Open Source und Web 2.0
Das Angekommensein Freier Software in der Gesellschaft spiegelt sich in dem Maße wider, wie es zum Reflektionsgegenstand wird, wie sich also etablierte Wissenschaft eines für sie »neuen« Themas annimmt. Das Thema kann nur deswegen »neu« sein, weil die etablierte Wissenschaft damit selbst meist nichts zu tun hat. Sie nähert sich dem »fremden« Gegenstand von außen und bringt allerlei etabierte Meßlatten mit. Das ist Teil des Problems. Nein, das ist natürlich nicht immer so, und ja, es gibt auch eigenständige Zugänge, etwa in der Informatik oder über das Thema Open Access.
Immerhin bietet das »Neue« und »Fremde« auch Studentinnen und Studenten eine gute Möglichkeit des wissenschaftlichen Einstiegs durch Verfassen entsprechender Abschlussarbeiten. Von einer soziologischen Diplomarbeit soll hier die Rede sein, von »Open Source und Web 2.0 — Soziale Bewegungen für eine „freie“ Wissensgesellschaft« von Jonathan Harth, erhältlich zwar unter CC-Lizenz, aber nur als PDF [Update: inzwischen auch als offenes ODT]. Das Problem häufig fehlender bearbeitbarer Quellen haben wir hier schon diskutiert. Nun aber zu den Inhalten.
Die Arbeit von Jonathan Harth liest sich ein wenig so, als ob er das Thema »Web 2.0« noch zusätzlich aufs Auge gedrückt bekommen hat. Es ist nicht so recht vermittelt mit dem Thema der Freien Software. So diskutiert er »Open Source« (er entscheidet sich zu Beginn, nur diesen Begriff zu verwenden) als soziale Bewegung und stellt fest, dass sich diese Frage bei »Web 2.0« gar nicht stellt, da es sich nur um ein Mittel handle. An »Web 2.0« interessiert ihn hingegen die Mittelseite nicht wirklich, sondern eigentlich die Frage der freien und kooperativen Kulturproduktion.
So schleppt der Autor zwei disparate Themen mit sich herum und schafft es immer wieder nur mühsam und teilweise widersprüchlich sie zusammenzubringen: »Sowohl die Produktion von Open Source Software als auch die Mitarbeit in Teilen von Web 2.0 versucht, die Freiheit des Zugangs, der Verfügbarkeit und potentiellen Weiterverwendung von Informationen aufrecht zu erhalten.« — Also wenn Web 2.0 keine soziale Form ist, sondern ein Mittel, dann ergibt diese Aussage keinen Sinn. Es gibt außerdem wahrscheinlich Myriaden von »Web 2.0-Anwendungen«, die nichts mit der Freiheit, sondern nur etwas mit der Kostenlosigkeit im Sinn haben als Mittel, fleissig Adressen zusammeln und Webseiten mit Werbung zu bepflastern. Den Unterschied von frei und kostenlos hat der Autor nicht im Blick, obwohl er selbstverständlich zu Beginn das bekannte Freiheit-und-nicht-Freibier-Zitat von Stallman bringt.
In einer Soziologie-Arbeit muss natürlich (mindestens) eine Gesellschaftstheorie diskutiert werden. Der Schwerpunkt liegt hier bei Jonathan Hardt auf der Systemtheorie von Luhmann. Der stärkste Teil der Arbeit folgt schließlich im siebenten Kapitel. Hier wirft der Autor die Web-2.0-Last nun endgültig ab und wendet sich dem Thema zu, auf das er offensichtlich schon die ganze Zeit eigentlich hinauswollte und an dem er auch Spaß hat. Hier geht’s um »Visionen und Utopien«, um jene »Sympathisanten…, die die Ideologie der Freiheit von Software auch auf den „Rest der Gesellschaft“ zu übertragen versuchen«. Ja, damit sind im weitesten Sinne »wir« gemeint.
Witzig, wann man plötzlich selbst zum Gegenstand von Wissenschaft wird. — Eine Idee für mögliche Nachfolger/innen: Warum nicht mal direkt mit »uns« sprechen? Drei Ansätze werden vorgestellt: Die »GPL-Gesellschaft« von Stefan Merten, die »Globalen Dörfer« von Franz Nahrada und ausführlich die »Freie Gesellschaft« von Merten/Meretz — bitte selber lesen. Wie werden diese »Utopien« bewertet? Für den Autor ist die »GPL-Gesellschaft« ein alternativer Wirtschaftsansatz, in dem die Produktion von Informationen dominiert, während er die »Globalen Dörfer« als das weitergehende Konzept ansieht, da hier nicht nur »technikutopisch«, sondern auch für eine »ökologische Harmonisierung« argumentiert werde. In seiner wesentlich ausführlicheren Diskussion des Konzepts der »Freien Gesellschaft« wendet sich Jonathan Hardt zunächst den vier Kriterien einer »Open Source Softwareproduktion« zu: Wertfreiheit, Selbstorganisation, Globalität und Selbstentfaltung. Der Reihe nach zentrale Sätze aus der Arbeit.
