die Bedürfnisse deshalb nicht umsetzen lassen, weil ihnen andere als Interessen artikulierte Bedürfnisse entgegenstehen. Interessen sind somit eine historisch-spezifische soziale Form, die je eigenen Bedürfnisse zur Geltung zu bringen.

Diese historische Besonderheit ist Resultat der gesellschaftlichen Struktur des Kapitalismus, in der sich die Einen stets auf Kosten von anderen durchsetzen können. Das nenne ich Exklusionslogik. Die Exklusionslogik ist keine Folge der Bösartigkeit und Dummheit der Menschen (auch wenn es bösartige und dumme Menschen geben mag), sondern in die soziale Form der gesellschaftlichen Vermittlung eingeschrieben. So entstehen und reproduzieren sich permanent Gegensätze: Käufer vs. Verkäufer, Männer vs. Frauen, Alte vs. Junge, Schwarze vs. Weisse, Inländer vs. Ausländer usw. — die Liste ist endlos und erweitert sich ständig, bis in die kleinsten Bereiche der Gesellschaft hinein. Nur die Top-Three werden gelegentlich skandalisiert, nämlich die Spaltungen entlang der Dimensionen class, sex und race. Manchmal auch ein paar mehr.

Also: Im Kapitalismus kann man die eigenen Bedürfnisse in der Regel nur realisieren, wenn man sie als (meistens) kollektive Interessen artikuliert. Diese Interessen haben prinzipiell partiellen Charakter. Es sind Partialinteressen, die gegen die Partialinteressen von anderen stehen. Aber auch innerhalb einer Artikulation von Partialinteressen gibt es keine Identität. Die Formulierung von Bedürfnissen in Form kollektiver Interessen hat immer Kompromisscharakter. Kein einzelner Mensch geht in den jeweiligen (Partial-)Interessen völlig auf, denn alle Menschen sind verschieden, einschließlich ihrer Bedürfnisse. Daher befinden wir uns in der Regel auch in unterschiedlichen Interessenzusammenhängen, oft sogar solchen, die gegeneinander stehen. Institutionalisierte Beispiele sind ADAC und Greenpeace, Gewerkschaft und Aktienbesitz, Einkaufs-Punktesammler und CCC.

Kann es Allgemeininteressen geben? Klare Antwort: Im Kapitalismus nicht. Wären aber Allgemeininteressen als Aufhebung des Kapitalismus denkbar? Hier sind zwei Gedankenmodelle möglich. Entweder die Allgemeininteressen sind so »allgemein« formuliert, dass sich tatsächlich alle anderen Interessen darunter subsumieren lassen. Etwa: Alle wollen gut leben. Aber was heißt das? Ein Versuch, Allgemeininteressen auch allgemein zu formulieren, ist die Erklärung der Menschenrechte. Darauf komme ich gleich nochmal zurück.

Ein anderes Gedankenmodell geht davon aus, dass sich tatsächlich individuelle Bedürfnisse so umsetzen lassen, dass sie nicht gegen die Bedürfnisse anderer stehen. Dies ist dann denkbar, wenn das sich-nicht-auf-Kosten-anderer-durchsetzen selbst zu einem individuellen Bedürfnis wird. Das kann dann passieren, wenn es in der Gesellschaft subjektiv funktional ist, die Bedürfnisrealisierung anderer als Aspekt der eigenen Bedürfnisbefriedigung zu begreifen und empfinden.

Heute ist das nicht allgemein möglich. Im Kapitalismus ist es subjektiv funktional, sich auf Kosten der anderen durchzusetzen, weil die gesellschaftliche Struktur eben jenes nahelegt. Die Perspektive einer Inklusionslogik, also einer Gesellschaft, in der die »freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« wurde von Marx und Engels formuliert. In diesem Fall lösen sich die »Allgemeininteressen« jedoch auf, weil es nicht mehr erforderlich ist, die eigenen Bedürfnisse auf dem Wege der Interessenartikulation gegen die Interessen anderer durchzusetzen.

Wieder zurück ins Heute des realexistierenden Kapitalismus.

Politische Parteien sind per Definition Interessenorganisationen. Sie inkorporieren die Interessengegensätze. Je nach Färbung treten sie mal mehr für diese oder für jene Interessen ein. Das macht die Unterschiede zwischen, aber auch innerhalb der Parteien (»Flügel«) aus. Alle Parteien müssen bei Strafe des Untergangs einen gewissen Ausgleich der gegensätzlichen Interessen vertreten. Keine Partei kann auf die Idee kommen, den Interessenmodus zu verlassen, weil die Struktur der Gesellschaft und der Rolle der Parteien darin dies nicht zulässt. Dazu kommt das selbstreferenzielle Partialinteresse, die Partei (oder Gewerkschaft, NGO etc.) möglichst lange zu erhalten, weil sie die Existenz der Beschäftigten und Mandatsträger_innen monetär absichert.

Historisch vertraten die Parteien der Linken in der Regel das Konzept der Allgemeininteressen. Dieses ist, wie gezeigt, nicht tragfähig. Denn entweder werden alle Interessen unter die einer Gruppe subsumiert (Arbeiterinteressen identisch Allgemeininteressen) oder es bleibt nur ein Minimalkonsens übrig (z.B. als Menschenrechte). Bliebe nur, den Interessenmodus insgesamt zu verlassen und das Konzept der Allgemeininteressen aufzugeben. Dann müsste sich die jeweilige Partei jedoch auflösen, weil sie funktionslos wäre.

