Sorge
[Kolumne Immaterial World in der Wiener Zeitschrift Streifzüge]
Mit dem Begriff Care wird eine lange verunsichtbarte Voraussetzung für die produktive Verwertung von Arbeitskraft in die Aufmerksamkeit geholt: die reproduktive Herstellung (Kinder), Wiederherstellung (Lohnarbeitende) und Erhaltung (Kranke und Alte) menschlich-leiblicher Existenz. Alles, was der Kapitalismus nicht aus eigener Funktionslogik erschaffen und erhalten kann, er gleichzeitig als unabdingbare Voraussetzung braucht, wird aus der Wertverwertung ausgegliedert und an Frauen* delegiert. Roswitha Scholz bringt dieses Verhältnis als Wertabspaltung auf den Begriff. Als Rechtfertigung und ideologische Fundierung werden dabei Frauen* Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben, die sie besonders für Care-Tätigkeiten prädestinieren sollen: interpersonale Empathie, emotionale Achtsam- und Einfühlsamkeit, verantwortungsvolle Beziehungsorientierung, soziale Multitaskingfähigkeit etc.
Dieser Formkritik widerspricht nicht, dass Teilbereiche des Care wiederum in die Verwertungslogik des Kapitals einbezogen und zum Gegenstand von Profiterzeugung gemacht werden. Die Tätigkeitsweisen von sachbezogener Produktionsarbeit und interpersonaler Reproduktionsarbeit sind jedoch völlig unterschiedlich. Frigga Haug folgend unterliegt die auf der Schaffung von Waren gerichtete Lohnarbeit einer Zeitsparlogik (in immer kürzerer Zeit immer mehr aus der Arbeitskraft herausholen), während die auf Personen gerichteten Care-Tätigkeiten eher eine Zeitverausgabungslogik (sich Zeit nehmen für den Aufbau und die Pflege interpersonaler Beziehungen) einfordern. Dennoch kann Care auch als Lohnarbeit verausgabt werden, wodurch diese jedoch entgegen ihrer bedürfnisorientierten Beziehungsweise einem Zeitsparregime (Fallpauschalen, Zeitbudgets etc.) unterworfen wird, was sie tendenziell dehumanisiert.
Nach Berechnungen von Gabriele Winker entfielen 2015 in Deutschland 64 Prozent aller Arbeitsstunden auf Care-Tätigkeiten, 56 Prozent unentlohnt und 8 Prozent entlohnt. Mit 44 Prozent ist der Bereich der Lohnarbeit (einschließlich entlohnter Care-Arbeit) deutlich kleiner als der Bereich des unbezahlten Care. Für Österreich und die Schweiz wurden ähnliche Zahlen ermittelt. Beides zusammen, die Abspaltung von der Wertproduktion und die partielle Unterwerfung von Care unter die Verwertungslogik hat zu einer Krise der Reproduktion geführt, so Winker.
Die hier sehr gerafft dargestellte Beschreibung der Krisenerscheinungen wird von vielen geteilt. Auf eine Formkritik wird jedoch häufig verzichtet. Stattdessen werden andere Erklärungen angeführt. So sieht Ina Praetorius die Ursache für die Sphärenspaltung in der bereits in der Antike gegründeten patriarchalen dichotomen Identifizierung der „Arbeit“ mit dem „Männlichen“ und der „Natur“ mit dem „Weiblichen“. Die bürgerliche Aufklärung habe es versäumt, die vormoderne Dichotomisierung der Menschheit zu überwinden. Die Durchsetzung der Vernunft gegen mystisch-religiöse Denkweisen sei nur eine Teilaufklärung gewesen. Die Lösung sieht sie folglich darin, „die dichotome Ordnung als solche für nichtig zu erklären“, denn bei gesellschaftlicher Bedürfnisbefriedigung gehe es doch immer um Sorge und Vorsorge. Sie proklamiert: „Wirtschaft ist Care“.
