Abstraktes und konkretes Allgemeines
In meiner neuen Kolumne »Immaterial World« in den Wiener »Streifzügen« greife ich mit dem »Allgemeinen« nochmal ein philosophisches Thema auf, das auch hier im Keimform-Blog schon mal angesprochen wurde.
Was ist eigentlich allgemein? Was tun wir, wenn wir verallgemeinern? Warum gelangen wir spontan häufig nur zum abstrakt Allgemeinen? Was ist demgegenüber dann ein wissenschaftliches begründetes konkret Allgemeines? — Das sind so ein paar Fragen, die mich zu dem (viel zu kurzen) Artikel trieben.
Das „konkreteste“ Allgemeine findet sich als „hier“ und „jetzt“. Das sind allgemeinheiten, die in allem besonderen anwesend sind. Siehe dazu auch: Hegels „Phaenomenologie des Geistes„.
„Will ich den Menschen dagegen als konkret-allgemeinen fassen, so brauche ich einen Begriff, der das Besondere der so unterschiedlichen wirklichen Menschen einschließen kann. Das ist etwa ein Begriff des Menschen, dessen Natur die Gesellschaftlichkeit ist und der seine Lebensbedingungen in vorsorgend-kollektiver Form herstellt.“
Dieser Deutung mag ich mich nicht anschliessen, denn auch ein solches Bild des Menschen trifft nicht auf jeden einzelnen in allen Momenten seines Daseins zu. Sicherlich besitzen Menschen diese eigenschaften oder Potentiale, aber m.E. sind sie kein „konkret“ Allgemeines, weil sie sich eben auch negieren lassen. Ueberhaupt waere ich sehr vorsichtig damit dem Menschen irgendeine „Natur“ anzudichten. In der Natur, oder besser: dem, was wir [Menschen!] als Natur bezeichnen, kommt „Natur“ ueberhaupt nicht vor.
😉
@Roger:
Sofern es sich um Eigenschaften oder seine »Natur« handelt, so lassen sie sich nicht negieren: Die Gesellschaftlichkeit kann man dem Menschen nicht nehmen. Wie er sie entfaltet, ist eine ganz andere Frage. Potenziale sind eben Potenziale, also Möglichkeiten der Realisierung. Sie können auch unrealisiert bleiben. Das Potenzial zur Entfaltung kannst du nicht nehmen, du kannst nur die Entfaltung selbst unterdrücken.
Was soll der Mensch anderes sein als ein Naturwesen? Da ist nichts anzudichten, das ist doch offensichtlich. Die Frage ist also nicht, ob Natur, sondern nur: welche. Und da sage ich, dass es extrem wichtig ist, zu kapieren, dass die Gesellschaftlichkeit die spezifische Natur des Menschen ist. Deswegen ist die Rede von der »gesellschaftlichen Natur« des Menschen kein Trick, sondern substanzieller Inhalt.
Das verstehe ich nicht. Natürlich kommt »Natur« in der Natur vor. Wir sind Teil der Natur, und wir sind in der Lage, die Natur (und damit uns selbst) als diese zu reflektieren.
Wer hat die Natur erfunden?
Nein – diesmal waren es nicht die Schweizer .. 😉
Okay nehmen wir mal das, was wir Gesellschaftlich nennen als ein anthropologisches a priori; Menschen entstehen ja nicht aus dem Nichts, sondern aus letzlich immer gesellschaftlichen Kontakten. Dann koennen wir mit Recht sagen, dass der Mensch (auch) ein soziales Wesen sei – das wars aber auch schon, und diese Sozialitaet waere noch nichts spezifisch menschliches, jedenfalls nichts wodurch der Mensch sich von gewissen Tieren unterschiede. Das „Wesen“ des Menschen muesste aber m.E. etwas bezeichnen, durch das sich alle Menschen a) von allen anderen Lebewesen zu unterscheiden und das b) ihnen allen unter allen denkbaren Umstaenden zukommt, also nicht nur je „nach Lage der Dinge“. – Menschen koennen sich kooperativ verhalten, sie muessen es aber nicht – und ich weiss nicht ob ueberhaupt sagen kann, dass jeder einzelne Mensch dazu in der Lage waere. Vielleicht ist Nietzsches Definition hier noch die „beste“: der Mensch, als „das nicht festgestellte Tier“.
