Kritik des (demokratischen) Staatsozialismus

Wenn nur soziale Gebilde beständen, denen die Gewaltsamkeit als Mittel unbekannt wäre, würde der Begriff »Staat« fortgefallen sein; dann wäre eingetreten, was man in diesem besonderen Sinn des Wortes als »Anarchie« bezeichnen würde.

(Weber 1919/1980: 822)

Ich bin immer wieder beunruhigt wieviel tolle Leute bei genaueren Nachfragen doch eher demokratischen Staatssozialismus wollen als die befreite Gesellschaft. Darum hier ein Ausschnitt aus dem nächsten Buch zur Kritik des (demokratischen) Staatssozialismus.

Der Staat innerhalb des Kapitalismus hängt am Tropf der Verwertung. Er bleibt dem Primat der Ökonomie unterworfen. Dann dürfte doch das Primat des Staates die Lösung sein. Hier würde keine fremde Macht mehr die Geschicke der Menschen bestimmen, sondern diese selbst ihr Leben und Re/Produktion mittels des Staates gestalten. Seit Anbeginn der Aufklärung geistert im Raum des gesellschaftlichen Imaginären die bewusste Planung der Welt. Die Aufklärerinnen verstanden zunehmend wie die natürliche Welt funktionierte, welche Gesetze sie regierten und nutzten dieses Wissen um damit die Welt zu gestalten – und zu unterwerfen. Kein Wunder also, dass sie eben diese Triumph wiederholen wollten, als sie sich der gesellschaftlichen Welt zuwandten. Sie suchten das am besten eingerichtete Gemeinwesen, eine bewusst geplante Gesellschaft. Doch wie sie sich schon der Natur tendenziell autoritär, manipulierend und beherrschend näherten, so taten sie dies auch gegenüber der Gesellschaft. Sie träumten von einem Staate, der die Gesellschaft zum Wohle aller lenkt. Ein Staat der Glück und Segen, Wohlstand und Reichtum bringen sollte.[1]

Warum gerade der Staat die Gesellschaft lenken sollte war keineswegs zufällig. Der Staat gewann zunehmend das Antlitz eines bewussten Gestalters der Welt, einer bewusste menschlichen Allgemeinheit. Früher war er eine Institution der Fürstinnen um zu herrschen und sich zu bereichern, doch schon der Ständestaat weitete die Herrschaft auf mehr (reiche) Personen aus und daraus entstand der Traum eines bürgerlichen Staates, indem die Bevölkerung sich selbst repräsentierte und beherrschte. Der Kampf um die Ausdehnung der Herrschaftsbeteiligung gewann. Zuerst war Wahlrecht noch an Reichtum gebunden, dann gewannen es die Arbeiter, und schlussendlich im Laufe des 20. Jh. Frauen und PoCs. Der Staat sollte den Menschen erlauben ihre Konflikte bewusst zu regeln und allgemeinverbindliche Entscheidungen zu treffen. Nur in der Staatsform selbst liegt der Wurm. Herrschaftliche Institutionen erlauben keine Befreiung, und wahrscheinlich auch keine ökologische Weltordnung.

Der Staat

Was ist den Staat eigentlich? Die Staatstheoriescheint uneinig. Relativ allgemein ist der Staat eine „politische Ordnung, in der einer bestimmten Gruppe, Organisation oder Institution eine privilegierte Stellung zukommt“ (wikipedia.de). Manche Wissenschaftlerinnen definieren den Staat über seine Mittel (Wie handelt er?), andere über sein Ziel (Was soll er?). Max Weber will den Staat nicht darüber begreifen was er tut, denn Staaten erledigen verschiedenste Aufgaben und nach ihm keine welche nicht auch andere Organisationen erledigt haben. Er definiert Staat über das Mittel „physischer Gewaltsamkeit“. „Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes […] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“. „Gewaltsamkeit ist natürlich nicht etwa das normale oder einzige Mittel des Staates – davon ist keine Rede –, wohl aber: das ihm spezifische.“ Der Staat ist ein legitimiertes „Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“ (Max Weber 1980, 822). Ähnlich begreift Charles Tilly den Staaten als „coercion-wielding organisations“ (Coercion, Capital, and European States) und Michael Mann als “center of binding rule-making authority” (Mann 1984, 195).[2]  

