Die umfassende Quasi-Flatrate

Elinor Ostrom, Commonsforscherin und Wirtschaftsnobelpreisträgerin (Foto: Courtesy of Indiana University, zum Vergrößern klicken)(Voriger Artikel: Voraussetzungen für allgemeine bedürfnisorientierte Re/produktion)

Im letzten Teil hatte ich festgestellt, dass in einer postkapitalistischen, die allgemeine Emanzipation ermöglichenden Gesellschaft die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Produktionsprozesses stehen müssen. Die im Folgenden entwickelte Idee der umfassenden Quasi-Flatrate basiert auf der Erkenntnis, dass ein Großteil der Bedürfnisse aller Menschen durchaus ähnlich ist: alle müssen essen und trinken; alle wollen ein ausreichend geheiztes oder gekühltes Dach über dem Kopf; alle wollen gesund bleiben und brauchen bei Krankheit oder Unfällen medizinische Versorgung; alle wollen alt werden und brauchen im Alter, bei Krankheit oder Behinderung gegebenenfalls Pflege, alle brauchen als Kinder Menschen, die sich um sie kümmern; alle wollen auf die eine oder andere Weise etwas lernen, sich weiterbilden, neue Fähigkeiten entwickeln; fast alle wollen sich sportlich oder spielerisch betätigen, sich gelegentlich mit Freunden treffen oder feiern, kulturelle Ereignisse besuchen (z.B. Kino, Theater, Oper, Ausstellungen) etc.

Zielsetzung der umfassenden Quasi-Flatrate ist die selbstorganisierte Versorgung aller Bewohner (ich verwende weibliche und männliche Formen zufällig im Wechsel) einer bestimmten Region mit all diesen allgemein nützlichen Güter. Sie sollte alles umfassen, was die Menschen zum Überleben und zur allgemein üblichen Teilhabe benötigen – „beispielsweise Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Heizung, Wasser, Strom, Telekommunikation, öffentliche Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Bildung, Kinder-, Alten- und Behindertenbetreuung sowie elementare Güter für diverse Sport- und Freizeitaktivitäten“ (Lueer 2013: 279). Die Versorgung mit diesen Gütern ist dabei frei in dem Sinne, dass nicht genau abrechnet wird, wer wie viel verbraucht, denn bei dem, was alle in vergleichbarem Umfang benötigen (beispielsweise Essen, regionale Mobilität, Telekommunikationsmöglichkeiten), gibt es dafür keinen Grund. Und wo einige deutlich mehr benötigen, ohne sich dies ausgesucht zu haben (etwa medizinische Versorgung und Pflege aufgrund von Krankheit, Alter oder Behinderung), wäre es unfair, dies den einzelnen anzulasten.

Während der Zugang daher im Allgemeinen per Flatrate-Prinzip erfolgt (alle nehmen sich, so viel sie brauchen), werden in manchen Fällen wohl Obergrenzen nötig sein. Für Wohnraum dürfte es etwa einerseits Mindeststandards geben, die festlegen, welche Wohnungsgröße und Ausstattung einer Person oder Gruppe von Personen, die zusammen wohnen möchten, mindestens zustehen, andererseits aber auch Obergrenzen. Ein Schloss für jede dürfte kaum praktikabel sein. Damit ist der Begriff „umfassende Quasi-Flatrate“ (kurz: Quasiflat) erklärt: „umfassend“, weil sie möglichst alle Güter umfassen sollte, die Menschen zum Leben und zur üblichen gesellschaftlichen Teilhabe benötigen; „Flatrate“ wegen des Verzichts auf individuelle Abrechnung; „quasi“, weil der Zugang in manchen Fällen gedeckelt sein kann.

Die Teilhabe an der Quasiflat ist nicht unbedingt bedingungslos, da sie ja nicht vom Himmel fällt, sondern organisiert werden muss. Vollen Zugriff auf die zugänglich gemachten Güter mag es also nur für diejenigen geben, die bereit sind, einen eigenen Beitrag zur Herstellung und Pflege dieser Güter zu leisten. Ob eine solche Beteiligungspflicht nötig ist oder ob freiwillige Beiträge ausreichen, wird von den konkreten Umständen und Erfahrungen der Beteiligten abhängen und kann nicht vorab pauschal beantwortet werden. Sie darf aber (gemäß der im letzten Artikel genannten zweiten Voraussetzung) jedenfalls nicht dazu führen, dass einzelne ausgegrenzt oder in Konkurrenz zu anderen gezwungen werden. Wie dies sichergestellt werden kann, wird später erörtert.

