Seien wir realistisch…
… und hören endlich auf, das Unmögliche zu versuchen. Sagen 180°, eine neuen Gruppe mit keimförmigen Ansätzen. Was aber ist unmöglich? Die Gruppe 180° — nomen est omen — dreht die übliche Denkrichtung um: Unmöglich ist der Kapitalismus als menschenfreundliche Gesellschaft:
»’Soziale Marktwirtschaft‘ & Co, die glauben, den Kapitalismus ‚bändigen‘ zu können, sind doch nichts als schlechte Utopien. Schauen wir uns doch mal die nackten Tatsachen an. Um eine Gesellschaft einzurichten, die den Bedürfnissen der Einzelnen gerecht wird, hilft nur noch diejenige Bewegung, die die herrschenden Verhältnisse insgesamt aufhebt.«
Gut gebrüllt, aber wie?
Vier Themen sind angekündigt, die das klären sollen: Grundauskommen, Klimawandel, Gender und Keimformen. Erst das »Grundauskommen« zeigt einen Text: Im Grunde realistisch. Zum Verhältnis von Auskommen und Einkommen. Hier wird eine Perspektive skizziert, zu der ich hier eine Reihe von Fragen notiere (mangels Möglichkeit auf der Website):
»Eine Utopie von einer Gesellschaft, in der die Menschen frei von banalen materiellen Zwängen und ihnen auferlegten, gesellschaftlichen oder individuellen Zwängen agieren, ist nicht ohne die ganz grundsätzliche Zusicherung zu haben, dass es für alle einen vergleichbaren Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen gibt. Dies ist eine wesentliche Bestimmung emanzipatorischer Vergesellschaftung: Alle müssen die Möglichkeit haben auf die zu treffenden Vereinbarungen Einfluss zu haben und auf den gesellschaftlichen Reichtum zugreifen zu können.«
Alle sollen die Möglichkeit haben, Einfluss auf Vereinbarungen zu nehmen, ok. Aber wie? Es ist ja schlechterdings unmöglich, auf alle gesellschaftlich notwendigen Vereinbarungen auch tatsächlich Einfluss zu nehmen. Wenn aber je ich auf bestimmte Vereinbarungen keinen Einfluss nehme, können sich diese nicht dann gegen mich wenden? Wie kann ich Einfluss-nehmen delegieren? Wie wird Einfluss-nehmen in der tiefgestaffelten Anordnung ineinandergreifender Teilfunktionen in der Gesellschaft organisiert? Gibt es Veto-Möglichkeiten? Kurz: Wie werden gesellschaftliche Konflikte reguliert?
»Das setzt voraus, dass es transparente Prozesse gibt, in denen darüber befunden wird. Und es negiert die Existenz bewusstloser Prozesse, auf die die Einzelnen keinen Einfluss haben.«
Wann ist ein Prozess transparent, wann ist er es nicht (mehr)? Welche Rolle spielt die Qualifikation, inhaltlich komplexe Themen, die in einem Prozess bewegt werden, zu verstehen? Was soll das sein: ein bewusstloser Prozess, auf den Einzelne keinen Einfluss mehr haben? Ist damit die Vergesellschaftung über die Wertabstraktion gemeint? Doch auch diese läuft ja nicht bewusstlos ab, sondern ist Ergebnis bewusster Handlungen — auch wenn sich dann die dinglichen Resultate dieser Handlungen gegen die Menschen kehren und als scheinbar unabhängiges „bewusstloses“ Verhängnis auftritt. Wie können solche bewusstlos-bewussten Verhängnisse von vornherein vermieden werden?