Die Politikwissenschaft betont eher die Ziele des Staates, damit klingt der Staat weniger gewaltsam und herrschaftlich. Er erscheint wie eine unersetzbare Institution „zur Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens“ (wikipedia.de), denn wo Menschen zusammenleben geraten deren Bedürfnisse in Konflikt miteinander. Dadurch entsteht in größeren Gemeinschaften „in dem Gefüge widerstreitender Interessenten- und Mächtegruppen […] das Bedürfnis nach einer regulierenden Instanz, die den partikulären gesellschaftlichen Kräften mit überlegener Entscheidungsmacht gegenübertritt“. Diese staatliche Instanz gewährleistet das Konflikte in friedlicher (und gerechten) Weise gelöst werden (Reinhold Zippelius: Allgemeine Staatslehre, 17. Auflage, § 27). Dies ist schon weit weniger Wissenschaft, sondern Ideologie und Rechtfertigung des Staates: Der Staat wird naturalisiert als einzige Möglichkeit Frieden bei größeren Gemeinschaften zu erhalten. Aber auch hier ist klar: Ein Staat benötigt Durchsetzungsmacht, damit er seine Entscheidungen und Gesetze durchsetzen kann.

Der Staat ist also ganz allgemein eine Institution, welche ihre Entscheidungen auf spezifischen Territorium und bei spezifischer Bevölkerung durchsetzen kann. Schlussendlich mit physischer Gewalt. Verliert der Staat diese Durchsetzungsmacht wird er zum „failed state“. Physische Gewalt ist oft gar nicht nötig, da die Bevölkerung den Staat, seine Entscheidungen und Gesetze als legitim anerkennt oder zumindest tut was er verlangt. Der Staat ist auch enorm mächtig gegenüber dem Einzelnen, so ist es individuell sehr nahegelegt ihm Folge zu leisten und es scheint auch bei Unzufriedenheit vielversprechende die gegebenen staatlichen Formen der ‚Interessensvertretung‘ zu nutzen. Besonders innerhalb der Marktwirtschaft wirkt der Staat legitim und wird selbst von Systemkritikerinnen positiv besetzt, denn er erscheint als Beschützer der Menschen vor der Irrationalität des Marktes. In einer bewusst staatlich-geplanten Gesellschaft zeigt sich deutlicher wie der Staat Bedürfnisse und Konflikte formiert.

Interessensform

Mit dem Staat tritt in die Gesellschaft eine Institution, welche allgemeingültige Entscheidungen fällen kann. Sie sammelt die Informationen, hört die Konfliktparteien an, trifft eine Entscheidung und setzt diese durch. So schön demokratisch dieser Prozess auch scheint, so herrscht er den Konflikten seine Form auf. Konfliktparteien ist es innerhalb des Staates nicht mehr nahegelegt gemeinsam tragfähige Entscheidungen zu finden. Sie müssen nicht mehr kooperieren und gemeinstimmig entscheiden (vgl. Helfrich 2019). Ein weiterer Weg hat sich ihnen eröffnet: Durchsetzung gegen die Andere mittels staatlicher Macht. Sie können (und werden) versuchen Macht im Staat zu erlangen um ihre Bedürfnisse durchzusetzen. Nicht weil sie böse Menschen sind, sondern weil es eine gesellschaftliche Nahelegung ist. Der Staat und seine Durchsetzungsmacht ist da und kann genutzt werden. Menschen können sie auch bewusst gegen diese Nahelegung entscheiden, aber der staatliche Weg funktioniert doch bemerkenswert gut, und die Entscheidung ist schnell getroffen. Man könnte nun den moralischen Zeigefinger schwenken und die Konfliktparteien zur gemeinsamen Lösung züchtigen. Man könnte mit Systemen von Checks und Balances einen möglichst fairen Zugang zur Gewalt des Staates ermöglichen. Aber die Grundlage bleibt: Der Konflikt nimmt tendenziell die Form des Kampfes an. Bedürfnisse beziehen sich aufeinander als Interessen – sie kämpfen gegeneinander, statt gemeinsame Lösungen zu finden. Innerhalb einer staatlich geplanten Gesellschaft vermitteln sich Bedürfnisse abstrakt in Form des Gesamtplans. Sie beziehen sich aufeinander als Partialinteressen, die sich gegen die andere durchzusetzen versuchen. Steht das Schwert der Herrschaft glänzend zur Verfügung, ist seine Nutzung eine Frage der Zeit.

