Automatische Gesellschaft

[Kolumne Immaterial World in der Wiener Zeitschrift Streifzüge]

Die fetischismuskritische Richtung der marxschen Analyse betont den automatischen Charakter der kapitalistischen Vergesellschaftung. Und schließt manchmal daraus, dass eine freie, postkapitalistische Gesellschaft keinen automatischen Charakter haben dürfe. Warum das aus meiner Sicht falsch ist, soll in dieser Kolumne begründet werden. Zunächst jedoch ein paar Vorklärungen.

Im Marxismus spielt das „Kapital“ von Karl Marx eine zentrale Rolle. Dort rekonstruiert Marx in einer langen Argumentationskette wie der Kapitalismus funktioniert – im Prinzip. Beginnend mit der Analyse der Elementarform „Ware“ und ihrem Doppelcharakter von Gebrauchswert und Wert über die sich weiter entfaltenden Widersprüche bis hin zum Gegensatz von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung bis schließlich zur Ausbeutung als Manifestation des Klassenwiderspruchs. Grosso modo wird diese Analyse von allen Marxist*innen geteilt. Doch was folgt daraus? Da zerlegt sich die Community in unzählige Strömungen.

Diese Strömungen bilden am Anfang und am Ende der marxschen Argumentationskette zwei Knubbel. Am Ende tummeln sich die Anhänger*innen der nach wie vor dominanten Richtung des klassenpolitischen Marxismus und am anderen die minoritären Strömungen des wertkritischen Marxismus. Zur Knubbelbildung kommt es durch unterschiedliche Einschätzungen: Für den Mehrheitsmarxismus ist das Ende wichtig, die Ausbeutung, die ungerechte Reichtumsverteilung und der Klassenwiderspruch, der in einen entsprechenden Kampf zu überführen sei. Für die Minderheit ist der Anfang wichtig, der erst das Ende hervorbringt, die privat-getrennte Produktion, die die Warenform und die anderen abgeleiteten Formen erzeugt – samt Fetischismus. Um diesen Begriff zu klären, ist noch eine Schleife nötig.

Für alle Gesellschaften ist klar, dass es die Menschen selbst sind, die sie herstellen. Dabei fangen die Menschen jedoch tagtäglich nicht von Null an, sondern orientieren sich am bereits Geschaffenen – materiell, symbolisch und sozial. Die vorgefundenen Formen bilden einen Satz an Nahelegungen. Es sind wirklich nur Nahelegungen und niemals Kausaldeterminanten, denn Menschen haben immer auch die Möglichkeit, anders zu handeln. Grundsätzlich. Wie leicht es möglich ist, von den Nahelegungen abzuweichen, hängt vom Grad der Unausweichlichkeit ab. Hängt meine Existenz unmittelbar an der Befolgung des Nahegelegten, ist eine Abweichung sehr risikoreich; ist sie relativ entkoppelt vom Nahegelegten, eröffnen sich größere Handlungsspielräume.

Nun könnte man denken, dass die Nahelegungen gerade im Kapitalismus als enorm flexibler und die Individualität betonende Gesellschaft ein sehr geringes Maß an Unausweichlichkeit haben. Dem ist jedoch nicht so. Der Kapitalismus kombiniert in brillianter Weise Freiheit und Zwang. Ich darf freiwillig das tun, was mir durch die Umstände nahegelegt wird. Niemand zwingt mich, ich kann es auch sein lassen, doch dann ist meine Existenz gefährdet – Pech gehabt. Dabei ist global betrachtet der Möglichkeitsraum extrem unterschiedlich groß – so wie auch die Existenzniveaus sehr unterschiedlich sind.