Damit trifft Praetorius einen zentralen Punkt, eine Selbstverständlichkeit: Alles, was Menschen zum Leben brauchen, schaffen sie sich. Oder anders ausgedrückt: Menschen stellen ihre Lebensbedingungen gesellschaftlich-vorsorgend her. Insofern gilt: Gesellschaft ist Care. Das im Kapitalismus daraus entbettete und verselbständigte Teilsystem Wirtschaft ist es jedoch nicht – und kann es in formkritischer Sicht auch nicht sein. Die Nichtigerklärung und die Anrufung, Wirtschaft solle bitte Care sein, werden nicht ausreichen, um den monetären „arbeitsteiligen Erwerbszweigen“, die Praetorius ansonsten für „selbstverständlich“ hält, einen nicht-monetären Care-Bereich gleichrangig oder gar vorrangig zur Seite zu stellen. Das verkennt die destruktive Wirkung der Verwertungslogik, die erst das Verhältnis von Wert und Abspaltung durchgesetzt hat. Zwar ist das Patriarchat, auf dem die Wertabspaltung aufsetzen konnte, schon viel älter, doch seine gegenwärtige Form bekam es erst mit dem Kapitalismus.
Die Kritik der sozialen Form der Warenproduktion als selbstzweckhafte Wertverwertung und ihrer Abspaltung reichen allerdings nicht aus. Eva von Redecker hat auf die der Kapitalverwertung vorausgesetzte absolute Verfügung über „Sachen“ hingewiesen, die als Privateigentum schließlich rechtlich kodifiziert wurde. „Sachen“ können dabei alle dem Subjekt „äußerlichen“ zu Objekten gemachten Verhältnisse sein: Dinge, Menschen, Natur. Mit der Konstitution von dem Individuum äußerlichen Objekten einher geht die Schaffung des souveränen Subjekts, das über die Objekte herrscht. Anders ausgedrückt: Souverän und damit „frei“ ist das Subjekt, das über Eigentum verfügt. Darin liegt das Freiheitsversprechen des Kapitalismus, auch für die Eigentumslosen, denn jede:r kann Eigentum erwerben.
Mit der Sachherrschaft thematisiert Eva von Redecker die qualitative Dimension des Eigentums und überschreitet damit die häufig bloß quantitativ gestellte Eigentumsfrage („Wer verfügt und verteilt an wen wieviel?“). Die durch die Sachherrschaft erzeugten Herrschaftsverhältnisse treten als sektorale Privilegierungs-Diskriminierungs-Komplexe auf: Sexismus, Rassismus, Klassismus, Ageismus, Ableismus etc. Trotz teilweise schwindender materiell-rechtlicher Grundlagen bestehen die sektoralen Herrschaftsverhältnisse weiter. Ihre ideologische Stabilität gewinnen sie aus einer Haltung, die Eva von Redecker Phantombesitz nennt. Es ist der Anspruch von Subjekten, ihre real bröckelnde Souveränität durch andauernde Verfügung über objektifizierte Andere (oder Anderes) aufrechtzuerhalten. Als rabiat-gewaltförmige Orientierung finden wir das in rechten Bewegungen, etwa bei Trump, Orban, Bolsonaro, Putin.
Eine Care Revolution muss sowohl die Verwertungs- wie die Eigentumslogik angehen. Das bedeutet, eine andere Beziehungsweise (Bini Adamczak) durchzusetzen, die eine neue Reproduktionsweise ermöglicht und die ideologischen Formen des Phantombesitzes überwindet. Die Commons sind eine solche bereits heute schon in Ansätzen machbare soziale Form der Reproduktion, die als Commonismus gesellschaftlich allgemein werden kann.