- Wertfreiheit: »Analog zu Mertens Konzept einer „GPL-Gesellschaft“ oder Nahradas „Globalen Dörfern“ würde sich die „Freie Gesellschaft“ also ebenfalls durch die freie Verfügbarkeit von Wissensgütern auszeichnen, die dann quasi „marktfrei“ daherkommen würde.« — Schonend den Gutachtern beigebogen. Dabei geht’s in einer Freien Gesellschaft eigenlich nicht nur um Wissensgüter, sondern darum, dass »Marktfreiheit« für alle Güter durchgesetzt wird.
- Selbstorganisation: »Auf die Utopie einer „freien“ Gesellschaft übertragen hieße es dann, die Wegrichtung einzuschlagen, die sich offen von der Idee der Gesellschaftssteuerung abwendet und die Komplexität von sozialen Phänomenen als Voraussetzung für weitere Reflexionen in Form von selbstorganisierenden Netzwerken sieht.« — Also, nur über Phänomene in Netzwerken zu reflektieren, ist ein bißchen wenig, Selbstorganisation als Prinzip des Tuns ist eigentlich, worum es hier geht.
- Globalität: »Die globale Offenheit von Open Source Softwareentwicklung funktioniert demnach als ein Inklusionsmodell, welches sowohl die Nutzer als auch die Entwickler explizit einlädt, sich kooperativ an den Projekten zu beteiligen.« — Das ist zwar richtig, aber nicht unbedingt Ergebnis der Globalität, sondern der Wertfreiheit und der Tatsache, das Freie Software keine Ware ist.
- Selbstentfaltung: Hier stellt der Autor fest, dass sich »die Semantik zu denen von traditioneller Unternehmerseite propagierten kaum unterscheidet«. Dieses konstatierte »kaum unterscheiden« wird allerdings kurz darauf wieder aufgehoben: »Es stellt sich … heraus, dass sie [die Befürworter der Open Source Prinzipien] die Selbstorganisation unter dem Blickwinkel einer freiwilligen Selbstfaltung sehen, welche sich orthogonal zu den Konzepten moderner Management-Theorien befindet.« — Oder um es scharf zu formulieren: Selbstentfaltung und Selbstverwertung gehen nicht zusammen, und das ist nicht bloß eine Frage der Theorien, sondern der Praxis. Es wäre sinnvoll, einmal systematisch zu untersuchen, welche Erscheinungsformen dieser Widerspruch hervorbringt.
Trotz der zugestanden analytischen Herangehensweise kennzeichnet Hardt das Konzept der »Freien Gesellschaft« als »Wunschprojektion« und »Utopie«. In der Folge setzt er sich dann auch ausführlich mit Geschichte und Konzepten der »Utopie« auseinander. »Utopie« ist danach sowohl ein Element der Gesellschaftskritik wie auch der Formulierung einer gesellschaftlichen Alternative. Die Kritik braucht die bürgerliche Gesellschaft, um sich immanent zu entwickeln und es nicht zu einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderung kommen zu lassen — vgl. etwa die 1968er-Bewegung (mein Beispiel). Eine »Utopie« gerät damit in die Rolle des ganz Anderen. Ausgrenzung und Antihaltung wirken als Selbst-/Immunisierung. Davon hebe sich die »Utopie« einer Freien Gesellschaft ab, weil sie nicht in erster Linie auf dem »kritischen Protest in der Gesellschaft« gründet, sondern neue Entwicklungen praktisch in die Welt setzt:
»Wenn die Bewegung für eine „freie“ Gesellschaft nun den gleichen Weg ginge, wie dereinst die Open Source Softwarebewegung und ihre Forderungen nicht nur als Fordeurngen formuliert, sondern durch Handlungen umzusetzen in der Lage wäre, dann könnte auch ihr Ziel näher rücken, die ursprünglich „Keimform“ als dominierende Kraft zu etablieren.«
Das ist der Punkt. Puh, geschafft. Wer das Lesen des Textes abkürzen will, dem empfehle ich, nur die Kapitel 7 (»Bewegung für eine „freie“ Wissensgesellschaft?«) und 8 (»Zusammenfassung und Ausblick«) zu lesen. Die Arbeit leidet etwas unter dem Blick des universitären Beurteiler, den man als Leser permanent über der Schulter des Autors wahrnehmen kann. Auf das Thema Web 2.0 hätte verzichtet und stattdessen das Verhältnis von »Immunisierung und Transformation« tiefer untersucht werden können. In jedem Fall hebt sich die Arbeit positiv von bloßen Business-Erkundungen ab, die es inzwischen zu Hauf gibt.
