Kritik an Christian Siefkes‘ „Produktivkraft als Versprechen“ – Teil I
Alles spricht dafür, daß Marx selbst nie die Absicht hatte, über die Gestalt, die die Reproduktionsschemata im II. Band des Kapital erhielten, hinauszugehen, und daß es daher sinnlos ist, von ihnen mehr zu erwarten, als sie leisten können. (Roman Rosdolsky)[1]
Christian Siefkes (2018) kritisiert in Zur Kritik der Aufhebungs- und Keimformtheorie[2] bestimmte Kapitel in Kapitalismus aufheben von Simon Sutterlütti und Stefan Meretz[3]. Dabei spielen Krisentheorien eine Rolle. Siefkes verweist auf seinen PROKLA-Artikel Produktivkraft als Versprechen[4].
Sutterlütti und Meretz beziehen sich auf das Maschinenfragment aus Marx‘ Grundrissen und die Idee, „dass sich der Kapitalismus aufgrund seiner Tendenz zu Automatisierung und Produktivkraftsteigerung nach und nach die eigene Grundlage – die Verwertung menschlicher Arbeitskraft – entziehe und aufgrund dieses Widerspruchs früher oder später kollabieren müsse“ (Siefkes (2018): 3). Siefkes selber hält die Möglichkeit einer finalen Krise des Kapitalismus für einen Trugschluss.
In Siefkes‘ Produktivkraft als Versprechen ist die Kritik am Trugschluss abgeschwächter: „(D)as Maschinenfragment (kann) mit diesem Argumentationsstrang (‚dass sich der Kapitalismus aufgrund seiner fortschreitenden Produktivkraftentwicklung selbst die Grundlage entzieht‘) nicht überzeugen“ (Siefkes (2016): 1). Aber: „In den Reproduktionsschemata skizziert Marx einen Kapitalismus, der theoretisch krisenfrei immer weiter wachsen kann“ (ebd.: 3).
Sprengt das Maschinenfragment den Kapitalismus?
Für Christian Siefkes sprengt das Maschinenfragment den Kapitalismus nicht. Das verwundert. Es wird nicht klar, warum Siefkes das Maschinenfragment verwirft. Er referiert treffend und stimmt vielfach mit Marx überein: Die Arbeitszeit wird nicht mehr das Maß des Tauschwerts und des Reichtums sein können, weil „(s)obald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein“ (MEW 42: 601). – Für das Kapital sind die „Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen – beides verschiedne Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums – […] nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren. In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen“ (MEW 42: 602). Etwas irritierend ist es, dass Siefkes zu dieser Stelle festhält: „Tatsächlich fehlt im Maschinenfragment eine genaue Begründung, warum die permanente Produktivkraftentwicklung die kapitalistische Produktionsweise ‚in die Luft sprengen‘ sollte“ (Siefkes (2016): 3), denn das Herausnehmen der abstrakten Arbeit aus dem Verwertungsprozess[5] referiert er selber ausführlich.
Stattdessen fragt er: Warum soll es dem Kapital nicht gelingen mit gleichem Arbeitsaufwand mehr oder bessere Gebrauchswerte herzustellen, wenn weiterhin dieselbe Menge an Arbeit verwertet wird? Die Antwort dürfte Siefkes kennen: Bei gleicher Arbeitsmenge und steigender Wertzusammensetzung wächst der Stoffdurchfluss6. Es gibt keinen Anlass, auf ein Anwachsen des variablen Kapitals zu setzen. Es geht um Wertverwertung und nicht um Gebrauchswertproduktion. Dass „die ‚freigesetzten‘ Kapitalien und Arbeitskräfte stattdessen in andere Märkte ausweichen und dort für Wachstum sorgen“ (ebd.: 3), findet eine Grenze in der Automatisierung. Zur Erinnerung: „Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt“ (MEW 42: 601).
Anmerkungen
[1] Rosdolsky, Roman (1970): Der Streit um die Marxschen Reproduktionsschemata. In: Hickel, Rudolf (1970): Leseanleitung und Textauswahl zu Karl Marx, Das Kapital II. Frankfurt, Berlin, Wien: Ullstein, S. 584.
