Utopie
[Kolumne Immaterial World in der Wiener Zeitschrift Streifzüge]
Utopie hat einen schlechten Ruf. Es ist der Nicht-Ort einer fiktiven zukünftigen Gesellschaft, die es nicht geben kann, weil eine Gesellschaft nicht nach einem Masterplan gebaut wird. Gleichzeitig haben wir, die wir etwas anderes als Kapitalismus wollen, Vorstellungen eines Zukünftigen. Wir müssen uns also mit Utopie befassen. Vier zentrale Kritikpunkte möchte ich diskutieren.
Zunächst wirke jede positive Utopie normativ, wenn sie der Maßstab für das Handeln sein soll. Das Denken und Handeln werde ausgerichtet, formiert, bewertet. Doch was, wenn das utopische Ideal falsch ist, in Teilen oder im Ganzen? Alternativen könnten aus dem Blick geraten, neuere Entwicklungen verpasst werden. Normative Setzungen – wie auch immer gut begründet – wirkten am Ende immer auch beschränkend. Sie könnten sich sogar gegen das ursprünglich intendierte Ziel kehren. Utopien seien daher bestenfalls als negative Utopien denkbar. Wir könnten nur sagen, was nicht sein soll, nicht aber, was sein kann oder sein wird.
Dieser Einwand übersieht, dass sich jede negative Aussage implizit auf ihr Gegenteil bezieht und zumindest eine Ahnung davon einschließt, was dieses Gegenteil ausmacht. Wer sich gegen Ungerechtigkeit ausspricht, ist implizit für Gerechtigkeit – möglicherweise ohne angeben zu können, worin diese Gerechtigkeit genau besteht. Wer das Geld loswerden möchte, hat eine Vorstellung davon, wie es auch ohne gehen kann – wie unausgegoren auch immer.
Utopien könnten, zweitens, eine legitimatorische Funktion für ein Handeln bekommen, das ohne die normative Ausrichtung an der Utopie nicht vollzogen werden würde: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Beispiele seien die Zerstörung der uns umgebenden Natur um des Wohlstands willen oder die Unterdrückung politischer Gegner*innen, um „später“ in der freien Gesellschaft Freiheit für alle zu erreichen. Auf diese Weise werde Herrschaft gerechtfertigt. Der Stalinismus zeige, dass dies im Namen der Emanzipation auch extreme, die ursprünglichen Ziele pervertierende Formen annehmen könne.
Im Fokus dieser berechtigten Kritik steht mit der instrumentellen Vernunft eine typische Figur der bürgerlichen Aufklärung. Sie verkörpert im Kern die ökonomische Rationalität, mit der die Mittel dem Zweck unterworfen werden. Die Kritik erkennt, dass Utopien dazu dienen, Herrschaft und ihre Maßnahmen zu legitimieren. Doch wenn mit einer Utopie Herrschaft legitimiert werden kann und Zweck und Mittel bzw. Weg und Ziel auseinander fallen, dann kann diese Utopie keinen allgemeinen emanzipatorischen Charakter beanspruchen. Eine nur partielle Emanzipation ist jedoch keine mehr, jedenfalls keine im Sinne der Konstitution einer freien Gesellschaft.
In einer dritter Kritik werden Utopien mit Geschichtsphilosophie oder -teleologie in Verbindung gebracht. Die jeweilige Utopie stünde für ein Ziel (Telos), zu dem der geschichtliche Prozess mit Notwendigkeit strebe. In diesem Kontext bekomme der für die Periode der Aufklärung zentrale Begriff des „Fortschritts“ einen eindeutigen Maßstab. Die Arbeiter*innenbewegung sähe sich als Akteurin des historischen Fortschreitens, als Treiberin und Exekutorin des Prozesses, der sich gesetzmäßig vollziehe. Nach dem Scheitern des Realsozialismus, aber auch angesichts der offensichtlichen Grenzen einer ökonomischen Wachstumslogik, müsse jedoch jede Geschichtsphilosophie und damit verbundene Utopien verworfen werden.
Diese Variante der Kritik unterstellt jeder philosophisch-historischen Reflexion eine teleologische Konstruktion von Geschichte. Doch jede Auffassung von Geschichte gründet auf Grundannahmen über Begriff und Verlauf von Geschichte – seien es Konstanz, Zyklizität, Regression, Zufälligkeit o.ä. Geschichtliche Reflexion ohne Geschichtsphilosophie ist ein Widerspruch in sich. Die Frage ist also nicht, ob Geschichtsphilosophie, sondern welche. Und da gibt es weit mehr Auffassungen als nur teleologische.
Viertens, schließlich, spreche gegen Utopien, dass ihr Kernbestandteil die Vorstellung vom Glück für alle sei. Glück für alle sei jedoch eine Anmaßung, denn Glück sei immer ein ganz individuelles, ein eigener Lebensentwurf, eigene Präferenzen und Ziele. Sie für alle in einer Utopie zu bestimmen oder auch nur beschreiben zu wollen, um für diese dann eine Weise der gesellschaftlichen Realisierung zu finden, münde notwendig in ein totalitäres gesellschaftliches System.
Doch kann die Allgemeinheit nicht eben jene individuelle Entfaltung frei von Fremdbestimmung sein? Diese Form der Utopiekritik verweist eher auf die Begrenztheit der Begriffe von Emanzipation und Allgemeinheit. Allgemeinheit wird hier nur als abstrakte nivellierende und nicht als konkrete individuelle gedacht. Eine Emanzipation ohne allgemeinen Anspruch ist keine (s.o.). Warum?