Arbeit, Zwang und Eigentum

Ein Staat gestaltet die gesellschaftliche Re/Produktion wie er alle anderen Dinge tut: Von Oben nach Unten, mit Entscheidungen und Direktiven. Er entwirft einen Gesamtplan, im besten Falle demokratisch indem er verschiedene Interessen einbezieht. Der beste Weg diesen Plan zu realisieren ist Arbeit und Erpressung. Erfüllt ein Betrieb den Plan nicht, erhält er einen geringeren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, also bspw. weniger Geld oder Ressourcen. Genau dasselbe Arbeitssprinzip wendet der Betrieb selbst auch gegenüber seinen Arbeiterinnen an: Halten diese sich nicht an den Plan, kürzt er deren Lohn oder streicht den Urlaub. Damit Staat und Betrieb mit Lohn und damit Lebensmittel oder Urlaub erpressen können, darf der gesellschaftliche Reichtum nicht frei zur Verfügung stehen oder nach Bedarfsprinzip verteilt werden. Arbeit und Leistungsprinzip benötigen Eigentum. „Übrigens sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Ausdrücke – in dem Einen wird in Beziehung auf die Tätigkeit dasselbe ausgesagt, was in dem Anderen in Bezug auf das Produkt der Tätigkeit ausgesagt wird“ (Deutsche Ideologie, 32)[3]. Die Verteilung der Konsumgüter muss dem Staat obliegen und dieser verteilt sie plan- und leistungsgerecht: Jene die sich an den Plan halten, werden belohnt. Jene die dies nicht tun, werden bestraft. Wahrscheinlich ist das sozialistische Leistungsprinzip gerechter als das kapitalistische, aber es bleibt eine Belohnung der Selbstunterwerfung: Jene die ihre Bedürfnisse am besten dem Plan unterordnen und „Soldaten der Arbeit“ werden, erhalten am meisten.[4] Und Zuckerbrot und Peitsche der Arbeit führt immer zu einem Gegensatz der Bedürfnisse, den wir unten noch weiter ausführen wollen. Im Kapitel X zur Koordination fragen wir nach einer Zentralplanung jenseits der Arbeit, bei Durchsetzungsanspruch aber gilt: Staatliche Planung ist unvereinbar mit einer Abschaffung von Arbeit und Eigentum.

Soweit so gut. Wie plant der Staat die Re/Produktion konkret und welche Dynamiken entstehen hierdurch?

Staatswirtschaft

Der Staatssozialismus ist wie der Kapitalismus keine Wirtschaftsform, sondern eine Gesellschaftsform. Wie im Kapitalismus dominiert in ihm die (Staats-)Wirtschaft – als Sphäre der Produktion und des Planes. Ihre Logik strukturiert und dominiert andere Sphären wie Reproduktion, politische Öffentlichkeit, Kultur etc. Wie die Marktwirtschaft wäre die Staatswirtschaft ohne diese anderen Sphären nicht lebensfähig. In einer Staatswirtschaft regelt – wer hätte es gedacht – der Staat die Wirtschaft. Oben nannten wir drei Formen gesellschaftlicher Vermittlung: traditionell-interpersonale Koordination, Tauschvermittlung und herrschaftliche Vermittlung. In der Staatswirtschaft dominiert die herrschaftliche Vermittlung, aber hierzu muss sie ihren Charakter wandeln.