Praktikabel dürfte eine Quasiflat zudem nur sein, wenn sich alle nur für den Eigenbedarf versorgen. Der Verkauf oder die Vermietung der so erhaltenen Güter (sofern diese Kategorien noch gesellschaftlich relevant sein sollten) wird also nicht gestattet sein und könnte zu Sanktionen führen. Hier ist die Unterscheidung von „Eigentum“ und „Besitz“ relevant. Eigentum ist die vielleicht fundamentalste Rechtsform im Kapitalismus: das exklusive und umfassende Verfügungsrecht über ein bestimmtes Gut, das den Eigentümer dazu berechtigen, es nicht nur zu benutzen, sondern auch zu verkaufen, zu vermieten oder anderweitig „zu Geld zu machen“. Besitz bedeutet dagegen Nutzung – mein Besitz ist das, was ich benutze oder verbrauche. Anders als „Eigentum“ ist der Begriff „Besitz“ daher nicht an ein bestimmtes Rechtssystem gekoppelt. Per Quasiflat zugänglich gemachte Güter können Besitz werden, aber wohl kein Eigentum.

Was genau zur Quasi-Flatrate gehört, wie die Zugangsmodalitäten sind, ob und für wen es eine Beteiligungspflicht gibt und wie Regelverstöße geahndet werden, steht nicht im Vorhinein fest, sondern kann nur in einem gesellschaftlichen Einigungsprozess festgelegt werden. Dies entspricht dem Anspruch der Kooperation auf Augenhöhe sowie dem dritten Gestaltungsprinzip der nobelpreisgekrönten Commonsforscherin Elinor Ostrom (2011: 86): “Gemeinschaftliche Entscheidungen: Die meisten Personen, die von einem Ressourcensystem betroffen sind, können an Entscheidungen zur Bestimmung und Änderung der Nutzungsregeln teilnehmen.”

Eine weltweit einheitliche Quasiflat wäre deshalb unpraktisch. Sie würde einzelnen praktisch keine Mitsprachemöglichkeiten lassen und könnte den unterschiedlichen lokalen Situationen schwerlich gerecht werden. Andererseits darf der Einzugsbereich einer Quasiflat auch nicht zu klein sein, da sie ja selbstorganisiert sein soll. Das erfordert zwar keine totale Autarkie, die auch unrealistisch wäre – wie Ressourcen und Aktivitäten über verschiedene regionale Quasiflats hinweg koordiniert werden können, wird noch zu klären sein. Aber der Kreis der Beteiligten sollte groß genug sein, um eine vielfältige selbstorganisierte Selbstversorgung zu ermöglichen und dabei (wo sinnvoll) auch großtechnische Produktionstechniken einsetzen zu können. Einzelne Dörfer oder Kleinstädte dürften somit eine zu kleine Bezugsgröße sein.

Als geeignete Größenordnung leuchten mir die „unabhängigen Regionen“ ein, die Christopher Alexander als „Muster 1“ an den Anfang seines einflussreichen Buchs Eine Muster-Sprache gestellt hat. Alexander et al. (1977: 10ff) schlagen Regionen mit zwischen zwei und zehn Millionen Einwohnern vor, doch erscheinen mir durchaus auch etwas kleinere Regionen ab etwa einer Million Einwohnerinnen als „groß genug“. Geht man von einer durchschnittlichen Bevölkerung von drei Millionen aus, gäbe es bei der heutigen Größe der Weltbevölkerung (7,2 Milliarden im Jahr 2014) um die 2400 solcher unabhängiger Regionen. Alexander geht von um die 1000 Regionen aus, doch war zur Erscheinungszeit seines Buchs die Weltbevölkerung auch noch deutlich kleiner (gut 4 Milliarden). Für Regionen mit einer selbstorganisierten Quasiflat werde ich künftig den Begriff „Koregion“ verwenden, kurz für „Kooperativ-“ oder „Commonsregion“.

In jeder Koregion entscheidet die Bevölkerung über Umfang und genaue Ausgestaltung der regionalen Quasiflat. Die Entscheidungsmodi werden variieren – denkbar wäre etwa eine virtuelle Bewohnerversammlung, in der alle Einwohnerinnen stimmberechtigt sind und die im Regelfall mit einfacher Mehrheit entscheidet.