Ich finde es richtig erfreulich, dass die – wie im Text beschrieben, großenteils unentlohnt geleistete – Sorgearbeit immer stärker in den Blick gerät, wenn du oder Simon Sutterlütti über Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise schreiben. Ein paar Anmerkungen habe ich jedoch, wo ich deine Argumente oder Begriffsverwendung nicht ganz teile:
Die Zuweisung der Sorgearbeit entlang von Geschlechtsunterschieden mittels der Zuschreibung von Eigenschaften gerät mit dem Wechsel vom „Familienlohn“ (Fordismus) zur Erwartung, dass alle erwerbsfähigen Erwachsenen Erwerbsarbeit zu leisten hätten (Neoliberalismus), ins Schwimmen. Selbstverständlich wird der Großteil der Care-Arbeit in Familien und im „Ehrenamt“ (ebenso wie in Care-Berufen) weiterhin von Frauen geleistet (mit leicht sinkender Tendenz), aber grundsätzlich soll die Reproduktionsarbeit zusätzlich zur Lohnarbeit geleistet werden, ein Hauptgrund, weshalb Menschen mit umfangreichen Sorgeaufgaben (Alleinerziehende, pflegende Angehörige) so unter Druck geraten: Es gibt einfach kein Zeitfenster dafür. Dies ist (neben dem Kostendruck in der Care-Lohnarbeit, der sowohl von Care-Unternehmen als auch staatlicherseits hergestellt wird, Gabriele Winkers Argument für die Krise sozialer Reproduktion: (Entlohnte und unentlohnte) Sorgearbeit wird derartigen Verknappungen und Belastungen ausgesetzt, dass auch die Reproduktion und Neuproduktion der Arbeitskräfte im notwendigen Maß in Gefahr gerät. Es geht bei dem Begriff um eine Zuspitzung von Problemen, nicht um etwas immer im Kapitalismus Vorhandenes (aber natürlich grundsätzlich Angelegtes).
Das Argument der Abwertung und Überlastung von Sorgebeziehungen also hängt zentral, wie du ja auch schreibst, an der Sphärentrennung von Lohn- und Reproduktionsarbeit im Kapitalismus, die überwunden werden muss. Eine andere Verteilung dieser Arbeiten würde hieran noch nichts ändern.
Deinen Einwand gegen Ina Prätorius‘ „Wirtschaft ist Care“ teile ich. Allerdings meint ihr Sorgebegriff ebenso wie der arbeitswissenschaftliche mit Sorgearbeit die Arbeit, die unmittelbar auf die körperlichen und geistigen Bedürfnisse von Menschen gerichtet ist. „Gesellschaftlich-vorsorgend“ klingt zwar ähnlich wie „Sorge“, meint aber etwas ganz anderes. Deshalb würde ich auch nicht von „Gesellschaft ist Care“ sprechen. Das trägt eher zur Verwirrung bei. Wichtiger ist, dass wir auch als Care-Aktivist*innen z.B. bei Care Revolution, wo ich aktiv bin, klarer überlegen, wann wir aus arbeitsinhaltlichen Gründen oder wegen einer bestimmten Qualität der Beziehung von Sorgebeziehung sprechen und wann wir von sozialen Beziehungen sprechen, die auch sorgend und solidarisch gestaltet werden müssen. Deshalb brauchen wir eine Gesellschaft, die von ihrer Struktur her solche Beziehungen unterstützt, wie ihr in „Kapitalismus aufheben“ argumentiert. Wir brauchen keine Gesellschaft, in der alles Sorge ist. Von durch Sachherrschaft strukturierten Beziehungen zu Beziehungen von aufeinander verwiesenen, sich unterstützenden Subjekten zu kommen, wäre ein Unterschied ums Ganze. Ob das in „Beziehungsweise“ im Singular aufgeht? Da war ich beim Lesen von Bini Adamczak schon skeptisch.
@Matthias: Danke für die Ergänzungen zum Begriff der „Krise der Reproduktion“, der im Artikel etwas unvermittelt daherkommt, du hast es ausgeführt.
