Gesellschaft
Wie in 6300 Zeichen erklären, was Soziolog_innen oft gar nicht mehr kennen wollen — Gesellschaft? Das war die schwierige Aufgabe meiner Kolumne in der neuen Ausgabe der Wiener Zeitschrift »Streifzüge«. Meine versuchte Antwort: Die menschliche Gesellschaft begreift man nur, wenn man auch den gesellschaftlichen Menschen begreift — und umgekehrt. Emanzipatorische Theorie kommt da nicht drumherum. Versucht sie es doch, landet sie in zwei verschiedenen Sümpfen: dem Etatismus (Verabsolutierung der gesellschaftlichen Determination) oder dem Neoliberalismus (Verabsolutierung eines isolierten Individuums). Wie oft bei so schwierigen philosophischen Themen hat mich Annette beraten — danke dafür!
Der Rest der »Streifzüge« mit dem Schwerpunkt »Wohnen« ist übrigens auch sehr interessant 😉
Schöne Kolumne! – (Neo-)Liberalismus ist aber nicht gleich radikalem Individualismus. Letzterer wird eher zu Anarchismus (oder in der extremsten Form Solipsismus). Liberalismus ist IMHO ein Teil der kapitalistischen Ideologie und viel komplexer: Der Staat wird gebraucht und willig eingesetzt, seine verbale Zurückweisung wird strategisch immer nur zu bestimmten Zwecken verwendet (Steuersenkung; Ablehnung von Sozialabgaben; Zurückweisung sozialer Verantwortung).
Liberalismus kann man also nicht gleich entschiedenem Individualismus zu setzen, obwohl die Liberalen selbst das gern so sehen. Bestensfalls handelt es sich dabei um Selbsttäuschung: Die Liberalen glauben, sie lehnten „zuviel Staat“ ab, obwohl sie Maßnahmen zur Disziplinierung, Kontrolle der Arbeiterschaft, wirtschaftsnotwendige Staatseingriffe oder konjunkturfördernden Imperialismus und Kriege stets mitgetragen haben, was sich an der Geschichte der liberalen Parteien gut belegen lässt.
@Martin: Es gibt sehr wohl kollektivistischen Anarchismus. Du verwechselst wohl Anarchismus mit Libertarianismus.
Zur Erklärung des Begriffes „Gesellschaft“ ist für mich immer noch der Klassiker:
Theodor W. Adorno: Gesellschaft. In: Soziologische Schriften 1
@benni: Stimmt, den gibt es. Aber das Konzept Anarchismus definiert sich darüber, dass das Individuum vor der Macht anderer (auch und gerade der Gruppe) geschützt ist. Daher müssen individuelle Rechte in einem gewissen Sinn immer im Vordergrund stehen gegenüber Gruppeninteressen, sonst ist es kein Anarchismus, sondern nur irgendein rechtes Gemeinschaftskonzept.
@Martin Nein, das Konzept Anarchismus definiert sich durch Herrschaftsfreiheit. Der Unterschied zwischen Anarchismus und Kommunismus ist mindestens so sehr ein historisch gewachsener wie ein theoretischer.