Lieber Stefan,
vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, meine Arbeit zu lesen. Im Wesentlichen sprichst du tatsächlich die Knackpunkte an, auf die ich selbst immer gestoßen bin und die ich offen gesagt (noch) nicht aufheben konnte. Um mal eine kleine Diskussion zu starten:
Die (nicht nur analytische) Verbindung von OS-Prinzipien und der Praxis in vielen „Web 2.0“-Projekten ist in der Tat nicht einfach. Bei OS-Projekten geht es doch meist um Projekte zur Erschaffung-von-etwas (z.B. Software), das Web 2.0 zeichnet sich demgegenüber eher durch die Verknüpfung-von-etwas aus (z.B. Mashups, soziale Netze). Selbstverständlich kann man auch in der Verknüpfung ein „etwas“ sehen, das geschaffen wurde; primär geht es m.E. jedoch oftmals eher um soziale Phänomene wie Prestige, Kontakte oder eben Wissensaustausch.
Die Frage lautet dann aber immer noch, inwiefern solche Web2-Dienste dann nicht nur „kostenlos“, sondern auch „frei“ sind bzw. sein könnten. Ich denke, es ist nicht zwingend erforderlich hier Gemeinsamkeiten zwischen OS und Web2 zu schaffen. Für mich zählen eher die Ideen dahinter: Kooperation und Zugänglichkeit. Und ich möchte behaupten, dass diese beiden Komponenten mittlerweile so etabliert sind, dass sie auch für proprietäre Dienste Pflicht sind und wohl nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Inwiefern sich dann aus der Kostenlosigkeit von Web2-Diensten auch eine ultimative Freiheit wird (und das hieße ja dann Gemeingut), wird sich zeigen müssen.
„Also, nur über Phänomene in Netzwerken zu reflektieren, ist ein ißchen wenig, Selbstorganisation als Prinzip des Tuns ist eigentlich, worum es hier geht.“
Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns hier missverstanden haben. Das Kennzeichen der „Selbstorganisation“, welches für die „Freie Gesellschaft“ postuliert wird, habe ich so verstanden, dass es auf eine „Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen“ abzielt. D.h., dass keine stake-holder Druck auf die interne Organisation ausüben, keine Marktschwankungen Ziele verändern, etc., sondern sich die Mitgleider der sich selbst organisierenden Organisation selbst die Ziele setzen und selbst entscheiden wie diese erreicht werden sollen. Quasi eine Autarkie. Für mich ist das jedoch eine prinzipielle Eigenart jeder Organisation – ob hierarchisch oder heterarchisch organisiert. Spannend ist dabei jedoch die Einsicht darin und die Darstellung der Selbstbeschreibung, die m.E. als moderne Weiterentwicklung von althergebrachten „Steuerungstheorien“ gelten kann.
Alles was über diese Selbstorganisation von (internen) Entscheidungen hinaus geht, würde ich unter dem Label der Selbstentfaltung sammeln. Und da wird es kompliziert. Mit beiden Begriffen (Selbstorganisation und Selbstentfaltung) wird auf ein Selbst rekurriert, also auf ein Individuum. Das heißt, es geht für Individuen dann darum, zu tun was man selbst möchte, um zu sein wie man selbst möchte. Das klingt zunächst trivial, kann jedoch nicht ohne die Umwelt des Individuums passieren. Ich würde lieber von Kopplungen reden, denn Selbstentfaltung hängt immer auch von der „Entfaltung“ durch Fremde ab. (Das ist ja auch das Konzept der „positiven Rückkopplung“ und damit auch ein Phänomen der Sozialisierung) Wenn man den Begriff der Selbstentfaltung hinsichtlich von Entfremdung und Selbstverwertung sieht, dann wird es schwierig, von außen Kriterien für das eine oder das andere anzulegen. Mit einer kritischen Theorie im Gepäck lässt sich zwar leichter von einer „guten“, freien Selbstenfaltung und einer „schlechten“, entfremdeten Selbstverwertung sprechen. Man müsste aber beides irgendwie ineinander integrieren können, um von einer Ideologie der freien Selbstentfaltung des Individuums wegzukommen. Denn Ideologien und Selbstentfaltung lassen sich oft nur schwer vereinbaren.
P.S. Die Arbeit ist nun auch als .odt verfügbar. Wüsste jetzt nicht, wie ich sie noch „offener“ machen könnte?