Beim Zusammenhang von Vorsorge und Sorge bin ich allerdings der Meinung, dass es notwendig ist, diesen begrifflich herzustellen. Vorsorge ist dabei aus meiner Sicht der allgemeinere Begriff, der thematisiert, dass wir Menschen unsere Existenz sichern, indem wir unsere Lebensbedingungen nicht ad hoc, sondern immer vorsorgend herstellen. In traditionellen Begriffen: Wir reproduzieren unsere Existenz, indem wir unsere Lebensbedingungen produzieren. Diese Reproduktion (der Gattung) ist in der Krise, so möchte ich den spezifischeren Begriff von Gabriele Winker erweitern.
Im Buch „Kapitalismus aufheben“ haben wir an das produzieren* ein Sternchen gemacht, umzu verdeutlichen, dass die so verstandene Produktion auch Care im engeren Sinne einschießt. Also Care wird produziert, wird hergestellt, in interpersonalen wie transpersonalen Zusammenhängen (Beziehungen). Es ist Teil der Vorsorge. Damit wird m.E. die kapitalismusspezifische Sphärenspaltung als Artefakt begreifbar und die vorgeblich „natürliche Aufteilung“ dekonstruierbar. Indem wir alle gesellschaftlichen Tätigkeiten als Vorsorge begreifen und zum Leitmotiv des aktivistischen Handelns machen, können wir den Kapitalismus aus meiner Sicht auch für alle Menschen verstehbar als verfehlt kritisieren (nicht nur elaboriert in analytischen Begriffen). Die Krise der umfassend verstandenen Reproduktion, der Vorsorge, zeigt sich als Krise des Care, aber auch als Krise der Naturbeziehungen (Klimakatastrophe) – was Gabriele auch als umfassenden Anspruch in ihrem Buch („…für Care und Klima“) ausführt. Ich würde also sagen, Gesellschaft ist Care im Sinne von Vorsorge, aber nicht alles in einer Gesellschaft ist Care im Sinne von Sorge. Ich finde diese Erweiterung wichtig, um eine Aufhebung des Kapitalismus in den Blick zu bekommen.
Noch ein aktuelles Argument: Linksbürgerliche Argumentationen setzen Care häufig mit „Daseinsvorsorge“ gleich und meinen damit Krankenhäuser, Pflegedienste, Kita etc. Diese gehöre dem Profitmotiv entzogen (so etwa von ver.di bei der Vergesellschaftungskonferenz) – der Rest der „Wirtschaft“ aber nicht. Ist dieser Teil keine Daseinsvorsorge? Dort darf Profitmaximierung und Zukunftszerstörung sein? Mit dieser falschen Zuschreibung wird die gesellschaftliche Sphärenspaltung ideologisch reproduziert. Zwar liegt darin ein Stück Entprivatisierung des Care, doch hier umgekehrt den Verwertungsbereich von Vorsorge abzuspalten, ist analytisch fatal und aktuell nur ein ferner Retrotraum einer staatlichen „Fürsorge“ (so hies das noch früher).
Den Begriff „Beziehungsweise“ würde ich tatsächlich als gesellschaftstheoretische Kategorie verstehen, das, was auch „soziales Verhältnis“ genannt wird. Es ist das Verhältnis, die Beziehungen, die wir eingehen, wenn wir vorsorgend unsere Lebensbedingungen herstellen. Und da ist es in der Tat ein Unterschied ums Ganze, ob sich dieses Verhältnis über Waren oder Bedürfnisse konstituiert, oder wie du schreibst: „Von durch Sachherrschaft strukturierten Beziehungen zu Beziehungen von aufeinander verwiesenen, sich unterstützenden Subjekten“. Analytisch finde ich sehr wichtig, dass die soziale Beziehung nicht als „unvermittelte“ verstanden wird, sondern als über eine „Sache“ (ein Ziel, ein Befriedigungsmittel) vermittelte Beziehung. Subjekte können sich ganz anders unterstützen, wenn sie es mit Commons (und Inklusionslogik als Beziehungsweise) zu tun haben, als mit Waren (und Exklusionslogik als Beziehungsweise).