In diesem Dilemma steckt auch die PDL. Unterstellt, sie wolle das Beste, kann sie dies dennoch nicht erreichen. Als Partei bewegt sie sich im Interessenmodus und artikuliert bestimmte Partialinteressen gegen andere Partialinteressen. Ein Anspruch auf Durchsetzung von Allgemeininteressen wird konsequenterweise gar nicht erst erhoben. Im Parteiprogramm geht bestenfalls um die »Interessen der Mehrheit« oder die »Interessen der Allgemeinheit«, die gegen andere Interessen (Profit etc.) durchgesetzt werden sollen. Auch der übliche »Ausgleich von Interessen« findet sich im Programm.

Was ist nun mit dem von Guido angesprochenen »Interesse der User, unbehelligt alles tauschen zu können«? Wäre dieses nicht bei der PDL gut aufgehoben? Kurz: Das ist nicht möglich. Denn dem Interesse »unbehelligt alles tauschen zu können« steht das Interesse, das unbehelligte Tauschen zu unterbinden entgegen, weil Kreative sonst um ihre schmalen Einkünfte gebracht werden. Und deren Interessen vertritt die PDL dem Anspruch nach ja auch. Auch die PDL kann die Interessengegensätze nicht aufheben, sie kann sich nur darin bewegen.

Das ist übrigens bei den Piraten und den Grünen ganz genau das Gleiche. Auch sie stellen sich nicht vorbehaltlos auf die Seite der User-Interessen. Geht einfach nicht. Weder PDL noch Piraten oder Grüne fordern die Abschaffung des Urheberrechts. Sie können es nicht fordern. Sich im Interessenmodus allein auf die Seite einer Interessengruppe zu stellen, hätte repressiven Charakter. Es bedeutete, alle anderen Interessen besonderen Partialinteressen unterzuordnen. Alle Parteien müssen um ihrer eigenen Existenz willen den Interessenausgleich anstreben und somit die Interessenlogik bestätigen.

Kommt man aber nicht über die Bestimmung von »berechtigten« und »unberechtigten« Interessen weiter? Nein. Wer sollte diese festlegen? Und wie? Es ist ja nicht so, dass es das nicht gäbe, etwa die erwähnten Menschenrechte. Aber selbst die sind umstritten. Auch nur am Rande: Das »Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen« steht in Art. 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, und das Urheberrecht ist Teil des UN-Sozialpakts, einem der zentralen Menschenrechtsinstrumente. Im Interessenmodus ist das Dilemma der Interessen, die nur Partialinteressen sein können, nicht auflösbar. Emanzipation findet sich nur jenseits dessen.

Aber könnte man nun nicht jene Bedürfnisse bestimmen, die die übergroße Mehrheit hat, und diese dann gesellschaftlich absichern? Könnte nicht der Staat diese Absicherung übernehmen? — Wurde alles schon probiert und ist gescheitert. Musste scheitern. Denn mal abgesehen von den Bedürfnissen der Minderheit (ein Problem jeder Mehrheitsbildung) ist wieder die gleiche Frage: Wer sollte festlegen, welches diese Bedürfnisse sind? Essen, Trinken, Sex, Wohnen, Geborgenheit usw. sind zu allgemein, die Frage ist: Was heißt das konkret? Sobald man auf die Ebene der Realisierung kommt, muss man feststellen, dass Bedürfnisse nichts Festes, sondern etwas historisch gewordenes und veränderliches sind.

Da sich Parteien notwendig im Interessenmodus bewegen, ist allgemeine Emanzipation (ist das nicht schon ein Doppelmoppel?) mit Parteien nicht erreichbar. Sie könnten allerdings ein Stück weit helfen, bestimmte Diskurse voranzubringen. Sie könnten ganz praktisch Commons-Projekte der Peerproduktion unterstützen. Dies ist möglich, weil — nach der Fünfschrittüberlegung — es im Übergang zu einer freien Gesellschaft eine doppelte Funktionalität von keimförmigen Ansätzen gibt: Sie werden im alten System gebraucht und repräsentieren selbst aber eine neue Logik. Alles, was nun aus alter Logik kommend Keimformen vorantreibt, ist daher hilfreich. Dies allerdings ist kein Privileg der PDL oder der Piraten oder der Grünen, noch der Politik überhaupt.

Wer sich also in die Parteien begeben will, um dort zum Beispiel die Idee der commonsbasierten Peerproduktion voranzubringen — nur zu. Und auch gegen eine Zusammenarbeit spricht nicht so viel (mache ich z.B. auch). Doch seid euch der immanenten und notwendigen Begrenztheit dieses Vorhabens bewusst. Das erspart einem manche Illusionen und damit vielleicht auch Frust. Die Emanzipation ist politisch über Parteien nicht zu erreichen. Eine fiktive commonsbasierte Peer-Partei müsste als erstes Ziel ihre eigene Überflüssigmachung ins Programm schreiben — ein Widerspruch in sich.

Fazit: Zur Erreichung von Emanzipation, die nur eine allgemeine sein kann, muss der Interessenmodus der Bedürfnisbefriedigung überwunden werden. Dies ist — zumindest potenziell, weil strukturell — bei der commonsbasierten Peerproduktion der Fall. Ich denke, dass auch nur so eine gesellschaftliche Hegemonie erreicht werden kann: indem es getan wird. In diesem Sinne ist jedes konkrete neue Projekt commonsbasierter Peerproduktion »sehr viel wert« 😉

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