[2] Siefkes, Christian (2018): Zur Kritik der Aufhebungs- und Keimformtheorie. In: Keimform. URL: https://keimform.de/2018/kritik-der-aufhebungs-und-keimformtheorie/ Zugriff: 10.4.2020.
[3] Meretz, Stefan/Sutterlütti, Simon (2018): Kapitalismus aufheben. Hamburg: VSA.
[4] Siefkes, Christian (2016): Produktivkraft als Versprechen. In: PROKLA 185. URL: https://keimform.de/2016/produktivkraft-als-versprechen/ Zugriff: 10.4.2020.
[5] Ursächlich dafür sind das Ansteigen der Wertzusammensetzung bzw. der organischen Zusammensetzung des Kapitals – mehr konstantes, dafür weniger variables Kapital (c/v) –, die Erhöhung der Mehrwertrate und der daraus folgende tendenzielle Fall der Profitrate.
[6] Man setze an die Stelle von „stofflicher Reichtum“ das Wort „Gebrauchswert“, dann wird klar, dass auch der Gebrauchswert eine kritische Kategorie darstellt: „(…) sollte man sich davor hüten, im stofflichen Reichtum das schlechthin „Gute“ zu sehen. Obwohl stofflicher Reichtum nicht an die Warenform gebunden und die Arbeit nicht seine einzige Quelle ist, so bildet er im Kapitalismus doch umgekehrt den „stofflichen Träger“ (MEW 23: 50) des Werts, der deswegen seinerseits an den stofflichen Reichtum gebunden bleibt. In der Warenproduktion deformiert deren Ziel, die Akkumulation von immer mehr Mehrwert also, wie selbstverständlich die Qualität des stofflichen Reichtums, dessen Produzenten nicht zugleich seine Konsumenten sind: Es kann hier nie um das Ziel maximalen Genusses beim Gebrauch des stofflichen Reichtums, sondern immer nur um das Ziel maximaler betriebswirtschaftlicher Effizienz gehen. Die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft wird daher nicht bloß darin bestehen können, den stofflichen Reichtum von den Zwängen der Kapitalverwertung zu befreien, sondern zu ihr gehört ebenso die Überwindung seiner durch den Wert induzierten Deformationen.“ Ortlieb, Claus Peter (2008): Ein Widerspruch von Stoff und Form. In: EXIT! 6/2009. URL: https://www.math.uni-hamburg.de/home/ortlieb/Ortlieb-ProzWiderspruch.pdf Zugriff: 10.4.2020.
„Etwas irritierend ist es, dass Siefkes zu dieser Stelle festhält: „Tatsächlich fehlt im Maschinenfragment eine genaue Begründung, warum die permanente Produktivkraftentwicklung die kapitalistische Produktionsweise ‚in die Luft sprengen‘ sollte“ (Siefkes (2016): 3), denn das Herausnehmen der abstrakten Arbeit aus dem Verwertungsprozess[5] referiert er selber ausführlich.“
Die „Irritation“ wären leicht aufzulösen, wenn der 2. Band des Kapitals als Analyse des Produktionsprozesses von Mehrwert im kapitalistischen Produktionsprozess und der 3. Band als Zusammenführung von Produktion des Mehrwerts und den Problemen seiner Wertrealisation im Zirkulationsprozess, als die Vereinigung von Wert und Preis der Arbeit über die Revenue des Kapitals begriffen werden. Das mit auch Rosdolfsky mit einer Bemerkung „Alles spricht dafür, daß Marx selbst nie die Absicht hatte, über die Gestalt, die die Reproduktionsschemata im II. Band des Kapital erhielten, hinauszugehen“. Dort lässt sich nichts finden, was den Kapitalismus per se sprengen könnte, weil der prozessierende Auflösungsprozess über das Kapital im weltweiten Kredit- und Derivatenhandel verläuft und als fiktives Kapital die Realökonomie zerstört. Aber auch dies löst nur die Wertform von derArbeit ab und erzeugt das Diktat eines Schuldgeldsystems, das – selbst wenn alle Gesellschaften nurmehr Dienstleistungsgesellschaften wären – den Mehrwert im Nachhinein er Produktion als Existenzwert aus den Preisen zur Nutzung von Eigentumstitel beziehen werden. Von daher sollte sich marxistische Theorie vor allem darauf konzentrieren. Das Maschinenkapitel gibt dazu nichts her. Und ein „Widerspruch von Stoff und Form“ (Ortlieb) bleibt im leeren Objektivismus der Wertkritik hängen, für dn es bei wirkliches Subjekt mehr gibt.