@Stefan: Damit, dass Sorgearbeit Teil der gesellschaftlichen Arbeit ist und ihre Ergebnisse insofern Ergebnisse des gesellschaftlichen Produktionsprozesses sind, rennst du bei mir offene Türen ein. Um den Begriff der Reproduktionsarbeit gibt es ja etwas begriffliche Verwirrung. In der „zweiten“ Frauenbewegung während der und im Anschluss an die 68er-Bewegung wurde Reproduktionsarbeit für die unentlohnte häusliche Arbeit zum Zweck der Reproduktion der Arbeitskraft, also als Gegenstück und Komplement zur Lohnarbeit verwendet. Diese Verwendung würde ich auch beibehalten wollen. Mittlerweile wird Reproduktionsarbeit immer häufiger als arbeitsinhaltlich bestimmtes Synonym für Care-Arbeit, egal ob entlohnt oder unentlohnt, verwendet. Das scheint mir ein unnötiges Aufgeben eines nützlichen Begriffes.
Insofern ist Reproduktionsarbeit für mich (für Gabriele Winker auch) wirklich etwas anderes als Sorgearbeit. (Aber dieser wertvolle Begriff aus der 2.Frauenbewegung meint eben nicht „alle Arbeit, die zur gesellschaftlichen Reproduktion erforderlich ist“.) Sorgearbeit ist zentraler Teil der gesellschaftlichen Vorsorge (bei dir sicher in Holzkamps Sinn der kollektiven, vorausschauenden Sicherung der Lebensbedingungen gemeint?). Und in dieser Hinsicht gibt es keinen Grund, zwischen der Pflege eines kranken Menschen (in der Klinik oder zu Hause), dem Bau eines Krankenhauses oder der Herstellung eines Arzneimittels zu unterscheiden. Und hier hast du Recht, es gibt auch keinen Grund, nur z.B. die Pflege zu vergesellschaften und nicht genauso die Produktion der Transportmittel. In der Pflege (als Teil von Care) ist es nur so besonders eingängig, weil Arbeitsdruck zum Zweck der Profiterzielung sich ganz unvermittelt auf das Wohlbefinden der Patient*innen auswirkt, die schädliche Auswirkung der Profitorientierung auf die Bedürfnisbefriedigung aller in die Care-Beziehung Involvierten direkt nachvollziehbar, intime und angstbesetzte Bereiche betreffend ist.
Deshalb stimme ich deinem Argument absolut zu, dass eine gesellschaftliche Logik, die inkludierende Beziehungen unterstützt, überall und nicht nur in diesen Bereichen zum Tragen kommen sollte. Diese Idee scheint mir im Übrigen auch bei Ina Prätorius‘ „Wirtschaft ist Care“ zugrunde zu liegen. Nur dass sie sie von den Füßen auf den Kopf stellt: Da, so verstehe ich sie, die Warenproduktion einer Haltung unterworfen ist, die konkurrenzhafte, instrumentelle Beziehungen zwischen Menschen annimmt und zugleich erzeugt, wäre es doch wichtig, die empathische, an Bedürfnissen der anderen orientierte Haltung der (abgewerteten, als „weiblich“ und „naturartig“ aus dem Kern der Gesellschaft entfernten) Sorge(arbeit) zur Logik der gesamten Ökonomie zu machen. Also: Sorge ist gesellschaftlich notwendig und alle Arbeit sollte wie Sorgearbeit sein. Soweit Prätorius, wie ich sie verstehe. Bei ihr steht aber eben die ethische Haltung und nicht die gesellschaftlichen Praxen und Strukturen im Mittelpunkt der Argumentation. Du willst stattdessen die sozialen Verhältnisse und ihre Veränderung in den Mittelpunkt stellen. Ich auch. Aber ich bleibe dabei: „Gesellschaft ist Care“ ist nicht das, was wir beide meinen. Weil Care eben nicht gleich Reproduktion ist.