Eine andere Frage waere noch, ob nicht entfaltete Potentiale sich nur dann nicht entfalten, wenn sie „unterdrueckt“ werden – das sind Vorannahmen, die zunaechst zu beweisen waeren. Ohne Beweis stuende dieses (Dein?) Menschenbild auf den gleichen toenernen Fuessen, wie so gut wie alle anderen.
„DieNaturdesMenschen“ – sorry aber fuer mich ist das die Mutter aller Totschlagargumente und mich gruselt jedesmal, wenn ich diesen Sequenz hoeren muss. Mit einer solchen „Natur“ argumentieren alle – und alle finden – je nach Bedarf der Ideologie, der sie gerade anhaengen – dass darunter etwas je anderes zu verstehen sei sei. Bei Adam Smith gibt es einen „natuerlichen“ Hang des Menschen, zu tauschen; bei Hobbes ist die Menschennatur „woelfisch“ (eine Beleidigung aller Woelfe, weil das „Wolfsbild“ on Herrn Hobbes schon nicht stimmt); bei Rousseau ist der Mensch „von Natur aus gut“ usw. Auch die neoliberalen propagandisten fuehren nur zu gerne die „Menschliche Natur“ im Mund – vor allem, wenn ihnen sonst keine Argumente fuer ihre Thesen einfallen. Der einzige, der – abgesehen von ein paar „Ausrutschern“ in seinen fruehen Schriften – nicht so einem Axiom herumreitet, ist Herr Marx (gewesen), der sich beizeiten abgewoehnte von „dem Menschen“ zu sprechen, der allerdings die Sozialitaet und Geschichtlichkeit der konkreten, lebendigen Menschen stets entsprechend gewuerdigt hat, ohne diese Merkmale (die er an seinen Zeitgenossen beobachten konnte) aber „dem Menschen“ schlechthin anzudichten.
@Stefan:
Jedes Allgemeine besteht (als Abstraktion) aus Individuen (im logischen Sinne), die immer auch noch individuelle Eigenschaften haben. Es handelt sich – so würde man heute sagen – um eine Klassenbildung: Die Menschen sind einfach alle Individuen mit der Eigenschaft, Mensch zu sein. Das ist eine Klasse. D.h. aber natürlich nicht, dass sie keine individuellen Eigenschaften mehr haben. Das würde kein Logiker je behaupten.
Das Konkret-Allgemeine kann also nicht einfach verstanden werden als Allgemeines, das auch noch konkrete Eigenschaften hat. Könnte es dann vielleicht etwas sein, bei dem das Allgemeine stets in unterschiedlicher Form auftritt? So sind wir z.B. nicht alle in unterschiedlicher Weise Menschen (sondern alle in derselben), aber wir produzieren alle auf unterschiedliche Weise und befinden uns alle auf unterschiedliche Weise in einem „Stoffwechsel mit der Natur“ (Reproduktion). Daher könnte man hier von etwas „Konkret-Allgemeinem“ sprechen.
Davon wird jedoch beim Kapitalismus abstrahiert in Ware und Geld, abstrakt-allgemeinen Entitäten, bei denen tatsächlich das Konkrete wegabstrahiert ist. In einer commons-basierten Gesellschaft würde vom Konkreten der Produktion und Reproduktion nicht abstrahiert. Daher würde dort die Produktion etwas Konkret-Allgemeines des Menschen sein.
Trifft es das so ungefähr?
@Roger#3: Deinen Kriterien a) und b) kann ich folgen, nur entwertest du sie dann selbst:
1. Die Sozialität, wie du es nennst, entsteht nicht aus sui generis »aus gesellschaftlichen Kontakten«, so als ob der Mensch vor diesen Kontakten gleichsam »ungesellschaftlich« wäre. Nein, die Sozialität kann der Mensch nur deswegen entfalten, weil er natürlich gesellschaftlich ist, weil es seine biologische Potenz ist, sich zu vergesellschaften. Ohne biologische Funktionsgrundlage wäre individuelle Vergesellschaftung gar nicht zu erklären. Und eben jene biologische Potenz ist seine gesellschaftliche Natur.
2. Das kooperative Verhalten ist nicht mit der menschlichen Natur gleichzusetzen.
3. Es handelt sich nicht einfach um ein »Menschenbild« wie ein Wunschgemälde, der Mensch möge so und so sein. Oder wie viele andere Ontologisierungen und Rückprojektionen. Ich mache auch keine Vorannahmen, sondern ich behaupte hier zunächst einmal, dass es so ist wie ich sage. Das wäre noch zu wissenschaftlich zu belegen. Bislang scheint mir das aber nicht notwendig zu sein, weil deine Gegenargumente selber von Annahmen ausgehen, die mir nicht stichhaltig erscheinen.