Ich schreibe in Zur Kritik der Aufhebungs- und Keimformtheorie, dass „schon die Existenz einer fundamentalen Verwertungskrise […] unsicher ist“ (Hervorhebung hinzugefügt). Wie sich daraus „Siefkes selber hält die Möglichkeit einer finalen Krise des Kapitalismus für einen Trugschluss“ ergibt, ist für mich nicht nachvollziehbar. Selbstverständlich wird der Kapitalismus enden, und dass dieses Ende in irgendeiner Form krisenhaft sein wird, davon kann man ausgehen. Ich bin allerdings nicht überzeugt, dass das Ende die spezielle Form einer Verwertungskrise annehmen wird, wie sie im Maschinenfragment behandelt wird und worauf auch Simon und Stefan abzielen.
Zwei Dinge sind hier anzumerken:
(1) Ja, die Möglichkeit, dass der Kapitalismus Probleme mit der Endlichkeit seiner stofflichen Inputs bekommen kann, ist mir natürlich bewusst. Tatsächlich sehen wir diese Probleme – in Form einer Übernutzungskrise, die zu Erderhitzung, Artensterben etc. führt – ja jeden Tag! Aber das Maschinenfragment bewegt sich auf der Wertebene, nicht auf der stofflichen Ebene. In Produktivkraft als Versprechen schreibe ich dazu:
Und in einem meiner Kommentare unter dem Artikel habe ich ergänzt: „Aber die Argumentation des Maschinenfragments bewegt sich auf einer anderen Ebene, da wird von der Endlichkeit von Energiequellen und anderen natürlichen Ressourcen abstrahiert und trotzdem ein zwingender Niedergang des Kapitalismus postuliert — was ich bezweifle.“ (Hervorhebungen hinzugefügt)
Auf diese „andere Ebene“ bezieht sich mein Artikel – stoffliche Grenzen werden im ganzen Maschinenfragment überhaupt nicht erwähnt oder in die Argumentation einbezogen. Will man ihm gerecht werden, muss man auf demselben Abstraktionsniveau bleiben.
(2) Es ist keineswegs so, dass zunehmende Automatisierung zwingend zu einer „steigenden Wertzusammensetzung“ führt – sprich zu einem immer größer werdendem Anteil an konstantem Kapital (Vorprodukten) bei gleichzeitigem Kleinerwerden des lebendigen Kapitals (unmittelbarer Arbeit). Der Grund dafür ist einfach, dass die Automatisierung sich vermutlich auf die Produktion von Produktionsmitteln und Vorprodukten nicht weniger stark auswirken wird als auf die von Endprodukten, weshalb der Wert der ersteren genauso fällt wie der der letzteren. Unterm Strich muss sich am Verhältnis deswegen nichts ändern. Dies wurde lang und breit in den Debatten um den tendenziellen Fall der Profitrate diskutiert, da Marx diesen Fall ja genau mit der „steigenden Wertzusammensetzung“ zu begründen versucht – nicht wirklich erfolgreich, wie ich und andere meinen.
Siehe dazu z.B. Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert. Ich habe selbst dazu mal eine Reihe von Berechnungen angestellt, bei denen herauskam, dass bei plausiblen Modellannahmen die Wertzusammensetzung zwar eine Weile steigt, sich schließlich aber auf einem bestimmten, keineswegs dramatisch hohem Niveau einpendelt und dass auch die Profitrate sich auf einem bestimmten Niveau einpendelt, ohne weiter zu fallen. Allerdings war das eine sehr rechenlastige Arbeit eher zum theoretischen Selbstverständnis, die ich nie veröffentlicht habe.