In Sorgebeziehungen, so wie ein großer Teil von ihnen aus der Wert-Ware-Vergesellschaftung ausgeschlossen ist, scheint häufig der direkte Bezug von Menschen aufeinander auf, auch das Erleben, dass im Fall einer gelingenden Sorgebeziehung die Bedürfnisse aller Beteiligten befriedigt werden können. Das ist, glaube ich, wichtig wahrzunehmen, und wenn der Widerstand von Sorgearbeitenden (wieder: entlohnt und unentlohnt) auch von der Empörung getragen wird, dass ihnen das Gelingen dieser Beziehungen durch rendite- und kostenorientierte Arbeitsorganisation unmöglich gemacht wird, sollten wir uns darauf positiv beziehen. Aber eben auch sagen: Diesen Anspruch haben wir für die gesamte Gesellschaft und alle unsere sozialen Beziehungen.
Hier rotieren meine Gedanken auch häufig: Wann ist ein Argument arbeitsinhaltlich begrenzt und ich sollte von Sorgebeziehungen sprechen, wann ist es allgemeiner und ich sollte von sozialen Beziehungen sprechen? Wie bekommen wir darüber hinaus die gesellschaftlichen Naturverhältnisse als ein Netz von artübergreifenden Beziehungen und nicht als Subjekt-Objekt-Verhältnisse gefasst, ohne dass unsere Begriffe schwammig werden? Da kann ich leicht wie bei „Gesellschaft ist Care“ protestieren und sagen: „So geht’s nicht.“ Aber wie es stattdessen geht? Insofern: Danke für den Austausch!
@Matthias: Danke für die Offenheit, auch darüber, was dir noch unklar ist. Auch ich bin keineswegs sicher, was das ganze Feld angeht.
Aus dem traditionellen Marxismus kommend (auch über die Kritische Psychologie) war für mich die begriffliche Unterscheidung von Produktion und Reproduktion sehr einleuchtend. Dabei kam es darauf an, auf welcher „Ebene“ die Begriffe verwendet wurden: innerhalb einer Gesellschaft lassen sich immer Erhaltung/Reproduktion und Schaffung/Produktion unterscheiden, während auf einer Metaebene die ganze Gesellschaft als Erhaltungs-/Reproduktionszusammenhang begriffen werden kann. Auch reingezoomt in die Produktion ist diese niemals ohne erhaltende/reproduktive Tätigkeiten denkbar. Das Ganze ergibt also eher ein verschachteltes System von Reproduktions-Produktions-Verhältnissen. Meine Frage ist nun, ob es nicht doch eine Ebene gibt, die gesellschaftliche, auf der Care im allgemeinen Sinne mit Reproduktion gleichgesetzt werden kann, wo Sorge zur Vorsorge wird. Wenn ich das so denke, dann muss ich allerdings ein Care im engeren Sinne unterscheiden, was eine bestimmte personennahe Tätigkeit beschreibt. Anders gesagt: Ist der Care-Begriff nicht genauso geschachtelt ebenenbezogen zu denken wie Re/Produktion? Um dem Care i.e.S. näherzukommen, müsste ich von den konkreten Tätigkeiten ausgehen. Das führt mich zu der Frage, ob es theoretisch ertragreich sein könnte, gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten „arbeitsinhaltlich“, wie du schreibst, kategorial zu erfassen und dabei formspezifische und gesellschaftlich allgemeine Tätigkeiten zu unterscheiden. Klar sind heute alle Tätigkeiten eben solche im Kapitalismus, doch kann ich hier nicht dennoch zwischen kapitalistisch geformten und (bloß) überformten Tätigkeiten unterscheiden? Und ist diese Unterscheidung nicht bei Care i.e.S. gerade wichtig?
Noch spannender wird es, wenn ich das dann als Beziehungsverhältnisse denke, aber hier mache ich mal einen Punkt.
Du siehst, auch viele lose Enden. Ich würde das gerne weiterdenken. Danke für deine Anstöße!