»In ihrer Interaktion, in ihren Beziehungen zueinander, haben die Menschen frei zu sein. Das können sie jedoch nur, wenn sie gleichzeitig in diesen Beziehungen zueinander auch gleich sind: wenn allen dieser Zugriff gewährt wird und wenn er allen gleichermaßen gewährt wird. Wenn alle die Möglichkeit haben, sich einer Vereinbarung zu entziehen, ohne dann existenziell bedroht zu sein. Wenn sie die Möglichkeit haben zu gehen, wenn ihnen eine Beziehung nicht mehr passt.«
Hier scheint die Spehr’sche Freie Kooperation durch. Was ist jedoch mit der Verantwortung für Andere? Was nutzt der gleichermaßen gewährte Zugriff auf gesellschaftliche Ressourcen, wenn der oder die Einzelne sie gar nicht nutzen kann, warum auch immer (zu jung, zu alt, krank, wie auch immer eingeschränkt etc.)? Steckt dahinter nicht der bürgerliche abstrakte Gleichheitsbegriff? Menschliche Beziehungen bestehen nicht nur aus unmittelbaren Interaktionen: Wie wird gesellschaftliche Fürsorge und Vorsorge organisiert, so dass auch tatsächlich alle Menschen absichert sind?
»Diese allgemeine Bestimmung kann dann auch der Rahmen sein, um einerseits unterschiedliche Kämpfe miteinander zu verbinden und andererseits auf eine politische Vision jenseits der bürgerlichen Gesellschaft hinzuarbeiten. Eine Gesellschaft eben, in der die Menschen gemeinsam und kooperarativ darüber entscheiden, was sie wie und warum tun wollen.«
Ok, es handelt sich um allgemeine Bestimmungen. Insofern sind meine Fragen „zu konkret“. Dennoch mögen sie Anlass geben, die interessanten Ansätze weiterzudenken und dabei stets kritisch zu hinterfragen, ob denn wirklich die bürgerliche Denk- und Lebensform überschritten oder doch nur schon wieder reproduziert wird. Ich habe eine Lösung auch nicht in der Tasche, und im Sinne eines Masterplans kann es sie auch nicht geben. Doch auch allgemeine Bestimmungen müssen auf ihre Tragfähigkeit abgeklopft werden.
Ich bin gespannt auf den Text unter der Rubrik Keimformen.
Ui, da hast du dir ja richtig Mühe gegeben. Ein paar Gedanken von mir dazu vielleicht. zunächst ganz allgemein vorweg: ich vielen punkten gebe ich dir recht, etwa wenn es darum geht, das der text an bestimmten stellen sehr vage bleibt. nur ging es ihm ja auch gar nicht, detailreiche ausführungen über bedingungen und notwendigkeiten post-kapitalistischer organisierung zu formulieren, sondern eher den allgemeinen rahmen zu umreißen und diesen in den kontext der debatte um ein „bedingungsloses grundeinkommen“ zu setzen.
Du fragst etwa, wie genau denn die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Einflußnahme aussehen könnte. Das weiß ich auch nicht so en detail – und vermutlich auch sonst niemensch. Es wäre ja gerade die Aufgabe einer auf Emanzipation gerichteten sozialen Transformationsbewegung, das herauszufinden. An den angesprochenen Punkten ist ja durchaus was dran: realistischerweise werde ich nicht an allen Entscheidungsprozessen teilnehmen können und wollen, ich werde also deligieren müssen. Da wird es wohl keine Patentlösung geben, von Rätemodellen über Deligiertentreffen oder Vollversammlungen bis hin zu Vollversammlungen ist da sicherlich einiges möglich. Aber wie gesagt, das genauer auszuloten war gar nicht die Absicht des Textes.
Ein bewusstloser Prozess, auf den die Menschen keinen Einfluss mehr haben, wäre tatsächlich die Vergesellschaftung über Geld, Arbeit und Wert. Da tun alle etwas und am Ende kommt was raus, was niemensch intendiert hat. Schließlich setzen die Menschen nicht bewusst ihre Arbeiten als Werte gleich: Ganz im Gegenteil, wie Marx (zurecht) bemerkt: „Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen es nicht, aber sie tun es.“ (MEW 23, 88)
Der Unterschied dazu wäre ein Zustand, in dem sich die Menschen bewusst die gesellschaftlichen Produktionsmöglichkeiten unter ihre gemeinsame Entscheidungskompetenz unterordnen. „Transparenz“ könnte hier heißen, das die Entscheidungen zumindest im Prinzip nachvollziehbar sein sollten. Also weder von Geheimzirkeln getroffen werden noch von automatischen Prozessen („kybernetisches System“).