Auch die nötige Produktion findet großteils innerhalb der jeweiligen Region statt, in kooperativ organisierten Betrieben, deren Mitarbeiter auf Augenhöhe zusammenarbeiten, ohne dass es eine Trennung zwischen weisungsbefugtem Management und bloß ausführenden Angestellten gibt. Ich werde künftig von „Kobetrieben“ oder „Kooperativbetrieben“ sprechen. Kobetriebe haben ein anderes Ziel als kapitalistische Unternehmen – sie versuchen nicht, Waren auf dem Markt zu verkaufen und damit möglichst viel Profit zu machen, sondern ihr Ziel ist die Versorgung der regionalen Bevölkerung im Rahmen der Quasiflat. Betriebe, die Ähnliches herstellen, konkurrieren daher auch nicht miteinander. Weitet ein Kobetrieb seine Produktion aus, erspart er den anderen Arbeit statt sie in Schwierigkeiten zu bringen.

Allerdings wäre es völlig kontraproduktiv, wenn jeder Betrieb ohne Absprache mit den anderen und den potenziellen Nutzerinnen vor sich hinwurschteln würde. Zur Abstimmung der Produktion werden sich alle Betriebe einer Koregion, die Ähnliches produzieren, daher in einem Syndikat koordinieren, an dem auch die Nutzer der hergestellten Güter teilnehmen können – schließlich sind sie es, für die produziert wird. Syndikate koordinieren die Produktion, um zu verhindern, dass zu viel, zu wenig oder am Bedarf vorbei produziert wird.

Ich verwende den Begriff „Syndikat“ hier im Sinne eines „lokalen, branchenweiten Zusammenschluss[es] von Arbeitern“ (Wikipedia 2013), wobei Neubildungen wie das „Mietshäuser-Syndikat“ zeigen, dass zu einem Syndikat neben den Herstellerinnen durchaus auch die Nutzerinnen von Gütern gehören können. Stattdessen sind natürlich auch andere Begriffe denkbar, in Beitragen statt tauschen (Siefkes 2008: 58ff) habe ich etwa von „Prosumenten-Assoziationen“ gesprochen.

Die in Betrieben eingesetzten Produktionsmittel (Land, Gebäude, Maschinen, Rohstoffe) und Vorprodukte sind kein Privateigentum des jeweiligen Betriebs, sondern bleiben Commons. Sie gehören nicht einzelnen, sondern allen, und werden den einzelnen Betrieben von der Gesellschaft (den Bewohnerinnen der Koregion) treuhänderisch überlassen, um sie zur Versorgung der Bevölkerung im Rahmen der Quasiflat (also zum Wohle aller) einzusetzen.

Für die hiermit vorgeschlagene gesellschaftliche Re/produktionsweise scheint mir der Begriff Commonssyndikalismus (oder kürzer Cosyndikalismus) geeignet, da die Commons und die Syndikate ihre Grundlage sind.

Syndikate können sich gemäß dem Räteprinzip organisieren: jeder Betrieb einer Branche schickt eine Delegierte in den Syndikatsrat, die etwa von der Vollversammlung aller Betriebsangehörigen ernannt wird. Auf Nutzerseite könnte es jeweils branchenspezifische Ableger der regionalen Bewohnerinnenversammlung geben, an denen alle Nutzer entsprechender Güter teilnehmen können. Diese Nutzerinnenversammlung bestimmt ebenso viele Delegierte wie die Betriebe zusammen, um gleichberechtigt vertreten zu sein. Delegierte sind gegenüber den sie entsendenden Versammlungen weisungsgebunden (imperatives Mandat) und können jederzeit von ihnen abberufen werden.

Die innere Organisation jedes Kobetriebs ist ihm selbst überlassen, so dass die jeweils Beteiligten sich nach eigenem Ermessen auf für sie geeignete Regeln und Verfahrensweisen einigen können. Eine Orientierung an dem aus Internetprojekten bewährten Doppelprinzip vom „grobem Konsens und lauffähigem Code“ (rough consensus and running code, Clark 1992: 19) dürfte dabei Sinn machen. Grober Konsens bedeutet, dass nicht einzelne nach Gutdünken entscheiden und dass nur ungern abgestimmt wird, sondern dass nach Lösungen gesucht wird, mit denen alle leben können. Nicht jede muss begeistert sein, aber nach Möglichkeit sollte niemand vehement widersprechen müssen. „Lauffähiger Code“ bedeutet – im weiteren Sinne – dass es darum geht, Lösungen zu finden, die sich praktisch bewähren und technisch und sozial aufgehen, statt einfach den eigenen Willen durchzusetzen.