Karl Marx hat nun herausgefunden, woher dieser hohe Grad an Unausweichlichkeit kommt – und hat das Phänomen Fetischismus genannt. Dieser der „Nebelregion der religiösen Welt“ entnommene Begriff passt zwar auch auf vormoderne Gesellschaften, doch dort waren die Nahelegungen tatsächlich religiös konstruiert und mit personalem Zwang abgesichert. Im Kapitalismus ist der personale Zwang von einem sachlichen Zwang abgelöst worden, auch wenn dieser mitunter persönlich exekutiert wird. Die Kapitalist*innen, Spekulant*innen, Inkassoeintreiber*innen usw. sind nur Beteiligte an einem Automaten, den sie zwar in Gang halten, aber nicht wirklich kontrollieren können.

Woher kommt nun die automatisch verselbstständigte Unausweichlichkeit der kapitalistischen Ökonomie? Kurz gesagt: aus der Warenform. Wie oben schon erwähnt, besitzt die Ware zwei Seiten: eine Bedürfnisseite (der Gebrauchswert) und eine Tauschseite (der Wert). Einerseits befriedigt die Ware Bedürfnisse, andererseits sorgt ihr Wertsein für die Verteilung durch Tausch. Doch während wir uns kreativ-gestaltend der Bedürfnisseite zuwenden – entweder als genießende Konsument*innen oder als sorgfältige Produzent*innen – überlassen wir die Verteilung einem unkontrollierbaren Automechanismus, dem Markt. Es entstehen zwei Logiken, die gegeneinander kämpfen, eine von uns kontrollierbare Bedürfnislogik und eine unserer Kontrolle entzogene Verteilungslogik.

Die Verteilungslogik ist im Kern eine Verwertungslogik, bei der Geld auf Geld kybernetisch rückgekoppelt ist. Es muss sich permanent vermehren, um existieren zu können. Obwohl es mit der Finanzsphäre einen Raum gibt, in dem diese Rückkopplung scheinbar direkt funktioniert, braucht es am Ende immer eine reale Produktion, durch die das Geld gewissermaßen hindurch muss. Dort vermehrt es sich nur, wenn die produzierten Waren auch verkauft werden, also konkurrenzfähig sind. Das Geld muss sich vermehren, um in der nächsten Runde wiederum investiert zu werden und neue Waren zu produzieren. Da Investitionen immer auch Verbilligung der Produktion bedeuten, müssen mehr Waren als vorher produziert und verkauft werden, um den Stand zu halten oder auszubauen. Immer mehr Ressourcen werden verbraucht, CO2 wird zunehmend emittiert und der Kollaps systematisch vorbereitet.

Dieser sachliche rückgekoppelte Endloszusammenhang der Geldvermehrung und des Weltverbrauchs scheint ohne Menschen auszukommen, und tatsächlich spielen sie auch eine nur untergeordnete Rolle. Aus Sicht der Geldvermehrung sind sie entweder bloße Käufer*innen oder bloßes Humankapital, das in der Produktion neben anderen Materialien und Kapitalien vernutzt wird. Aus Sicht der lebendigen Menschen geht es allerdings um ihre Existenz. Verwertungs- und Bedürfnislogik knallen hier hart aufeinander, und wo Regulierungen fehlen, nehmen sie die bittersten Formen an.

Da Existenz und Verwertung so eng verkoppelt sind, erscheint der Kapitalismus wie ein Mega-Automat, der keinen Ausweg erlaubt. Die Nahelegungen erscheinen nicht mehr wie menschliche Wahlmöglichkeiten, sondern wie absolute Zwänge: Ich kann nur mehr wählen „wie“, aber nicht mehr „ob“ – Verwertung muss sein. Wie Goldfische im Glas wähnen wir uns im freien Ozean, solange wir nicht an die Grenzen des Glases stoßen. Das ist die bürgerliche Freiheit, Freiheit gepaart mit Zwang.