Plan als verallgemeinerte Herrschaft

Im Feudalismus begnügten sich Herrscherinnen damit v.a. Bäuerinnen auszubeuten. Sie planten die Wirtschaft kaum, sondern zweigten ein Teil der bestehende Eigenre/produktion und Warenproduktion ab. Diese Ressourcen lenkten sie in ihre eigene herrschaftliche Ökonomie der Repräsentation, des Krieges und der Verwaltung. Sie planten nicht gesamtgesellschaftlich, sondern nur ihre ‚Adelsökonomie‘. Wie der Tausch schon lange vor dem Kapitalismus existierte, existierte staatliche Planung vor dem Staatssozialismus, aber eben nicht verallgemeinert, sondern nur partiell. Und diese Planung diente gerade nicht dazu gesellschaftliche Kohärenz herzustellen, sondern Ressourcen für den Staat umzulenken. Wie der Tausch so existierte der Plan nur am Rande und koordinierte nicht die gesamte Gesellschaft. Will der Staat nun aber die gesamte Wirtschaft koordinieren und gestalten, muss er die gesellschaftliche Kohärenz sicherstellen. Es muss genug Essen für die Arbeiterinnen da sein, genug Schrauben für den Traktor, genug Mehl für die Brötchen, etc. Diese Kohärenz schafft der Staat durch einen Gesamtplan. Mit dem Gesamtplan verallgemeinert sich die staatliche Planung und prägt die gesamte Gesellschaft. Deshalb wird eine Staatswirtschaft auch als ‚Planwirtschaft‘ bezeichnet. Da Menschen aber ihre Re/Produktion auch ohne durchsetzende Institution planen könnte, wird Staatswirtschaft in der Forschung lieber Zentralverwaltungswirtschaft oder Kommandowirtschaft genannt.

Die beliebteste Form staatlicher Planung ist die Festsetzung der Preise. Theoretisch könnte ein sozialistischer Staat auch anders planen bspw. direkt Konsumgüter und Produktionsmittel verteilen, aber mit Preise können Menschen ihren Konsum und Betriebe ihre Produktion flexibler gestalten. Preise entstehen nicht mehr durch Marktkonkurrenz, sondern durch Verhandlungen zwischen Betrieben und Planbehörden. Damit gibt es auch keine Preiskonkurrenz mehr und dies macht die tollen Segnungen der Marktwirtschaft wie die Steigerung von Produktivität und Qualität, Innovation und Nachfrageorientierung kaputt, aber vermeidet eben auch geplante Obsoleszenz und Verwertungszwang. Jedoch bringt der Plan seine eigene Logik hervor.

Widerspruch zwischen Staat und Betrieb – Tauschwert vs. Gebrauchswert

In jeder Arbeitsgesellschaft stellt die Produzentin ihre Produkte arbeitsteilig für Andere her, wobei ihr das Produkt ihrer Arbeit relativ gleichgültig ist. Sie interessiert die Menge Geld oder Zuwendungen, die sie dafür bekommt. Zweck ihrer Produktion ist nicht der Gebrauchswert des Produkts bspw. der Geschmack des Brotes, sondern der Tauschwert: Was bekomme ich dafür?[5] Diesen Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Tauschwert prägte schon den Kapitalismus und nahm in ihm die spezifische Form von Bedürfnis versus Verwertungszwang an. Wir finden ihn wieder im Staatssozialismus: Der Planstaat wünscht sich von den Betrieben gute Produkte, ehrliche Zahlen und Produktionsverbesserung. Der Betrieb aber, zur Arbeit genötigt, versucht möglichst viel gesellschaftliche Zuwendungen zu erhalten und den eigenen Aufwand möglichst zu minimieren. Die Realität der Arbeit legt ihm nahe sich für den Gebrauchswert seiner Produkte kaum zu interessieren, sondern für die Zuwendungen, das Geld, den Tauschwert, den er dafür erhält.