Die Aussage „Siefkes selber hält die Möglichkeit einer finalen Krise des Kapitalismus für einen Trug-schluss“ ergibt sich aus der Textpassage:
„Eine Idee, die in letzten Zeit in Deutschland vor allem im Umfeld der Zeitschriften Krisis und Exit weiterentwickelt, aber auch wiederholt als Trugschluss kritisiert wurde – so in meinem Prokla-Artikel „Produktivkraft als Versprechen“.
Die Idee ist dort folgendermaßen beschrieben: „dass sich der Kapitalismus aufgrund seiner Ten-denz zu Automatisierung und Produktivkraftsteigerung nach und nach die eigene Grundlage – die Verwertung menschlicher Arbeitskraft – entziehe und aufgrund dieses Widerspruchs früher oder später kollabieren müsse.“
Nun lese ich bei dir: „Selbstverständlich wird der Kapitalismus enden, und dass dieses Ende in irgend-einer Form krisenhaft sein wird, davon kann man ausgehen.“ Darüber bin ich erfreut. Du schreibst weiter: „Ich bin allerdings nicht überzeugt, dass das Ende die spezielle Form einer Verwertungskrise annehmen wird, wie sie im Maschinenfragment behandelt wird.“ Es gibt die andere, finale Krise.
Wie soll diese andere Krise aussehen ohne eine „spezielle Form der Verwertungskrise“? Ist es vor-stellbar, dass die Verwertung munter weitergeht in einer nachkapitalistischen Gesellschaft? Würde das nicht bedeuten, dass der Kapitalismus einerseits dann nicht mehr existiert, gleichwohl aber doch existiert (als Widergänger)?
Liegt das daran, dass die Menschheit die Schädlichkeit der Wertverwertung erkennt und abschafft und die Ökonomie nicht zu einem Stillstand kommt, obwohl doch die Stoffflüsse ins Stocken geraten auf-grund der anderen Krise („dieses Ende wird in irgendeiner Form krisenhaft sein“)? Und der Geld-/Wertfluss geht munter weiter?
Im Maschinenfragment geht es vordringlich um die Wertebene. Kann man die von der Gebrauchs-wertebene abspalten?
@ Wolfram Pfreundschuh
Vielen Dank für die Sicht auf die drei Bände als Ganzes: Bd1. Produktionsprozess (da gehört die Mehrwertproduktion hin), Bd.2 Zirkulationsprozess (abschließend die Reproduktionsschemata), Bd. 3. Gesamtprozess. Wie du zum 2. Band schreibst, „lässt sich (dort) nichts finden, was den Kapitalismus per se sprengen könnte“ (incl. Reproduktionsschemata). Darauf, dass sich die Wertform von der Arbeit trennt, können wir uns schnell einigen. Über das Schuldgeldsystem (aber nicht nach David Graeber, oder?) und die Veränderungen in der Mehrwertaneignung muss man diskutieren. Es klingt ähnlich wie bei Trenkle/Lohoff („Die große Entwertung“). Die fortschreitende Automation spielt bei deren Argumentation eine enorme Rolle. Ich meine, dass das Maschinenfragment vor diesem Hintergrund wichtig bleibt.
Wird die These, dass der Gebrauchswert als Kategorie im Kapitalismus nicht neutral sein kann, abge-wehrt oder sagst du gar nichts dazu? Ich höre da vor allem Gegenwehr gegen Wertkritik heraus – oder geht es speziell um die Person Ortlieb?
@Wilfried: Nein, natürlich gibt’s ohne Kapitalismus auch keine Verwertung mehr – bzw. jedenfalls nichts, was dem im Kapitalismus damit Gemeinten ähnlich sieht.
Mindestens hat Marx es dort versucht. Und da würde ich halt sagen: Ne, das haut nicht hin. Rein auf Wertebene kriegt der Kapitalismus keine Probleme, die ihn mit größerer Wahrscheinlichkeit in eine finale Krise bringen würden.