Partielle Emanzipationen sind nicht nur gut in den Kapitalismus integrierbar, sondern sie sind gar Antrieb seiner eigenen inneren Entwicklung und permanenten Erneuerung. Solange die Emanzipation der einen auf Kosten von anderen geht, solange Emanzipation also nicht allgemein ist, kann sie nicht über den Kapitalismus hinausweisen. Die Verbindung von Allgemeinheit mit Totalitarismus verweist auf unzureichende Weisen ihrer Realisierung, wofür es allerdings zahlreiche historische Zeugnisse gibt.
Dem Utopie-Dilemma begegnete Ernst Bloch mit dem Vorschlag einer konkreten Utopie, die er der abstrakten Utopie, die schon Marx und Engels kritisierten, entgegenstellte. Bloch versteht konkrete Utopie im Sinne eines Prozesses der permanent erneuerten Antizipationen kleiner Schritte in Richtung auf ein Zukünftiges, das als Ganzes unbestimmt bleibt und erst in der Annäherung entsteht. Doch implizit geht diese Vorstellung von einem Ziel aus, von dem sie Kriterien ableitet, um die kleinen utopischen Antizipationen als Umsetzung von realen Möglichkeiten zu bewerten.
Eine bislang unentwickelte Möglichkeit ist eine kategoriale Utopie als Partnerin der kategorialen Kritik. Diese steht nicht im Gegensatz zu einer konkreten Utopie, sondern ist vielmehr die Ausführung ihrer impliziten Voraussetzungen. Sie befasst sich auf kategorialer Ebene mit den menschlich-gesellschaftlichen Möglichkeiten der Begründung einer freien Gesellschaft. Es ist eine Möglichkeitsutopie.
Wie habe ich mir das konkret individuelle Allgemeine vorzustellen?
@HHH: Ich realisiere das Allgemeine konkret für mich. Meine Besonderheit verschwindet also nicht in der Allgemeinheit, sondern kommt zur Geltung und Entfaltung.
Ok, aber was was ist die Allgemeinheit, in die deine Besonderheit zur Geltung und Entfaltung kommt?
Allgemeinheit meint die gesellschaftlichen, also die für alle geltenden Strukturbedingungen, in und vermittels derer die Lebensbedingungen geschaffen werden, die wir brauchen. Die warenförmige Allgemeinheit (also gesellschaftlichen gültigen Strukturbedingungen) ist z.B. so organisiert, dass ich meine Besonderheit strukturell immer wieder nur auf Kosten anderer durchsetzen kann — ob ich das subjektiv will oder nicht. Daraus schließen viele (wie immer Artikel angesprochen), dass Besonderheit und Allgemeinheit immer in einem Gegensatz stehen müssen. Historisch und auch heute pendelt die Diskussion zwischen den Polen kollektiver Nivellierung (abstrakte Gleichheit) und individueller Freiheit (verabsolutierte Konkurrenz). Dem widerspreche ich im Artikel.
Könntest Du den letzten Punkt, zur „kategorialen Utopie“, genauer ausführen? Das habe ich noch nicht ganz verstanden.
@Guido: Ich hole etwas aus und beginne mit dem Begriff Kategorie.
Der Begriff Kategorie hat zwei Bedeutungen, die im Idealfall zusammenfallen: Einmal ist es der analytische Begriff, mit dem ich die Wirklichkeit untersuche; dann ist es der reale Begriff, gemäß dem sich die Wirklichkeit bewegt. Beispiel „Wert“. Wert ist kein anschaulicher Tatbestand, sondern eine Kategorie (u.a. von Marx entwickelt), die es uns ermöglicht reale Phänomene zu untersuchen. Gleichzeitig ist es eine Realabstraktion, das heißt, sie ist insofern wirklich, als sie real wirkt (beim Tausch ist der Wert der gesellschaftlich gültige Bezugspunkt). — Das klingt abstrakt, aber wir haben alle solche „Kategorien“ im Kopf, mit denen wir die Wirklichkeit „untersuchen“. Unsere Alltagskategorien sind nur meistens implizit und unausgewiesen. Damit ist auch nicht klar, was von der vielfältigen Wirklichkeit sie zu Gesicht bringen. Denn das ist die Aufgabe von Kategorien: etwas sichtbar und in seinem inneren Reichtum begreifbar machen.
Damit bin ich jetzt bei der kategorialen Utopie: Sie soll die menschlichen Möglichkeiten sichtbar machen. Die Schwierigkeit von Utopie ist doppelt: Einerseits versuchen wir sie notgedrungen in den uns vertrauten Kategorien zu denken (sie bleiben dem Alten verhaftet)); andererseits versuchen wir dem alten Denken zu entkommen, indem wir uns etwas anderes wünschen (sie wirken willkürlich und „utopisch“). Mit der kategorialen Utopie versuche ich einen „Mittelweg“ zu gehen: Ich versuche auszuweisen, was überhaupt menschenmöglich ist und versuche, von dort aus Utopie als Möglichkeitsutopie zu denken. Also dem Verhaftsein dem uns Vertrauten entkommen, aber kein beliebiges Wünschen und Auspinseln der Zukunft.
So der Plan 🙂
Dass alle spezifisches Können entwickeln und es in ihrer besonderen Weise zum Wohle aller einbringen können sollen, ist allerdings auch das Muster des bürgerlich-liberalen Utopismus, nach der die privateigentümliche Konkurrenz um die ökonomisch klügste Weise, Kundenwünsche zu erfüllen, vollautomatisch zum Wohle aller führt.
Vielleicht sollten Strukturbedingungen überwunden werden, die die Vorstellung erlauben bzw. hervorrufen, dass die Befriedigung von Bedürfnissen keine besonderen Kosten verursacht.