Homestories: Ich wohne anders

Streifzüge Nr. 60/2014[Alle »Keimformen«-Artikel in Streifzüge 60/2014]

Von Sarah Scholz

Wie möchte ich eigentlich mein Leben leben? Diese mir sehr wichtige Frage umfasst viele Aspekte und einer davon ist mein Wohnumfeld. Ich wohne seit einem guten Jahr in einem Mehrgenerationen-Wohnprojekt, und mein Alltagsleben hat sich dadurch ziemlich verändert. Es ist vor allem reicher geworden; reicher an (geschütztem) Raum, an Möglichkeiten und Lernerfahrungen und reicher an Begegnungen. Ich habe hier einen Raum für Entwicklung und Reflexion gefunden, und der intensive Kontakt zu Menschen gibt mir Stabilität und Halt. Was uns verbindet, ist eine ökologisch und sozial nachhaltige Lebensvision, wir wollen gemeinsam gut wohnen.

Was das gute Wohnen ausmacht? Unsere Wohnungen sind tendenziell kleiner als in anderen Neubauten, dafür haben wir große Gemeinschaftsräume, die im übertragenen wie im Wortsinne Raum für Begegnung, Spaß und Freude miteinander bieten. Sie bilden das bunte, vielfältige Herz des Projekts, denn dort wird getanzt, meditiert, gesungen, musiziert, getagt, geplant, diskutiert, Filme geschaut, gespielt, gegessen und gefeiert.

Wir nutzen und kümmern uns gemeinsam um viele unserer Ressourcen. Das beginnt bei  Haushaltsgegenständen im Ausleihregal, geht über den Verschenketisch und den Kleidertausch hin zu Gemeinschafts-KFZ, Werkraum, Bibliothek und natürlich den großen Garten. Dadurch gibt es eine Menge zu tun, denn die Selbstverwaltung der Genossenschaft und die Organisation des gemeinsamen Lebens wollen gemeistert werden. Freiwilligkeit, persönliches Interesse, Motivation und Fähigkeiten sind dabei die Prinzipien, die wir zu verfolgen versuchen.

Ein bekanntes Phänomen hier ist das „Zeitloch“, denn so ein Gang zur Waschküche oder zum Kompost kann schon mal eine gute halbe Stunde dauern oder in einem gemeinsamen Abendessen enden. Die Möglichkeiten, auf Menschen zu treffen, Freude und Leid zu teilen, sich auszutauschen oder Unterstützung zu erfahren, sind vielfältig und groß. Hier lerne ich immer wieder aufs Neue, dass die Gemeinschaft, die ich mir wünsche, nicht automatisch entsteht und zu mir kommt, sondern ich muss sie aktiv mitgestalten, damit sie sich mir erschließt. Sobald ich das tue, beschenkt und bereichert sie mich ungemein. Denn mein Alltag hier ist erfüllt mit vertrauensvollen Begegnungen mit mir wichtigen Menschen.

Ich mache mir trotzdem keine Illusionen. Wir erleben hier beide Seiten, sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen und Widersprüche unserer Gemeinschaft. Ich erkenne in vielem, was wir hier tun und wie wir hier leben, einen anderen Stil, eine andere Qualität, miteinander umzugehen, als es „da draußen“ stattfindet. Es gibt hier mehr Bereitschaft zu Auseinandersetzungen mit uns selbst. Es geht nicht nur um Können und Haben. Es geht auch um Freiwilligkeit, Motivation, Lust, Freude. „Viel ist möglich, wenig muss“ – so wird manchmal unser Zusammenleben charakterisiert. Deswegen passiert allerdings vielfach auch weniger, als ich mir wünsche. Es scheint, als sei vielen nicht klar, über welches Potential wir verfügen. Unsere Prozesse sind sehr langsam, da bremst das Kollektiv dann die Kreativität und den Mut einzelner aus.

Unsere Heterogenität ist mir sehr wichtig, und sie ist häufig sehr bereichernd, aber die rechte Balance zu finden, ist schwierig. Ich empfinde uns häufig als sehr konservativ, geradezu ängstlich vor der eigenen Courage. Es gibt (zu) wenig gemeinsame Reflexion über unsere Möglichkeiten innerhalb der Bewohnerschaft, aber auch in der uns umgebenden Gesellschaft, Veränderungen anzustoßen. Denn so gern wir es wären, wir sind kein Abbild dieser Gesellschaft, sondern eine kleine Nische. Eine kleine Nische mit dem Potential, Impulse zu geben. Es ist nicht das Paradies, aber der beste mir momentan mögliche Ort zu wohnen und innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu leben.

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