4. Es ist für mich völlig nachvollziehbar, warum es eine große Angst gibt, überhaupt über die »Natur des Menschen« sprechen zu wollen. Einige Beispiele hast du genannt, die — wie es es nenne — Ontologisierungen und Rückprojektionen sind. Auch stupide ungekehrte Vereigenschaftungen, etwa: »der Mensch ist gut« o. dgl. haben dazu beigetragen, da sie ja augenscheinlich nicht eingetroffen sind.
Daraus aber den Schluss zu ziehen, den Kopf in den Sand zu stecken, und generell a priori und aus meiner Sicht auch völlig unlogisch den Schluss zu ziehen, man dürfe überhaupt nicht mehr über die »Natur des Menschen« nachdenken, halte ich für grundfalsch. Das nenne ich ein (ungeheuerliches) »Menschenbild«, was dahinter steckt.
Mir scheint auch, dass dir der Status von Aussagen wie »wölfische Natur« und »gesellschaftliche Natur« nicht klar ist: Beim ersteren handelt es sich um Eigenschaftszuschreibungen als Ontologisierung menschlichen Verhaltens unter historisch-spezifischen gesellschaftlichen Formbedingungen, während die zweite Fassung gerade dies kritisiert, indem sie zwischen Gesellschaft und historisch-spezifischer Form zu unterscheiden vermag.
Marx hat übrigens mit etlichen Sentenzen deutlich Interpretationsspielraum gegeben. So wurde m.E. der Satz vom Wesen des Menschen als dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse in vereinseitigender Weise so interpretiert, als ob der Mensch eigentlich ein Tier sei, in das erst durch die gesellschaftlichen Verhältnisse Gesellschaft rein komme. Das entspricht ziemlich genau denen reaktionären Sichtweisen, gegen du dich zu recht wendest. Und das hätte Marx nie angenommen.
@Martin: Das trifft es ganz gut 🙂
@Stefan:
Daraus aber den Schluss zu ziehen, den Kopf in den Sand zu stecken, und generell a priori und aus meiner Sicht auch völlig unlogisch den Schluss zu ziehen, man dürfe überhaupt nicht mehr über die »Natur des Menschen« nachdenken, halte ich für grundfalsch. Das nenne ich ein (ungeheuerliches) »Menschenbild«, was dahinter steckt.
Von dürfen oder nicht kann nicht die Rede sein. Mir leuchtet die gesamte Denkstrategie nicht mehr ein: Man nimmt also irgendein unreduzierbares Potenzial „des Menschen“ an, eine Natur, von dem aus man dann sein Gesellschaftsgebäude aufbaut – inklusive einer besseren Alternative. Was man dadurch zu gewinnen versucht ist klar: Orientierung im Wald der verwirrenden Vielfalt möglicher Welten, aber auch Legitimität und einen Haken, an den man diejenigen, die gegen „die Natur“ des Menschen denken, hängen kann.
Aber: Ist es nicht so, dass diese Art der Legitimierung nicht mehr so recht legitimiert? Da kann man noch so viel darauf hoffen, das Offensichtliche sei doch für alle gleich offensichtlich, und der endgültige Beweis werde dann schon noch im einzelnen „wissenschaftlich“ geführt werden. Das Klaffen der Erfahrungen des Bestehenden wird sich nicht so schließen lassen. Und der Dissens über die Träume von einer besseren Welt wird sich so erst recht nicht entscheiden. Nicht mehr so, seit diese spezifische Denkstrategie die Verbindlichkeit, die sie in einer historisch bestimmten Periode ansatzweise hatte, gründlich verloren hat.
Das alles heisst nicht – und damit sind wir beim Orientierungsaspekt – dass ich sie nicht teile. Wenn ich Annahmen über „den Menschen“ brauche, und die brauche ich in meiner Gesellschaftswissenschaft immer seltener, dann entsprechen die von Stefan skizzierten sowohl meinen Erfahrungen als auch meinen Träumen von einer besseren Welt. Das tun sie gerade in ihrer Offenheit, die andererseits allerdings leider (oder glücklicherweise?) auch ihre Funktion als Orientierung beeinträchtigt.
Definitiv nicht mehr würde ich darauf setzen, dass es nur eine Frage des richtigen Denkens, der richtigen Grundannahmen ist, dass meine Erfahrungen und Träume die aller Menschen werden.