Ein Blick in den Realsozialismus illustriert diesen Widerspruch: „Unter dem bürokratischen Lenkungssystem ist der Hersteller daran interessiert, seine Produktion loszuwerden und dann nicht mehr daran zu denken.“ (Aganbegjan 1989 S. 57). Der Betrieb erbringt die stoffliche Leistung, aber kümmert sich nur um den gesellschaftlichen Nutzen soweit der Plan in dazu drängt. Auf dem Markt erzwingt die Konkurrenz eine Orientierung an der zahlungskräftigen Nachfrage. Der Realsozialismus garantierte die Abnahme. Positiv daran: Arbeitsplätze sind sicher und die Konkurrenz erzwingt keine ständige Steigerung der Ausbeutung, Vernutzung der Natur, etc.. Negativ: „Die Betriebe gewinnen auf diese Weise eine im Westen unvorstellbare Freiheit, Schrott zu produzieren“ (Stahlmann 1990, Quadratur des Kreises). Die Zentrale kauft das Produkt, der Betrieb versucht soviel Kosten wie möglich zu verrechnen. Zum einen um Gewinn zu machen – reines Profitstreben, kein Profitzwang. Zum anderen um langfristig stabil zu produzieren und mit dem Gewinn mehr Arbeiterinnen durch Prämien anzuwerben, die Lager aufzustocken, etc.. Wie im Kapitalismus versuchen die Betriebe also ihr Produkt möglichst teuer zu verkaufen, aber die Preiskonkurrenz fehlt. Preise bilden sich nicht auf dem Markt sondern Betrieb und Staat handeln diese aus, deshalb spricht Salawskaja eher von einer „Verhandlungswirtschaft“ als einer „Kommandowirtschaft“ (Salawskaja 1989 S. 96). Den Betrieben ist es nahegelegt ihre Realkosten zu verschleiern, denn sie müssten mit höheren Planauflagen und geringeren Materialzuweisungen rechnen. Der Betrieb verwendet verschiedene Strategien möglichst viel Kosten zu verrechnen und damit möglichst viel Zuwendendungen zu heralten bspw. mit einer erhöhten Bedarfsmeldung: „Wenn alle Bestellungen gesammelt sind, stellt sich heraus, dass der gemeldete Bedarf die Liefermöglichkeiten des angeforderten Materials weit übersteigt. Dann werden die bestellten Mengen zusammengestrichen, und die Betriebe versuchen, ihre Lager so weit wie möglich mit den knappen Materialien zu bestücken.“ (Aganbegjan 1989 S. 56) oder umgekehrt: „Viele Betriebe setzen die Plankosten bewusst niedrig an. Damit erhöhen sich die Chancen, dass ihr Projektvorschlag angenommen wird. Erst später enthüllen sie die vollen Kosten. Eine Erhebung in 1600 sowjetischen Unternehmen hat gezeigt, dass durch Erweiterungsinvestitionen im Zeitraum 1971-78 zusätzliche Produktionskapazitäten geschaffen wurden. Die tatsächlichen Kosten waren dabei durchschnittlich um eine Drittel höher als in den Voranschlägen ausgewiesen.“ (Hewett 1989 S. 89). Und schlussendlich „mit Hilfe von Bekanntschaften, Geschenken, Anrufen bei einflussreichen Leuten, Berufung auf die Autorität des entsprechenden Leiters, das Ansehen des Betriebes, der Stadt oder des Gebietes.“ (Bunitsch 1982 S. 205)