Alle an Syndikaten beteiligten Betriebe führen offen Buch über die produzierten Güter sowie die dafür eingesetzten Produktionsmittel, Vorprodukte und Arbeitszeiten. Das ermöglicht es, die Kosten der im Rahmen der Quasiflat zugänglich gemachten Güter zu ermitteln. Güter werden zwar nicht ge- und verkauft, so dass diese Kostenaufschlüsselung für die einzelnen Nutzer keine direkten Konsequenzen hat. Ein Überblick über die anfallenden Kosten ist aber wichtig für die gesellschaftliche Debatte darüber, welche Güter Teil der Flatrate sein sollen – lohnt sich der Aufwand, oder sollten Arbeitszeiten und Ressourcen lieber für anderes eingesetzt werden? Die Kostenaufschlüsselung ist auch wesentlich, damit Syndikate Alternativen evaluieren und den beteiligten Betrieben gegebenenfalls empfehlen können. Dies betrifft die hergestellten Produkte (sind zur Raumbeheizung solarthermische Kollektoren oder Pelletheizungen besser geeignet?) ebenso wie deren Herstellungsprozesse (lohnt sich der Einsatz einer neuen Maschine oder würde er unterm Strich mehr Arbeit und Ressourcen verbrauchen?).

Kosten lassen sich im Commonssyndikalismus im Gegensatz zum Kapitalismus allerdings nicht auf eine einzige Kennzahl (Geld) herunterbrechen. Die anfallenden Aufwände in Bezug auf Arbeitszeit, Land und verschiedene Rohstoffe verbleiben als unterschiedliche Kennzahlen, die nicht einfach auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Wenn sich alle Kennzahlen in dieselbe Richtung bewegen (eine Prozessinnovation spart sowohl Arbeit als auch Rohmaterial), ist das unproblematisch. Wo das nicht der Fall ist, braucht es eine Debatte darüber, welche Alternative vorzuziehen ist, die im Rahmen einzelner Syndikate oder in der ganzen Gesellschaft geführt werden kann und von den gesellschaftlichen Umständen abhängig sein wird.

Gibt es große ungenutzte Landflächen und ein Großteil der Menschen wünscht sich mehr Muße? Dann dürfte sich eine Alternative durchsetzen, die Arbeit spart, aber mehr Flächen bindet. Oder ist schon alles voll und manche fühlen sich eher gelangweilt? Dann dürfte es andersherum ausgehen. Oder sind sowohl Land auch als Leute schon stark ausgelastet? Das spricht dann womöglich dafür, keine weiteren Güter in die Quasiflat aufzunehmen. Bei bedürfnis- statt profitorientierter Produktion (die nicht auf eine Maximierung der Produktion zur Maximierung des Profits setzen muss) mittels moderner und umweltfreundlicher Technologien dürfte es allerdings nicht so schnell so weit kommen – ganz im Gegensatz zur kapitalistischen Ideologie, derzufolge „Knappheit“ ein notwendiger Bestandteil des Wirtschaftens ist.

Mittels einer selbstorganisierten umfassenden Quasi-Flatrate können zwar viele, aber nicht alle Bedürfnisse befriedigt werden. Wie die Re/produktion zusätzlicher Güter gehandhabt werden kann, wird noch zu diskutieren sein, ebenso die Frage, wie die zur Organisation der Quasiflat nötige Arbeit aufgeteilt werden kann.

(Fortsetzung: Was ist Arbeit?)

Literatur

  • Alexander, Christopher; Sara Ishikawa; Murray Silverstein; Max Jacobson; Ingrid Fiksdahl-King; Shlomo Angel (1977): A Pattern Language: Towns, Buildings, Construction. New York: Oxford University Press. Deutsche Ausgabe: Eine Muster-Sprache. Städte, Gebäude, Konstruktion. 2. Aufl. Löcker, Wien 2011
  • Clark, David D. (1992): A Cloudy Crystal Ball – Visions of the Future. URL: groups.csail.mit.edu/ana/People/DDC/future_ietf_92.pdf, Zugriffsdatum: 28.3.2014
  • Lueer, Hermann (2013): Kapitalismuskritik und die Frage nach der Alternative. Münster: Monsenstein und Vannerdat
  • Ostrom, Elinor (2011): Was mehr wird, wenn wir teilen. München: oekom
  • Siefkes, Christian (2008): Beitragen statt tauschen. Neu-Ulm: AG SPAK Bücher. URL: peerconomy.org/text/peer-oekonomie.pdf
  • Wikipedia (2013): Syndikat. URL: de.wikipedia.org/wiki/Syndikat, Zugriffsdatum: 28.3.2014

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