@Thomas: Wie schon geschrieben, halte ich die Abwendung von der Befassung mit der menschlichen Natur für nachvollziehbar, will mensch doch nicht wieder in die Falle falscher Projektionen tappen. Aber dadurch wird man die Frage nicht los. Nihilistische Dekonstruktion funktioniert nicht: Du kannst die menschliche Natur nicht nicht denken, da sie uns gleichsam in jeder Sekunde begleitet, da wir sie sind. Damit geht es auch ganz persönlich um die Frage, was du dir selbst zutraust, welchen Fragen du dich stellst und verantwortest.
Dem kann man — wie geschrieben: nachvollziehbarer Weise — aus dem Weg gehen, in dem man an die Stelle der menschlichen Natur einen »Leermenschen«, einen »Homunkulus« setzt (wie es die traditionelle Psychologie macht). Der wird dann nurmehr von der Gesellschaft »gefüllt«, ist den Bedingungen unterworfen, ist nurmehr Opfer und kann nicht anders. — Das ist eine durch und durch ideologische und affirmative Konstruktion. Damit meine ich jetzt nicht dich, Thomas, einen gewissen »Orientierungsaspekt« gestehst du ja zu.
Selbstverständlich geht es nicht nur um die »Frage des richtigen Denkens«, sondern um die des richtigen, oder besser: adäquaten und redlichen Handelns. Und zwar jeden Tag. Sich davon abzuwenden, sich hier nicht zu verantworten, sich einem fiktiven Leermenschen, der nur der Homo Oeconomicus sein kann, hinzugeben, halte ich im Wortsinne für ungeheuerlich: Es gebiert Ungeheuer.
Interessant finde ich auch — ich kann es nur als Degenerationssymptom dieser Gesellschaft deuten –, dass auf den Verweis auf Wissenschaft reflexartig ihre komplette (so verstehe ich deine Anführungszeichen) Infragestellung folgt — anstatt mit den Mittel von (nicht: »der«) Wissenschaft die Auseinandersetzung zu führen und falsche Propheten zu widerlegen. Auch hier bringt Verweigerung aus meiner Sicht nichts.
Und finally: Es geht nicht darum, »Annahmen« über den Menschen zu machen. Derer haben wir wahrlich genug. Sondern es geht darum, zu begreifen, was die menschliche Natur ausmacht, um bloße »Annahmen« als unhaltbar abweisen (seltener als haltbar begründen) zu können. Dazu muss man sich allerdings auf das Feld der Wissenschaft begeben — womit sich der Kreis schließt.
Bis „Interessant finde ich auch“ sind wir uns weitgehend einig. Allerdings wuerde ich mit Worten wie „Degeneration“ und „Ungeheuer“ nicht so freigiebig umgehen wie du es tust, auch mit der Unterstellung von Reflexen und dem Vorwurf der Verweigerung.
Falsche Propheten zu widerlegen ist ohne Zweifel ein hehres Ziel. Aber damit, dass man selbst glaubt, man habe widerlegt, ist es ja leider nicht getan. Wichtig ist dass der falsche Prophet von seinem Prophetenthron gestossen wird, vielleicht sogar selbst versteht wo er/sie sich irrt. Ich weiss ja nicht wie deine Erfahrung damit ist, aber ich habe hoechst selten gesehen, dass Wissenschaft das vermochte.
Nun scheint mir, du reagierst so auf diese Erfahrung: „Umso schlimmer! Dass der falsche Prophet und seine Anhaenger sich nicht mit meiner Wissenschaft ueberzeugen lassen beweist nur noch deutlicher, dass sie falsch sind! Zumindest tut es meiner Sache keinen Abbruch.“
Mir hingegen liegt naeher, von Wissenschaft nicht (mehr) zu erwarten, sie koenne den Schleier der Erscheinung von den Dingen reissen. Und das muss eben nicht in Nihilismus und Monstroesitaet enden! Damit beginnt vielmehr eine kritische Reflektion auf Wissenschaft, ihre Moeglichkeiten und Grenzen. Wissenschaft, so ein Ergebnis dieser Reflektion, ist eine soziale (genauer: sozio-technische) Praxis, ebenso verwickelt in Taeuschung, Hoffnung und Leben wie andere Praxen auch. Und ich meine auch beobachtet zu haben, dass diejenigen, die sich auf die Superioritaet einer bestimmten Form des Denkens versteifen, sich gleichzeitig einer Beschraenkung des Denkens unterwerfen, die ihrem Denken nicht bekommt.