Das Bewusstlose im Kapitalismus ist ja eben nicht nur Schein, sondern durchaus Realität. Der gesellschaftlichen Beziehungen nämlich erscheinen den Menschen „als das was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“ (MEW 23, 87) Insofern ist das nicht nur ein „scheinbar unabhängiges “bewusstloses” Verhängnis“, sondern ein ganz reales Verhängnis. Eins natürlich, das von Menschen geschaffen und deshalb von ihnen veränderbar ist. Aber nicht durch puren Willen, sondern durch Veränderungen der sozialen Praxis. Eben indem auf transparente, gesellschaftliche Kommunikation statt auf individuelle Prozesse gesetzt wird.
Der weitestgehende Debattenvorschlag, wie so eine transparente, gesellschaftliche Kommunikation aussehen könnte ist m.E. tatsächlich das Modell der freien Kooperation von Christoph Spehr. Darum noch mal ein paar Anmerkungen zu deinen Fragen:
Zur freien Kooperation gehört ja durchaus auch das Sicherstellen, das die Möglichkeiten gleichermaßen bestehen. Und darin spiegelt sich natürlich auch die Verantwortung für Andere. Wobei mensch natürlich aufpassen muss, da nicht so ein paternalistisches Ding draus zu machen. So im Sinne von: „Ich weiß das viel besser als du (Kind, greiser Mensch, geistig weniger fitter Mensch) und entscheide deshalb mal für dich.“
Insofern kann ich dem Ziel, Teilhabe und Entscheidungsmöglichkeiten auch und gerade für solche Menschen herzustellen, durchaus was abgewinnen. Die freie Kooperation würde ich hier eher als Konzept sehen, es mit dem Problem aufzunehmen, denn es zu negieren.
Das ist ja eine sehr häufige Kritik, aber ich finde die zieht nicht. Denn der bürgerliche Gleichheitsbegriff setzt ja gerade darauf, auf die konkrete Auseinandersetzung zu verzichten und Menschen „konkret gleich“ zu setzen. Im Wert, im Geld, im Recht etc. Dabei geht es ja nie darum, ob ich tatsächlich und realistischerweise tatsächlich einen genauso guten Zugriff auf Entscheidungen oder Ressourcen haben wie jemensch anders.
Das ist ähnlich wie beim Freiheitsbegriff, der hat ja für Marx etwa auch einen Doppelcharakter. Der „doppelt freie Lohnarbeiter“ ist eben doppelt frei: einerseits von Sklaverei, andererseits vom direkten Zugriff auf gesellschaftliche Ressourcen. Kommunismus wäre, der persönlichen Freiheit noch die ökonomische hinzuzufügen. Den Zugriff auf Dinge also zu gewähren.
Bei abstrakter Gleichheit ist immerhin schon mal gewährleistet, das niemensch mir aus meiner persönlichen Herkunft einen Strick dreht. Das gilt es jetzt zu ergänzen darum, das ich auch tatsächlich genauso wie andere auf Dinge und Entscheidungen zugreifen kann. Eine pure Ablehnung wird dem m.E. nicht gerecht.
Aber was gibt es denn für Arten von Fürsorge und Vorsorge, die keine menschlichen Beziehungen sind? Und wie geschrieben: die Absicherung kann eben keine rein abstrakte sein, die das „irgendwie halt so“ zusichert, sondern muss doch auch real hergestellt werden. Dadurch etwa, das die Dinge hergestellt und/oder getan werden etwa. Und dazu braucht es dann Entscheidungs- und Organisierungsprozesse. Und die sollten dann bewusst erfolgen, damit da auch was vernünftiges bei rumkommt. Und nicht unbewusst. Siehe oben.