Hoch wahrscheinlich, dass ein neuer Staatssozialismus einige dieser Probleme besser in den Griff bekommt, aber der Grundwiderspruch zwischen Gebrauchswert und Tauschwert bleibt. Dieser gilt fundamental für alle Arbeitsgesellschaften. Im Staatssozialismus erscheint dieser Widerspruch als widersprüchliche Interessen zwischen Betrieben und Staat, zwischen Bedürfnisbefriedigung und den Nahelegungen der Planproduktion. Wobei der Staat nicht wirklich Gebrauchswertstandpunkt oder Bedürfnisse vertritt, sondern v.a. sein eigenes Fortbestehen sichern will. Er bezieht die Bedürfnisse seiner Bevölkerung nur zum Teil ein, vielleicht wegen Legitimationsinteressen, vielleicht wegen demokratischen Druck, vielleicht aus Überzeugung. Aber, dass „die Betriebe durch das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln und die sozialistische Staatsmacht zu einem einheitlichen Ganzen vereinigt [werden]“ (Wörterbuch der Ökonomie – Sozialismus 1973 S.154) ist eine Illusion.

Verkürzte Staatssozialismuskritik

Wie auch beim Kapitalismus wird für die Fehler des Staatssozialismus nicht unbedingt die Staatswirtschaft und die Struktur des Plansystem verantwortlich gemacht, sondern häufig individuelle Verfehlungen: Die Regierung sei gierig, korrupt und nur an den eigenen Interessen interessiert. Oder die Betriebsleiterinnen stellen das Eigenwohl über das Gemeinwohl. Individuelle Verfehlungen werden kritisiert, statt die Handlungsnahelegungen und damit die gesellschaftlichen Bedingungen.

Der Staatssozialismus wird von einigen auch einfach wieder als personale Herrschaft gefasst: in ihm herrschen die „Bürokraten“, statt den Kapitalistinnen oder dem Adel. Und diese Kritik stimmt, im Staatssozialismus herrscht nicht der abstrakte Markt, sondern der konkrete Staat. Nur wenn sich diese Idee verbindet mit der Vorstellung, man müsse nur die „Herren“ austauschen und nachher sei alles gut, wird es falsch. Die staatliche Herrschaft verunmöglicht es den Herrinnen strukturell die Bedürfnisse ihrer Untertaninnen gut einzubeziehen. Und legt ihnen umgekehrt nahe sich auch auf Kosten von ihnen zu bereichern, wobei viele sozialistische Herrinnen ein weit weniger ausschweifenden Lebensstil hatten, als Kapitalistinnen und auch das Ende der sozialistischen Herrschaft weitaus friedlicher verlieft als jedes Ende einer kapitalistischen Herrschaft.

Mutter Demokratie

Fast alle heutigen Sozialistinnen fanden den Realsozialismus nicht so pralle und sie machen dafür meist die autoritäre Staatlichkeit und damit die fehlende Demokratie verantwortlich. Marktwirtschaftsfans glauben, dass eine sozial-ökologisch regulierte Marktwirtschaft die Übel der (freien) Marktwirtschaft aufhebt. Staatsozialismusfans hoffen, dass der demokratische Staatssozialismus die Übel des (autoritären) Staatssozialismus aufhebt. Und tatsächlich: Wird die Demokratie ausgeweitet und vertieft, ist es den Planerinnen und Regierenden nahegelegt die Bedürfnisse der Bevölkerung mehr einzubeziehen. Jedoch überwindet dies nicht den Widerspruch zwischen Tausch- und Gebrauchswert der als Widerspruch von Staat und Betrieben erscheint. Der demokratische sozialistische Staat würde stärker die Bedürfnisse der Menschen einbeziehen, aber könnte diese nicht umsetzen, da es den Betrieben weiter nahegelegt ist ihre Partialinteressen gegen die Gesellschaft zu verfolgen. Es wäre ein besserer Staatssozialismus, aber noch immer keine gute Gesellschaft. Zusätzlich ist der Zusammenhang von Demokratie und Staatssozialismus nur lose:

Staatssozialismus vs. Demokratie? Gefahren des starken Staates

Plant eine Institution die gesamte Produktion besitzt sie enorm viel Macht. Diese Macht wird durch Betriebe und Arbeiterinnen eingeschränkt, aber enorm viel Gestaltungsmacht verbleibt beim Staat. Er entscheidet über Löhne und damit wer wieviel konsumieren darf, er entscheidet was produziert wird, er entscheidet bis zu einem bestimmten Maße wie produziert wird.