Zurück zu den Knubbeln. Der Mehrheitsknubbel des Marxismus nimmt nun an, dass die Gesellschaft gut und gerecht eingerichtet werden könnte, wenn erst die Betreiber*innen von den Hebeln der politökonomischen Macht verdrängt würden. Sie denken, der Mega-Automat sei navigierbar. Der Minderheitsknubbel meint hingegen, der Automat sei nur minimal regulierbar, doch niemals steuerbar im Sinne menschlicher Bedürfnisbefriedigung für alle. Kurz: Der Automatismus selbst sei das Problem.

Dass der erste Knubbel einer Illusion aufsitzt, kann ich an dieser Stelle nur behaupten, nicht belegen. Dass der zweite Knubbel manchmal über das Ziel hinausschießt und den Automatismus selbst zum Problem erklärt, ist hier mein Thema. Denn irgendwie stimmt das und doch gleichzeitig auch nicht.

Es stimmt, dass der kapitalistische Mega-Automat immer weiterlaufen muss, um die Existenz der Menschen zu sichern, die sie gleichzeitig untergräbt. In der Filmserie „Snowpiercer“ wird dies durch einen Zug symbolisiert, der durch eine nach einem Klimakollaps gefrorene Welt immer weiter fahren muss, um die Existenz der mitfahrenden Restmenschheit zu sichern. Weder Ausstieg noch Anhalten ist eine Alternative, solange es keine anderen Weisen der Existenzsicherung gibt.

Doch gäbe es sie, hätte die neue Gesellschaft keine Automatismen? Müssten alle Angelegenheiten transparent und klar durch alle Menschen geregelt werden, so dass nichts mehr hinter ihrem Rücken abläuft? Dies anzunehmen hieße, Kapitalismus und Gesellschaft identisch zu setzen, würde bestreiten, dass es vor dem Kapitalismus Gesellschaften gab oder nach diesem geben könne. Es würde die kapitalistische Form zur Naturform gesellschaftlicher Organisation erklären.

Ohne einen gesellschaftlichen Automatismus wäre die Organisation auf das Niveau von Stämmen heruntergebracht, in denen die Beziehungen unmittelbar interpersonal gestaltet sind. Transparent, aber unfrei, denn Freiheit erwächst aus Vermitteltheit. Sie erwächst daraus, dass ich nicht von bestimmten Personen abhängig bin, sondern von allgemeinen „Anderen“, die automatisch, also auch ohne mein Zutun oder Wissen Dinge regeln, die für meine Existenz wichtig sind. Abhängig sein von konkreten Personen ist immer angstbesetzt, doch es geht darum, ohne Angst abhängig sein zu können. Dazu braucht es Automatismen, braucht es Vermittlung. Nicht automatische Vermittlung als solche ist also das Problem, sondern ihre Funktionsweise. Die Frage ist nicht, ob wir eine gesellschaftliche Vermittlung haben, sondern wodurch sie hergestellt wird.

Im Kapitalismus ist der Treiber die Verwertungslogik. Sie ist endlos-expansiv, exkludierend und unkontrollierbar. In einer freien Gesellschaft könnte die Vermittlung von den Bedürfnissen der Menschen angetrieben, inkludierend und grundsätzlich gestaltbar sein. Die Gestaltbarkeit ergäbe sich aus Abwesenheit von fremdgetriebenen Zwängen außerhalb der Bedürfnisse der Menschen. Gleichzeitig bedeutete sie nicht, dass jeden Tag aufs Neue entschieden werden müsste, was zu tun ist.

Grundsätzlich reproduziert sich eine freie Gesellschaft selbst. Alltägliche Nahelegungen sorgten dafür, dass gesellschaftliche Stabilität entsteht. Doch der automatischen Erhaltung stünden Veränderungen nicht entgegen. Die Aufwände wären allerdings unterschiedlich groß, je nach Reichweite der Änderungen oder Neuerungen. Beträfen sie die gesamte Gesellschaft, wäre eine gesamtgesellschaftliche Verständigung erforderlich und auch möglich. Eine freie Gesellschaft wäre gestaltbar ohne ihren automatisch-vermittelnden Charakter zu verlieren.

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