Puh, das ist ja doch ganz schön viel geworden. Vielleicht sollte ich da mal nen eigenen Blogeintrag draus basteln…
@Juli: Whow, ein lange Antwort – danke! Ich greife mal einige Punkte raus:
Nun: Wir sind die soziale Transformationsbewegung (klar: Teil der). Deswegen ist es uns aufgegeben, die Problematik der gesellschaftlichen Einflussnahme gedanklich, also theoretisch, zu bewegen. Das ist nix für später, weil es auch unsere jetzige Praxis im Alten bestimmt.
Das ist der Punkt: Das halte ich samt und sonders für bürgerliche Entscheidungsprozesse, die unter Bedingungen der Durchsetzung von Partialinteressen sinnvoll sind, aber eben jene gesellschaftliche Struktur konkurrierender Partialinteressen mit reproduzieren. Hier müssen wir neu nachdenken.
Hierin steckt das Dilemma: Die Nachvollziehbarkeit „im Prinzip“ bedeutet Entfremdung in praxi. Das Prinzip nutzt mir gar nichts, wenn ich faktisch es nicht nutze. „Im Prinzip“ könnte ich in die Politik gehen und eine bessere machen — erzählt der Bürger. Wann aber brauche ich Nachvollziehbarkeit? Doch dann, wenn ich fürchten muss, dass andere Partialinteressen meinen Partialinteressen zuwider laufen. Im bürgerlichen Partialinteressenmodus gibt es keine Auflösung des Dilemmas.
Das ist doch kein Widerspruch? Es ist ein reales Verhängnis, dass jedoch scheinbar unabhängig von unserem Tun auftritt. Ich könnte auch schreiben: “reales, scheinbar unabhängiges, ‚bewusstloses‘ Verhängnis” — besser?
Ich sehe nicht, wie hier „Veränderungen in der sozialen Praxis“ auf etwas anderem beruhen, als auf dem „puren Willen“. Oder ich hab’s nicht richtig verstanden.
Auch hier wieder: Jede transparente, gesellschaftliche Kommunikation (ich habe noch kein Bild, was das sein soll…) gründet in „indiviuelle(n) Prozesse(n)“ — die Frage ist doch: Wie sind diese gestaltet oder strukturiert?
Das sehe ich nicht so, wäre aber im Detail zu diskutieren.
Volle Zustimmung. Damit ist jedoch nicht gesagt, was Verantwortung nun positiv ist. Mit „gleichen Möglichekeiten für alle“ ist es nicht getan. Auch ein vieldimensionales Problem (Stichworte: gesellschaftliche Bedingungen für Verantwortungswahrnahme, individuelle Verantwortung für sich, individuelle Verantwortung für andere, kollektive Verantwortung).
Genau. Das überschreitet aber die Freie Kooperation doch nicht wirklich? Deswegen ist die Kritik der abstrakten Gleichheit doch berechtigt? Zum abstrakten Freiheits- und Gleichheitsbegriff verweise ich auf „Geben und Nehmen“-Prinzip, eine Tugend? — ganz nett beschrieben und v.a. den entscheidenden Aspekt der Bedürfnisbefriedigung mit reingenommen.
Wie ich geschrieben habe: die gesellschaftliche Fürsorge und Vorsorge — im Unterschied zu unmittelbaren Interaktionen. Diese Unterscheidung ist es, die in der Spehrschen Freien Kooperation völlig fehlt: Gesellschaft wird hier nach dem Bild der unmittelbaren Kooperation gedacht und ist damit komplett unterbestimmt. Zur Kritik vgl. Der wilde Dschungel der Kooperation.
Puh, auch wieder lang geworden:-)
Es gibt jetzt einen Blog zum Thema: Grundauskommen
Der Text zum Grundauskommen kann jetzt auch bei opentheory.org diskutiert werden.