@Thomas: Das war jetzt aber sehr wissenschaftlich geantwortet 😉
„Du kannst die menschliche Natur nicht nicht denken, da sie uns gleichsam in jeder Sekunde begleitet, da wir sie sind.
Daraus folgt: wir koennen nicht denken was wir sind.
Ergo: Ist es unsinnig unser Sein als (menschliche) „Natur“ zu denken.
Ich erinnere an Kant:
„Es sind viele Gesetze der Natur, die wir nur vermittelst der Erfahrung wissen können, aber die Gesetzmäßigkeit in Verknüpfung der Erscheinungen, d. i. die Natur überhaupt, können wir durch keine Erfahrung kennen lernen, weil Erfahrung selbst solcher Gesetze bedarf, die ihrer Möglichkeit a priori zum Grunde liegen.
Die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt ist also zugleich das allgemeine Gesetz der Natur, und die Grundsätze der erstern sind selbst die Gesetze der letztern. Denn wir kennen Natur nicht anders, als den Inbegriff der Erscheinungen d. i. der Vorstellungen in uns, und können daher das Gesetz ihrer Verknüpfung nirgend anders, als von den Grundsätzen der Verknüpfung derselben in uns, d. i. den Bedingungen der notwendigen Vereinigung in einem Bewußtsein, welche die Möglichkeit der Erfahrung ausmacht, hernehmen.
[…]
Wir müssen aber empirische Gesetze der Natur, die jederzeit besondere Wahrnehmungen voraussetzen, von den reinen oder allgemeinen Naturgesetzen, welche, ohne daß besondere Wahrnehmungen zum Grunde liegen, bloß die Bedingungen ihrer notwendigen Vereinigung in einer Erfahrung enthalten, unterscheiden, und in Ansehung der letztern ist Natur und mögliche Erfahrung ganz und gar einerlei, und, da in dieser die Gesetzmäßigkeit auf der notwendigen Verknüpfung der Erscheinungen in einer Erfahrung (ohne welche wir ganz und gar keinen Gegenstand der Sinnenwelt erkennen können) mithin auf den ursprünglichen Gesetzen des Verstandes beruht; so klingt es zwar anfangs befremdlich, ist aber nichtsdestoweniger gewiß, wenn ich in Ansehung der letztern sage: der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“
Immanuel Kant. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können.
Man wird fragen duerfen: wie sollte das Erfahrende im Erfahrbaren (vollstaendig!) enthalten sein?
@Thomas: Ja, ich (über-) reagiere an diesem Punkt emotional, weil ich die Konsequenzen des Nihilismus so — unmenschlich finde. Unmenschlich, weil so ganz der herrschenden Logik entsprechend, und das mit einem Gestus der Abgeklärtheit: Auf die Niederungen der »menschlichen Natur« lasse ich mich nicht hinab, darüber bin ich schon hinweg.
Mir geht’s beileibe nicht um die Propheten, sondern um uns, um diejenigen, die eine Emanzipation wollen. Es geht einfach nicht zusammen, Emanzipation und Nihilismus. Das kann ich schlicht und unwissenschaftlich nicht gut ertragen. Wenn ich mich dann abgeregt habe, kann ich es auch sachlich begründen, nur soweit kommt es oft gar nicht.
@Roger:
Nein, daraus folgt: Wir können nicht nicht denken, was wir sind.
Dass Kant hingegen das nicht denken kann, ist offensichtlich.
Ah – habe die doppelte Verneinung uebersehen .. gut, dann ist meine Conclusio natuerlich nicht zutreffend.
Allerdings bin ich nicht der Ansicht, dass wir denken koennen, was wir sind (dann waeren wir so eine Art Gott). Der Punkt ist eben, dass wir uns (selbst) nie vollstaendig erfahren koennen und vollstaendig denken (sofern wir hier Denken als begriffliches Denken fassen) schon gar nicht. Das Ganze unseres selbst erfahren wir so wenig, wie das Ganze eines anderen oder das Ganze der Welt. Und selbst wenn jemand diese Erfahrung machen koennte/sollte/wuerde/ – sie waere nicht kommunizierbar. Man kann dann vielleicht davon berichten, darueber reden, „dass“ … – aber das „was“ bliebe unklar und wissenschaftlich unzugaenglich.
Umgekehrt sind wir aber (auch) was wir denken.