Empirisch waren alle sozialistischen Staaten autoritär und das kann man bösen Führerninnen zuschreiben, aber da machen wir uns blinder als wir sind. Der Staatssozialismus ist in seiner gesellschaftlich Koordination nach autoritär: Auch ein demokratisch gewähltes Planbüro reguliert die gesamte Wirtschaft von oben herab. Die Marktwirtschaft funktioniert da weit dezentraler, keineswegs herrschaftsfrei, aber die Herrschaft ist hier nicht personal sondern strukturell-sachlich. Die personal-autoritäre ökonomische Struktur des Staatssozialismus vereinfacht aber auch die Entdemokratisierung der politischen Struktur. Der sozialistische Staat hat viel mehr Ressourcen und Macht zur Verfügung als der kapitalistische Staat und kann sich deshalb noch einfacher autoritär gegenüber der Bevölkerung abschließen. Das muss gar nicht passieren, aber es ist zumindest wahrscheinlicher.

Unter guten Bedingungen startet der Staatssozialismus demokratisch, sozial und ökologisch, und es läuft einige Zeit lang gut. Aber er kann immer kippen und autoritär und undemokratisch werden. Beispielsweise weil die Führung immer weiter institutionell und personalmäßig verkrustet und sich abkoppelt (schleichende Entdemokratisierung) oder weil Gruppen bspw. Innerhalb des Militärs durch einen Putsch den Staat übernimmt (plötzliche Entdemokratisierung). Und gerade dem undemokratischen Putsch öffnet eine autoritäre Produktion viele Möglichkeiten. Das Adjektiv demokratisch ist beim Staatssozialismus nur Zusatz, der historisch noch nicht verwirklicht wurde und vielleicht einfach sehr unwahrscheinlich ist.


[1] Der Zugang der Aufklärerinnen war nicht rein herrschaftlich, er war auch emanzipatorisch, ökologisch und humanistisch. Das berühmte Werk von Adorno und Horkheimers heißt nicht umsonst „Dialektik der Aufklärung“. Sie benenne die dunkle Seiten der Aufklärung, aber halten fest an das aufklärerische Programm: „Die dabei an Aufklärung geübte Kritik soll einen positiven Begriff von ihr vorbereiten, der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst“ (DDA, 6).

[2] Manche Theoretikerinnen unterscheiden noch Staat und Regierung. Government is “a major agent of the state and exists to carry out the day-to-day business of the state. Governments are short-term mechanisms for administering the long-term purposes of the state. Hence every state is served by a continuous succession of governments. But governments only represent the state; they cannot replace it. A government is not a sovereign body: opposition to the government is a vital activity at the very hear of liberal democracy; opposition to state is treason” (Flint, C. and Taylor, P. 2007: Political Geogrpahy: world-economy, nation-state and locality. London: Prentice Hall. 137)

[3] Als Teilung der Arbeit versteht Marx hier nicht die selbstbestimmte Kooperation freier Menschen, sondern die knechtende Kooperation über Zwang – Marx feiert meist hohe Tätigkeitsteilung

[4] Theoretisch könnte der Staat Re/Produzentinnen mit physischer Gewalt zwingen den Plan einzuhalten und den Konsum hiervon unabhängig machen, aber dies würde in höchstwahrscheinlich delegitimieren. Das Leistungsprinzip verspricht mehr Zustimmung.

[5] Marx nennt diese Arbeit deshalb „abstrakte Arbeit“, Arbeit um der Arbeit willen, „Arbeit sans phrase“ oder wertschöpfende Arbeit. Die Arbeit ist nur das Geld wert, dass sie verspricht. Der Gebrauchswert zählt nur insofern, als er Träger des Tauschwertes ist. „Die augenfällige Absurdität dieser abstrakten Arbeit liegt in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Produkt, welches durchaus destruktiv sein kann, solange bei seiner Produktion nur verwertbarer Wert geschaffen wurde.“ (Quadratur des Kreises)

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