@JonathanH: Danke für deinen auführlichen Kommentar! Auf ein paar Punkte will ich eingehen, zunächst mal zu Peer-Produktion (Freie Software und mehr) und Web-2.0. Du schreibst:
Vom Standpunkt der gesellschaftlichen Produktion — also im allgemeinen Sinne der kollektiven Herstellung unserer Lebensbedingungen — unterscheidet sich beides nicht, und zwar in beide Richtungen: Freie Software etwa produziert nicht bloß Software, sondern vor allem auch neue sozialen Formen der Kooperation, und Web 2.0 steht nicht nur für Verknüpfung von Vorhandenem (Mashup), sondern für die Produktion von sozialen Netzwerken. Beides gab es vorher so nicht: Software war nur proprietär und gesellschaftliche Verknüpfung war v.a. Ergebnis der Warenzirkulation durch die „unsichtbare Hand“.
Deswegen bergen beide Entwicklungen Potenzial für (Selbst-) Entfaltung und für (Selbst-) Verwertung. Und die Verwerter nutzen das, wo’s nur geht. Interessant ist, dass zunehmend nurmehr der Erfolg hat, der „offener“ ist. Eine Konkurrenz um Offenheit — das ist historisch auch neu. Allerdings kommt damit die Freiheit nicht automatisch.
Zur Selbstorganisation, glaube ich, gibt es zwischen uns in der Tat ein unterschiedliches Verständnis bei uns beiden. Ich könnte deine Aussage genau umgekehrt formulieren, um auszudrücken, was ich darunter verstehe: Es geht nicht um Unabhängigkeit (=Geschlossenheit) von äußeren Einflüssen, sondern tatsächlich um den Einfluss der stake-holder (das sind die Mitglieder), es geht nicht um Autarkie, sondern um maximale soziale Vernetzung. Das geht nur, wenn die Organisation unter nicht-emtfremdeten Bedingungen existieren kann, also frei von Einflüssen dritter Person. Selbstorganisation ist Organisation in (verallgemeinerter) erster Person.
So verstanden setzt Selbstorganisation Selbstentfaltung voraus. Das ist also kein Add-on, sondern genuines Feature. Auch hier finden wir den Widerstreit zwischen Selbstverwertung dritter Person und Selbstentfaltung erster Person.
Ja, stimmt:
Das Individuum, um das es hier geht, ist das gesellschaftliche Individuum. Wenn du an koppeln denkst, dann impliziert das Koppeln von Umgekoppeltem. Es gibt aber kein ungekoppeltes, vulgo isoliertes Individuum (selbst die Warenmonade ist nicht ungekoppelt). Selbstentfaltung hängt also nicht von der Entfaltung durch Fremde (neutraler: Andere) ab. Also „durch“ im Wortsinne sowieso nicht, „durch“ im Sinne von „vermittels“ stimmt schon eher, noch stärker aber wäre die Aussage, dass je meine Selbstentfaltung nicht nur die Selbstentfaltung der Anderen voraussetzt, sondern ist. Das ist die logische Konsequenz aus der Überlegung, dass je ich der je Andere bin. Das ist allerdings eine Denkfigur, die nicht gut in die Systemtheorie passt.
Und nun noch zu den Kriterien für die „Einteilung“ von Selbstentfaltung:
Das führt IMHO in Probleme (was ist gut, was schlecht, was die Kriterien dafür etc.). Selbstentfaltung ist weder gut noch schlecht, sondern sie ist einfach immer. Die Frage ist nur, wie weit sie gehen kann, ob sie beschränkt wird oder nicht. Selbstverwertung ist auch Selbstentfaltung, nur eben eine beschränkte. Sie ist deswegen beschränkt, weil sie sich nicht an den eigenen Bedürfnissen, sondern externen Vorgaben orientiert. In dem Maße wie sie das tut, schränkt sie sich ein — bist zur totalen Unterordnung. Dann ist da nicht mehr viel übrig vom „selbst“.
Das ist der Widerspruch, den die Verwerter nicht lösen können: „Entfalte dich unbeschränkt selbst, aber beschränke deine Entfaltung, in dem du dich an externen Maßgaben orientierst“ (etwa der Verkaufbarkeit). Nun kann man natürlich emphatisch sagen, weil Einschränkung schlecht ist, ist Selbstverwertung auch schlecht und (unbeschränkte) Selbstentfaltung gut. Aber das ist nicht nötig, denn ich brauche hier keine externen Maßstäbe. Es ist hier also mehr Bewertung im Nachhinein als Bewertungskriterium im Vorhinein.
Zum Schluss: Ja, ODT ist doch prima, es lässt sich bearbeiten, und das ist der Punkt. Und ODT ist als Teil vom ODF ISO-zertifiziert.